An mich

Balu

Mitglied
An mich

Weißt du, es wird Zeit für den Frieden. Bald wird der Herbst dem Winter weichen und ich spüre jetzt öfter, wie der schwarze Vogel mich beobachtet. Oft habe ich ihm das Fenster geöffnet und gehofft, er möge zu mir kommen, aber auch er scheint mich abzulehnen.

Ich schreibe dir diesen Brief, um dir zu sagen, dass es mir leid tut, wie ich dich viele Jahre lang ignoriert habe und dass ich die Narben zart streicheln will, die ich dir zugefügt habe.

Es begann, als wir Beide uns noch blind vertraut haben und nie ein Gedanke da war, dass es einmal anders sein würde, dass ich dir solches Leid zufügen könnte.
Weisst du noch, als die Mutter uns schreiend ihren nackten Körper zeigte und die Narbe, die von unserer Geburt stammte. Wie sie uns die Schmerzen tief ins Herz brannte, die sie bei unserer Geburt erleiden musste. Damals wolltest du Dir Augen und Ohren zuhalten, weil du die Schuld nicht annehmen wolltest. Aber ich habe dir die Hände festgehalten und dich gezwungen, immer wieder hinzusehen und die Schreie zu hören. Seit jenen Tagen war jeder Deiner Blicke voller Misstrauen und du bist mir ausgewichen.

Wenn du mit anderen Kindern spielen wolltest, dann habe ich dich an die Mutter erinnert und an die Schuld und an die Strafe, die wir dafür verdienen. Aber du hast nicht zugehört und wolltest fröhlich und glücklich sein. Da habe ich die Kinder beschimpft und sie geschlagen und verjagt.
Immer wieder, bis Keines mehr mit uns spielen wollte und ich glaubte, dass wir nun die Schmerzen der Mutter abgebüßt hätten.
Aber die Mutter musste weiter leiden, unter der Armut, in der unsere Familie lebte und unter dem Mann, der ihr dieses Kind aufgehängt hatte, das so schwierig war und von allen Kindern gemieden wurde. Wieder hast du dich gewehrt, hast aufbegehrt gegen die Schuld, wieder habe ich dich ignoriert und alle Schuld angenommen.

Weißt du, wie leid es mir heute tut, dass wir von da an einen erbitterten Kampf gegeneinander geführt haben. Du wolltest all das, was die Mutter uns mitgegeben hat, abschütteln. Ich habe, auf der Suche nach Strafe um unsere Schuld zu büßen, vielen Menschen Leid zugefügt und uns immer neue Schuld aufgeladen, die bestraft werden wollte.
Du wolltest Liebe, und wenn du sie gefunden hattest, habe ich sie dir immer wieder in meinem Wahn nach neuer Schuld und neue Strafe zerstört.
Und glaube mir, ich habe deinen Hass auf mich gespürt, habe darunter gelitten, um am Ende doch nur neue Schuld daraus zu schöpfen.

Jetzt ist es wie damals, als die Kinder nicht mehr mit uns spielen wollten. In jenen Tagen habe ich dein Weinen ignoriert. Heute kannst Du kaum mehr weinen. Aber dein trockenes Schluchzen lässt mich keine Nacht mehr schlafen.

Ich bitte dich! Lass uns den Winter gemeinsam erleben. Ich will zart und fürsorglich deine Wunden reinigen und ich will dich lieben.

Und weißt du, wenn uns das gelingt, dann wird der schwarze Vogel wissen, dass seine Zeit noch nicht gekommen ist und wird lächelnd an unserem Fenster vorbeifliegen.
 

Balu

Mitglied
An mich

Weißt du, es wird Zeit für den Frieden. Bald wird der Herbst dem Winter weichen und ich spüre jetzt öfter, wie der schwarze Vogel mich beobachtet. Oft habe ich ihm das Fenster geöffnet und gehofft, er möge zu mir kommen, aber auch er scheint mich abzulehnen.

Ich schreibe dir diesen Brief, um dir zu sagen, dass es mir leid tut, wie ich dich viele Jahre lang ignoriert habe und dass ich die Narben zart streicheln will, die ich dir zugefügt habe.

Es begann, als wir Beide uns noch blind vertraut haben und nie ein Gedanke da war, dass es einmal anders sein würde, dass ich dir solches Leid zufügen könnte.
Weisst du noch, als die Mutter uns schreiend ihren nackten Körper zeigte und die Narbe, die von unserer Geburt stammte. Wie sie uns die Schmerzen tief ins Herz brannte, die sie bei unserer Geburt erleiden musste. Damals wolltest du Dir Augen und Ohren zuhalten, weil du die Schuld nicht annehmen wolltest. Aber ich habe dir die Hände festgehalten und dich gezwungen, immer wieder hinzusehen und die Schreie zu hören. Seit jenen Tagen war jeder Deiner Blicke voller Misstrauen und du bist mir ausgewichen.

Wenn du mit anderen Kindern spielen wolltest, dann habe ich dich an die Mutter erinnert und an die Schuld und an die Strafe, die wir dafür verdienen. Aber du hast nicht zugehört und wolltest fröhlich und glücklich sein. Da habe ich die Kinder beschimpft und sie geschlagen und verjagt.
Immer wieder, bis Keines mehr mit uns spielen wollte und ich glaubte, dass wir nun die Schmerzen der Mutter abgebüßt hätten.
Aber die Mutter musste weiter leiden, unter der Armut, in der unsere Familie lebte und unter dem Mann, der ihr dieses Kind aufgehängt hatte, das so schwierig war und von allen Kindern gemieden wurde. Wieder hast du dich gewehrt, hast aufbegehrt gegen die Schuld, wieder habe ich dich ignoriert und alle Schuld angenommen.

Weißt du, wie leid es mir heute tut, dass wir von da an einen erbitterten Kampf gegeneinander geführt haben. Du wolltest all das, was die Mutter uns mitgegeben hat, abschütteln. Ich habe, auf der Suche nach Strafe um unsere Schuld zu büßen, vielen Menschen Leid zugefügt und uns immer neue Schuld aufgeladen, die bestraft werden wollte.
Du wolltest Liebe, und wenn du sie gefunden hattest, habe ich sie dir immer wieder in meinem Wahn nach neuer Schuld und neuer Strafe zerstört.
Und glaube mir, ich habe deinen Hass auf mich gespürt, habe darunter gelitten, um am Ende doch nur neue Schuld daraus zu schöpfen.

Jetzt ist es wie damals, als die Kinder nicht mehr mit uns spielen wollten. In jenen Tagen habe ich dein Weinen ignoriert. Heute kannst Du kaum mehr weinen. Aber dein trockenes Schluchzen lässt mich keine Nacht mehr schlafen.

Ich bitte dich! Lass uns den Winter gemeinsam erleben. Ich will zart und fürsorglich deine Wunden reinigen und ich will dich lieben.

Und weißt du, wenn uns das gelingt, dann wird der schwarze Vogel wissen, dass seine Zeit noch nicht gekommen ist und wird lächelnd an unserem Fenster vorbeifliegen.
 
B

bluefin

Gast
hallo balu,

wenn man sich selbst zum adressaten eines "briefes" macht, zählt alles doppelt. will sagen, dass, ob gewollt oder nicht, aus einer popeligen nebelkrähe schnell mal ein vogel greif und aus ein bisschen pathos gleich meterdicker schwulst zu werden droht.

aufgeschriebene selbstschauen sind eine recht heikle sache. fehlt ihnen jeglicher witz und die selbstironie, sind sie für den leser fast nicht zu ertragen - ganz egal, ob sie vor präpotenz strotzen oder, so wie die deine, als lamento daherkommen.

früher waren tagebücher sogar physisch eine verschlusssache. im zeitalter der esoterik wohl nicht mehr. nun gut: ich stell mir vor, dein brief ginge nicht an dich, sondern an mich, und ich wäre sowas wie dein brüderchen

...*grübel*...

nein, ich würde dich nach dem genuss dieser lektüre nicht plötzlich lieben, sondern überlegen, was ich dir denn als nächstes antun könnte, um mich vom salböl zu reinigen. deinen krammetsvogel würde ich mit einer leimrute fangen und dir zeigen, dass solche niemals lächeln. kein vogel kann das.

lg

bluefin
 

Balu

Mitglied
Hej bluefin

ich mag solche Kommentare, zeigen sie doch, dass da mal einer sich wirklich die Mühe gemacht hat, nicht nur Fastfood zu lesen und nicht nur Fastfoodkommentare abzugeben.

Gerne bin ich Deinen Gedanken gefolgt und habe mir dazu keine Fastfoodgedanken gemacht.

Nun, es ist ein Brief an das Lyrich selbst, also liegt es nahe, dass es die Sprache, in der es denkt am besten versteht. Ohne Scheu mag ich mich als Liebhaber solch "schwülstiger Sprache" outen.
Allerdings ist es für mich eher eine alte Sprache, wie sie vor ein paar Zeitepochen üblich und beliebt war.
In jenen Epochen hätte ich gerne als Poet gelebt und geschrieben.

Um diese Aussage aber zu relativieren, empfehle ich Dir meinen Text "Ende einer Midlifecrisis" in Humor und Satire.

Und so mag ich mich nochmals bedanken und mich mit Dir freuen, dass Sprache soviele Facetten hat und wir Schreiber daraus schöpfen können.

Bärengrüße
Knut
 
B

bluefin

Gast
lieber @balu,

wie schön, dass du den senf, den ich dir an dein schnittchen getan hab, nicht als zu scharf empfindest, mehr noch, mir sogar unterstellst, dieser sei eher abgeschmeckt als ~geschmackt.

danke! cool!

deine (deine?) midlife-crisis hab ich mir sofort näher angeschaut. wenn ich dort, wo sie steht, einen kommentar dazu abgeben müsste, würde ich sagen, dass sie nicht richtig einsortiert ist. sie erscheint mir nämlich nicht wirklich lustig, sondern eher geprägt von der eitelkeit eines alternden ichs, das sich müht, im mählichen verfall etwas wie eine metamorphose zu erblicken, und das tapfer behauptet, es habe diese wandlung so rasch vollziehen können wie einen schnellwaschgang im geschirrspüler (der moderne junggeselle hat einen, balu!).

die häme am schluss des textes ist's, die uns das innere der lyrichs verrät: er wünscht einem significant other wechseljahre an den hals, die sich gewaschen haben - wohl wissend, dass solche einen verlust bringenden point of no return machen.

hoffentlich bist du mir nicht böse, wenn ich dir sage, dass ein baum, der sein laub für immer abgeworfen hat, im forstreformierten zeitalter des borkenkäfers gnadenlos umgesägt wird, mag er so stämmig sein, wie er will, und bestenfalls in der papiermühle endet: keine metamorphose, sondern auflösung.

ein cooler baum steht dazu, solange er kann. ein uncooler träumt sich als schrankwand und ruft schon bei lebzeit nach der passenden säge, übersieht dabei aber die gnadenlose langeweile, die in unseren tv-verseuchten fernsehgrüften gemeinhin herrscht. höchststrafe!

nein, dann schon lieber papierbrei, mein lieber. der ist wenigstens nützlich, manchmal.

apropos bär: als bruno bei uns hauste, hab ich mich über die näheren umstände lustig gemacht. hast du auch?

lg

bluefin
 

Balu

Mitglied
wechseljahre an den hals, die sich gewaschen haben - wohl wissend, dass solche einen verlust bringenden point of no return machen.
sehr gut gesagt,
und das sage ich sehr berührt

nur schade, dass den wenigsten menschen bewusst ist, dass dieser never like vesterday moment auch im mann stattfindet,
wohl weniger von funtionellen änderungen, wohl aber von gleichartigen veränderungen im denken und fühlen begleitet

hier ist es dir gelungen, mich betroffen zurückzulassen

nachdenkliche grüße an Dich
Balu
 
B

bluefin

Gast
lieber balu,

bitte nicht betroffen sein - es ist doch nur literatur!!

im vertrauen: ein bisschen pfeifen auf das, was bluefin so daherschwätzt, darf man schon - der ist zwar kein bär, aber immerhin ein kleiner (cooler) fisch.

apropos - was ist (war) jetzt mit bruno?

lg

bluefin
 



 
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