An Milena

arbir

Mitglied
An Milena

Weißt du, am Beginn hätte ich mir nicht gedacht, dass es so mit uns enden würde. Wie auch? Es war ja wirklich nicht vorherzusehen. Keiner von uns hätte sich damals gedacht, dass Pierre, der misanthropische und immer mürrische Pierre, der einzige von uns allen, der niemals ein Lächeln im Gesicht trug, der niemals Freude zu empfinden schien, dass er... Dass es so ein Ende mit ihm nehmen würde.
Sicher, er war immer schon etwas anders gewesen, hatte nie unsere Leidenschaft geteilt, hatte nie wirkliche Freude bei der Arbeit empfunden, aber welcher Sinologe, der nie in China gewesen war und China abgrundtief hasst, tut das auch?

Sein Vater war der Grund gewesen, dass er Sinologie studierte. Er hatte ihn dazu überredet, Sinologe zu werden, weil er - der Vater - einst irgendeinen Spruch von Lao-Tse, dem großen chinesischen Weisen und Dichter, auf irgendeinem vergilbten Kalender gelesen hatte und dieser Sinnspruch ihm so gut gefallen hatte, dass er sofort beschlossen hatte, dass - falls er später einen Sohn haben sollte - dieser unbedingt Sinologe werden müsse. Für den Fall, dass er Vater einer Tochter werden sollte, hatte er sich keine großen Gedanken gemacht. Frauen waren ihm nicht so viel wert. Er war halt noch von der alten Schule gewesen, in der Frauen an Herd und Küche gehörten waren und nicht studieren sollten. Ein Anhänger am längst Vergangenen war sein Vater gewesen. Da aber Pierres Mutter im Kindsbett bei Pierres Geburt starb und nie eine Tochter geboren wurde, war das alles egal.
Als Pierre geboren wurde, gab sich der Vater keine Zeit für Trauer und wusste genau, was zu tun war und meldete Pierre noch vom Kreißsaal aus an der sinologischen Fakultät in Bottrop-Kirchhellen an; einer kleinen, aber feinen Institution. Professor Kein, der schon seit Jahren auf dem Lehrstuhl in Bottrop-Kirchhellen saß, weil ihn sein letzter Schüler an den Katheder geleimt hatte und schnell verschwunden war, durch die Tür hinaus, in die Freiheit!, ins helle Licht! und weil seit damals niemand mehr die sinologische Fakultät besucht hatte, da Sinologie ein Fachgebiet war, das wirklich niemanden interessierte - ja!, genau dieser Professor Peter Kein war sehr erfreut über die Aussicht auf einen neuen Studenten, der ihn aus seinem sitztechnischen Dilemma befreien könnte. Und sollte er noch so lange warten müssen...
So ging Pierre mit 19 also nach Bottrop-Kirchhellen und wurde Sinologe, obwohl er eigentlich viel lieber Radiomoderator, Straßenbahnschaffner, Atomphysiker oder Zeitungskolporteur am Wiener Südbahnhof geworden wäre. Als kleiner Junge hatte er viele Stunden am Südbahnhof zugebracht, nur die Menschen dort beobachtet und war von all den verschiedenen Kulturen fasziniert gewesen. Er wollte sie alle erforschen und kennen lernen, diese fremden Männer und Frauen aus fremden Ländern mit ihren seltsamen Namen. Nächtelang war er wachgelegen, im Bett nur vom Mondschein beschienen, der durch die Dachluke fiel und hatte die fremden Namen leise vor sich hingemurmelt: Steiermark, Kärnten, Provinz... Ja!, er war wirklich fasziniert von all diesen Völkern, nur die Chinesen waren ihm immer schon egal gewesen, denn diese kamen nie am Südbahnhof an, sondern immer nur am Ostbahnhof. Aber dort hatte er ja nie gespielt.

Als wir ihn kennen lernten, da war er schon der mürrische, verschlossene China-Professor, der in seinen Vorlesungen immer auf die „verdammten Gelbgesichter" und „Schlitzaugen" schimpfte. Wir waren vom ersten Moment an fasziniert von ihm, er nahm uns gefangen, wie uns China mit seiner endlosen Schönheit faszinierte und gefangen nahm. Bald hatten wir uns mit ihm angefreundet und unserer Lyrikzirkel gegründet. Es waren schöne Stunden, wie wir auf Chinesisch, Koreanisch und Vietnamesisch dichteten und reimten und wie Pierre mürrisch mit verschränkten Armen und abweisendem Gesicht dasaß und hier und da in den goldenen Spucknapf neben ihm spuckte, nur um uns seine Anwesenheit ins Gedächtnis zu rufen. Doch vergiss nicht den dreiundzwanzigsten Spruch; du weißt schon: „... Ein Wirbelwind weht nicht einen Morgen lang.| Ein Platzregen währt nicht den ganzen Tag..."
Es war eine wunderbare Zeit, bis zu dem Tag an dem Pierre ins Zimmer gestürzt kam und lauthals schrie. „Ich will nicht mehr! Ich will mein Leben ändern, ich schmeiß’ die scheiß’ Sinologie hin, ich mache Schluss mit den verdammten Chinesen!", schrie er und wir applaudierten, jung und naiv wie wir waren, weil wir nicht wussten, was sein Entschluss für uns bedeuten sollte. Exaltiert rief er: „Ich bin frei! Endlich frei! Ich kann machen was ich will, ich kann werden was ich will! Ich werde..."
- Stille. - Er brach unvermittelt ab. Die Stille war erdrückend und wir alle sahen zu Boden, wir mussten die Augen senken, weil es so still war - totenstill. Pierre war blass geworden und kalter Schweiß lief seine Gänsehaut hinab. Die Augen weit aufgerissen stürzte er hinaus. Er kam nie wieder.
Das ist jetzt alles ein Jahr her. Wir haben uns seit damals nicht mehr wieder gesehen, der Schock saß zu tief, wir haben uns auseinandergelebt, wie man sagt, aber ich vermisse dich, ich vermisse euch alle. Unser Lyrikzirkel hat mir immer sehr viel bedeutet.

Pierre hat sich seit damals sehr verändert. Er hat sein Leben umgekrempelt, wie es so heißt. Er arbeitet jetzt als Verkäufer in einem der unzähligen Baumärkte an der Südosttangente. Er sagt, es gefällt es ihm sehr gut dort, weil immer so viele Steirer und Kärntner aus dem Süden einkaufen kommen. Das riesige Angebot sei es, meint er und freut sich, weil seine Leidenschaft für fremde Kulturen die grauenhafte Zeit als Sinologe überstanden hat. Ich denke, Pierre hat sein Glück gefunden.
Gestern habe ich ihn wieder getroffen; er saß auf einer Parkbank und hat nur gelächelt, als er mich sah. Ich habe zurückgelächelt und an die alten Zeiten gedacht. Du musst wissen, ich vermisse dich.
 

Andrea

Mitglied
3 von 10 Punkten

Wirklich überzeugt hat mich die Geschichte nicht, und das liegt in erster Linie daran, daß du zu vielen unnütze Informationen hast einfließen lassen – zu viele für den Brief oder aber die Geschichte des lieben Pierre. Wenn du auf den Brief beharrst, dann erzählst du zuviel aus Pierres Leben (insbesondere die Vatergeschichte solltest du dann raffen). Durch das ständige „wir“ bleibt zwar die Beziehung zur Adressatin bestehen, aber wieso erzählt der Absender ihr das alles? Klar, er will Erinnerungen wecken – aber weshalb erzählt er dann so wahnsinnig viel vom Dozenten? Überzeugender wäre es gewesen, wenn nur bestimmte Situationen (etwa die Spucknapf-Geschichte und Pierres „Coming Out“) übernommen worden wären und einige Informationen als Gerüchte eingeflossen wäre (daß man sich immer erzählte, er habe seinen Job nur, weil sein Vater es so gewollt hätte..).

Wenn du aber weiterhin in erster Linie Pierres Geschichte erzählen willst, solltest du dich auch auf sie beschränken. Laß die Anreden weg, ebenso das „wir“. Den letzten Teil kannst du immer noch aus der Sicht eines ehemaligen Verhältnisses Dozent/Student schildern – nur halt aus Pierres Perspektive.
 

arbir

Mitglied
Danke für die Kritik. Habe sie zur Kenntnis genommen. Vielleicht hast du Recht, vielleicht aber auch nicht.

Ach ja, auch wenn der Text wie ein Brief wirkt, steht irgendwo geschrieben, dass er auch einer ist?
 



 
Oben Unten