An der Quelle des Lebens

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ibini

Mitglied
Ja, es ist ein besonderer Tag, wenn ich zu der Wiese am Fuße des majestätisch in den Himmel ragenden Berges wandere, dessen nacktes Gestein im grellen Licht der Sonne wie Silber glitzert. Ich gehe oft zu diesem Ort der Besinnung. Meine Schritte finden von selbst ihren Weg. Den Gedanken nacheilend, spüre ich die hoffnungslose Verschlungenheit des abgründigen und steinigen Pfads nicht. Mit jedem Meter, den ich meinem Ziel näher komme, werden die Verworrenheiten und Schatten des Alltags blasser. Schon kann ich die Frische des Grases schmecken und den Duft der Blumen riechen.

Nichts hat sich verändert, seit ich das letzte Mal hier war. Vielleicht ist das Grün der Matte noch ein wenig grüner, die Pracht des Blütenmeeres noch ein bißchen prächtiger geworden. Geblieben aber ist jene Ausstrahlung von Ruhe und Gelassenheit, die Quelle des Lebens. Das begrüßende Ächzen der knorrigen alten Eiche spiegelt Ehrfurcht, Ehrfurcht vor der Schöpfung. Jeder Atemzug ist Befreiung. Verloren Geglaubtes gewinnt neue Formen. Ich setze mich in das kniehohe Gras. Umschwirrt von Bienen, die mit monotonem Summen trotz aller Emsigkeit ruhig und gelassen ihrer fruchtbaren Arbeit nachgehen. Wohin ich auch schaue, alles hier oben erscheint ruhig und gelassen: der liebeswerbende Tanz der bunten Schmetterlinge, das Zirpen der zarten Grillen, die auf Futtersuche hin und her huschende Maus, das muntere Zwitschern der Vögel, das am Waldesrand äsende Rehkitz, der ziellose schwarze Käfer und die geschmeidige Eidechse, die auf einem moosbewachsenen Stein rastet, die im lauen Frühlingswind leise rauschenden Blätter der nahen Bäume, der schwerelos über dem Berggipfel kreisende Adler und die hoch am Himmel ziehenden dünnen Wolkenfetzen. Selbst das scharfe Knacken brechenden Geästs, der schrille Schrei eines Eichelhähers, das lockende Girren der beiden auf der kleinen Anhöhe sitzenden Tauben oder das ferne Grollen eines Gewitters stört diese Idylle nicht. Eingehüllt in einen dichten Schleier schöpferischer Vollkommenheit schlafe ich ein … fest und traumlos.

Habe ich lange geschlafen? Es scheint so, denn in dem Paradies ist es inzwischen merklich stiller geworden. Mutter Sonne hat ihre wärmenden Strahlen eingezogen. Die kleinen roten Ameisen haben ihr Nachtgewand an. Auch der blauen Blume neben mir steht die Müdigkeit in den Augen. Und die Mäusemutter hat ihre Kleinen wohl längst zu Bett gebracht. Nur der Adler zieht nach wie vor seine Bahn, und ein paar Bienen haben anscheinend wie ich die Zeit
vergessen. Eine Kirchenglocke mahnt von Ferne zum Aufbruch. Langsam, vom Augenblick gefangen, mache ich mich auf den Heimweg. Noch lange kann ich die Frische des Grases schmecken, den Duft der Blumen riechen sowie die Ruhe und die Gelassenheit spüren.
 

Archetyp

Mitglied
Hallo Ibini, ich möchte gar nicht weiter auf den Inhalt eingehen, denn alles steht dort. Für diese Art zu schreiben, brauch man endweder ein tiefes Empfinden, oder ganz viel Routine, bzw. Phantasie. Ich hoffe du hast beides, auf alle Fälle aber Ersteres. Ich mag diesen Stil sehr.

Liebe Grüsse Stefan
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hm,

ein sehr schönes und erbauliches bild hast du uns gemalt. liest sich gut, plastisch geschildert. weiter so!
ganz lieb grüßt
 

ibini

Mitglied
Hallo Stefan,

was soll ich sagen? Du bringst mich fast in Verlegenheit! Auf alle Fälle danke! Du hast recht. Insofern sollte sich ein Schreiber nicht von einem Schauspieler unterscheiden. Hier wie da sollte man sich in den Protagonisten hineindenken, sich mit ihm identifizieren können (selbst wenn es ein Stein ist, vielleicht etwas überzogen ausgedrückt). Unabhängig ob Prosa oder Poesie. Im vorliegenden Fall ist noch eine lange Diskussion über das Für und Wider der Hypnotherapie vorausgegangen. Sicherlich nicht spurlos. Und Routine? Ja, die ist auch vorhanden. Wie die Liebe am Schreiben grundsätzlich.

Mit Gruß
ibini
 

ibini

Mitglied
Hallo flammarion,

ein Dankeschön auch Dir! Leider kann ich nicht malen, nicht die Spur. Deshalb ersetze ich wie hier den Pinsel durch das Wort. Das kann mal mehr, mal weniger plastisch sein. Manchmal braucht es das überhaupt nicht. Insbesondere Lyrik ist oft nichts anderes als abstrakte Malerei, bei der der Leser/Betrachter gefragt ist. Und häufig wird dann „schlecht“ mit „nicht begriffen“ durcheinandergebracht bzw. in einen Topf geworfen. Aber wem sage ich das!?

Mit Gruß
ibini
 
D

dubidu

Gast
Liebes ibini,
ich wusste nicht, dass du so romantisch bist. Schön, dass ich immer wieder eine neue Seite an dir entdecken kann. Der Text erinnert mich an die Guten-Morgen-Proesia meiner Frau Nachbarin, die morgens beim Betten-Ausschütteln die ganze Nachbarschaft zwischen Neandertal und Mergelsberg bezauberte. Aber das ist schon lange her.
Gruß
das dubidu
 

ibini

Mitglied
Hallo,

werter Kollege Untertiteltexter B.,

es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, auf welchen Kanälen Du überall zuhause zu sein scheinst! Gewissermaßen als das Große Auge.

Weißt Du, man könnte sich den Menschen als „Apothekerschränkchen“ (oder wie die Dinger heißen) vorstellen: In der Mitte eine große Schublade und rundherum viele kleine Schubladen. Die große Schublade ist der nackte Mensch mit seiner Funktionalität, sein physischer Teil, seine Chemie und dergleichen. Nichts Besonderes, Tummelplatz der Medizin. Bis dahin sind die Menschen im wesentlichen gleich. Und insofern soll diese große Schublade hier für den Augenblick uninteressant sein; sie ist fest verschlossen. Ganz anders nun die vielen kleinen Schubladen. Sie sind die Eigenschaften eines Menschen. Auch sie sind im Ursprung zwar sämtlich gleich, in Größe wie Inhalt. Aber man kann sie hin und her ziehen, füllen oder entleeren, sie also nutzen wie eine normale Schrankschublade. Und je nach Stellung und Inhalt dieser vielen kleinen Schubladen, durch den jeweiligen Menschen im weiten Maße manipulierbar, unterscheiden sich die einzelnen Zweibeiner.

So hat jeder eine Schublade „romantisch“ – sie ist jedoch bei den einzelnen Menschen mehr oder weniger weit aufgezogen, bewußt oder unbewußt. Viele haben sie sogar zugenagelt, zum Beispiel aus falscher Scham. Bei mir stand sie im Moment des Schreibens meiner Kurzgeschichte ziemlich weit offen. Warum auch nicht! Ich kann sie ja jederzeit wieder schließen und stattdessen eine andere aufziehen! Der Mensch braucht solche Schubladen der Ruhe und Gelassenheit, will es allerdings oft nicht wahrhaben. Sicher, die Helden werden so oder so einmal müde. Aber als Weg dorthin sollte man soweit möglich nicht gerade den steinigsten wählen.

Mit Gruß
ibini
 
D

dubidu

Gast
Nein, lassen Sie sie weit offen! Zugenagelte Schubladen gibt es denn schon viel zu viele. Lassen Sie sie nur offen, Frau Nachbarin. Nur ab und zu, wenn es zu stark regnet oder schneit; ja dann, Verehrteste, dann dürfen Sie die Schubladen schließen, aber nur dann!
Gruß
das dubidu
 



 
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