Anatomie eines Witzes

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Raniero

Textablader
Anatomie eines Witzes

Bei den Arbeitskollegen galt Helfried Kleumann, der kleine kaufmännische Angestellte, als Witzerzähler par exellence, obwohl er eigentlich, wie viele dieser passionierten Witzbolde, keinen Humor besaß, da ihm die Fähigkeit abging, über sich selbst lachen zu können. Stattdessen wachte er eifersüchtig über das Repertoire seiner Witze und hatte sich daheim sogar ein Archiv angelegt, in welchem er diese fein säuberlich nummeriert und katalogisiert aufbewahrte, um sie bei jeder Gelegenheit entsprechend der Zusammensetzung und den Vorlieben seines Zuhörerkreises aus dem Gedächtnis abrufen konnte.
Machte in seiner Gegenwart einmal ein Witz eine Runde, den er noch nicht kannte, wurde er unruhig; äußerlich sah man ihm die Gemütsbewegung nicht an, doch in seinem Innern da gärte es vor Ärger, dass er nicht selbst diesen Spaß als erster unter die Leute gebracht hatte.
Seine Vorliebe galt den Witzen über Minderheiten, Menschen mit körperlichen Gebrechen oder anders gearteten geschlechtlichen Ausrichtungen, konnte er doch sicher sein, mit diesen den Geschmack der meisten seiner ‚normalen’ Zuhörer zu treffen. Darüber hinaus hatte Helfried den krampfhaften Ehrgeiz, über die Grenzen seines Arbeitsfeldes und hinaus einem größeren Publikum bekannt zu werden und es tatsächlich soweit gebracht, einmal im Fernsehen bei einer öffentlich weinenden Moderatorin aufzutreten, mit all seinen Witzen; eine Aktion, von der er sein über gesamtes Berufsleben hin zu zehren gedachte.

An einem Montag, am frühen Morgen, hatte ein neuer Angestellter, ein junger Mann Ende zwanzig mit Namen Thorsten Schnäter, seine Arbeit aufgenommen und war vorab vom Chef persönlich durch alle Büroräume der Abteilung geführt und hierbei allen Mitarbeitern vorgestellt worden. Nachdem sich der Chef zurückgezogen hatte, versammelten sich zur Frühstückszeit einem alten Brauch entsprechend alle Kollegen, männlich wie weiblich, um dem Neuanfänger das richtige Wir-Gefühl zu vermitteln. Dieses Treffen fand, wie alle Zusammenkünfte dieser Art, im größten Raum der Abteilung, einem Großraumbüro mit acht Schreibtischen, in dem auch Helfried Kleumann seinen Arbeitsplatz hatte, statt.
Um dem jungen Mann von Beginn an einen richtigen Eindruck der Atmosphäre zu vermitteln, fand Helfried sich auf Bitten der Kollegen gleich bereit, dem Neuanfänger zur Einführung einen seiner Witze zu präsentieren, den die meisten Mitarbeiter zwar, wie sie glaubten, mehr als einmal gehört hatten, worüber sie sich aber aus Solidarität niemals beschwerten sondern pflichtschuldig mitlachten würden, allein schon, um zu testen, ob der neue Mann den aus ihrer Sicht notwendigen Humor besäße.
Helfried zwinkerte den Kollegen zu und begann jedoch, dem neuen Mitarbeiter zugewandt, mit der Erzählung eines völlig neuen, auch im Mitarbeiterkreis noch nicht gehörten Witzes, wobei allerdings die Einführung nach altbekanntem Muster verlief:
„Kennen Sie den schon, junger Mann? Nicht? Macht ja nichts, hören Sie einfach zu. Der Chef einer größeren Abteilung...“

Weiter kam Helfried nicht; der neue Kollege nahm sich die Freiheit, ihn an dieser Stelle zu unterbrechen: „Halt, Herr Kleumann, warten Sie. Wie können Sie denn davon ausgehen, dass ich den Witz, den Sie mir jetzt erzählen wollen, noch nicht kenne? Sie können es nicht wissen, Sie können vielleicht annehmen, dass ich den Witz noch nicht kenne, doch absolut sicher können Sie doch nicht sein, nicht wahr?“
Helfried war sprachlos, das erste Mal in seiner Funktion als Witzerzähler.
Was war denn das für ein Witzbold, der ihn noch vor dem eigentlichen Witz unterbrach?
„Wie meinen Sie, ich verstehe nicht ganz? Sie kennen meinen Witz schon? Das ist ja unglaublich!“
„Das habe ich nicht behauptet, Herr Kleumann, wie könnte ich denn? Was halten Sie davon, mir den Inhalt Ihres Witzes vorab ein wenig zu erläutern, ohne die Pointe vorwegzunehmen, versteht sich, damit ich mir ein Urteil bilden und Ihnen definitiv sagen kann, ob ich ihn kenne oder nicht, diesen Witz?“

Einige der Kollegen begannen, verhalten zu grinsen.
Helfried jedoch reagierte ausgesprochen sauer.
„Wie bitte, mein Herr? Was soll ich? Ihnen meinen Witz vorab erläutern, und ihn dann noch einmal erzählen, den Witz? Das ist wohl ein Witz? Einen Deubel werde ich tun, ich erzähle den Witz auf meine Weise oder gar nicht!“
„Wie Sie meinen“, erwiderte der junge Mann eisig.
Mit grimmigen Mienen standen sie sich gegenüber, Erzähler und Zuhörer, dem Anlass einer heiteren Geschichte nicht gerade entsprechend, und mit derselben Miene setzte Helfried erneut an.
„Also, der Chef einer größeren Abteilung, nicht unser Chef, versteht sich, stand vor der Aufgabe, eine freigewordene Stelle neu zu besetzen. Drei Angebote hatte er schließlich vorliegen und..“
„Nicht so schnell, Herr Kleumann“, unterbrach Thorsten Schnäter den Witzexperten, der gerade wieder in Fahrt geriet, „Sie erwähnten dass es sich nicht um unseren Chef handele. Sind Sie sich da absolut sicher?“
Entgeistert starrte Helfried den neuen Kollegen an.
„Wie kommen Sie denn darauf, Mann? Natürlich handelt es sich nicht um unseren Chef, verdammt noch einmal!“
„Ich frage nur deswegen, Herr Kleumann, weil unser Chef nicht im Raum ist, und man weiß ja, wie oft Witze über Vorgesetzte in deren Abwesenheit gemacht werden“.
Helfrieds Gesichtsfarbe wechselte zu einer ungesunden Röte.
„Es ist aber nicht unser Chef,“ erwiderte er mit schneidender Stimme, „es ist irgendein Chef, verstehen Sie, irgendeiner irgendwo auf der weiten Welt. Wollen Sie nun den Witz hören oder nicht?“
Thorsten wollte, und er gab sich mit der Erklärung zufrieden.
Viele der Kollegen hatten sich etwas abgewandt, um ihre Lachkrämpfe zu verbergen.
„Also, nachdem ihm die Angebote von drei Bewerbern vorlagen, unserem Chef, ich meine, diesem Chef da, bestellte er sie alle zu sich, zu einem Vorstellungsgespräch, diese Kandidaten, in sein Vorzimmer“.
Helfried machte eine Pause und blickte den Neuling durchdringend an, als ob er einen weiteren Einspruch erwartete; dieser erfolgte jedoch nicht.
„Nun muss ich aber noch erwähnen“, setzte er fort, „dass dieser Chef ein kleines körperliches Handykap hatte, einen kleinen Makel, den ihm die Natur mitgegeben hatte; er besaß keine Ohren!“

An dieser Stelle platzten die Kollegen los, vor Lachen; über die fehlenden Ohren oder über die allgemeine Situationskomik, sei dahingestellt. Erwartungsvoll blickte Helfried den Neuen, Thorsten Schnäter an, doch der lachte nicht und verlangte stattdessen eine näher gehende Erklärung.
„Lieber Herr Kleumann, Sie führten soeben aus, dass Sie diesen Umstand über das körperliche Handykap unseres Protagonisten erwähnen müssen. Warum tun Sie das erst jetzt? Meines Erachtens gehört eine solche Erwähnung an den Anfang des Witzes, ist sozusagen die Prämisse dieses Witzes. Aus dramaturgischen Gründen sollten Sie daher diese Tatsache nicht erst schildern, wenn ein Teil des Handlungsstranges bereits seinen Lauf genommen hat, sondern gleich zu Beginn“.

Helfrieds Gesicht nahm eine Farbe an, die selbst einen erfahrenen Mediziner erschrecken konnte.
„Wie bitte, Sie machen wohl Witze!“ brüllte er los, in einer solchen Lautstärke, dass die leichten halbhohen Glastrennwände des Raumes erzitterten, „Prämisse des Witzes? Dramaturgische Gründe? Haben Sie keine Ohren, ich habe Ihnen schon einmal gesagt, dass ich meine Witze auf meine Weise erzähle! Darf ich nun endlich meinen Witz so erzählen, wie ich es möchte?“
„Sie brauchen mich nicht so anzubrüllen, Herr Kleumann, ich habe Ohren, im Gegensatz zu Ihrem Chef!“
„Zu meinem Chef, Sie Flegel, was erlauben Sie sich?“
„Ich meine, zu Ihrem Chef in Ihrem Witz, Herr Kleumann“.
„Ach so. Darf ich also weiter erzählen. Mein Gott, ist das anstrengend“.
Helfried wischte sich ein paar Schweißperlen aus dem Gesicht; es war das erste Mal, dass er bei einem Witz schwitzte.
„Also“, fuhr er vorsichtig fort, jederzeit auf einen neuen Angriff gefasst, „er besaß keine Ohren, dieser Chef. Nun gut, er ließ also den ersten Bewerber vor, um ihn vorab zu testen, wie dieser auf seine fehlenden Ohren reagieren würde, davon hinge alles weitere ab. So stellte er diesem, nachdem der sich vorgestellt und Platz genommen hatte, zuerst die folgende Frage: ‚Sagen Sie mal, fällt Ihnen an mir etwas auf?’ Der Kandidat antwortete spontan: ‚Ja, wenn Sie mich so direkt fragen, dann muss ich sagen, dass Sie keine Ohren haben’. Das war das Stichwort für den Abteilungsleiter. Mit der Begründung fehlenden Taktgefühls warf er den Bewerber hinaus und ließ den nächsten eintreten“.

Erleichtert darüber, dass er eine relativ lange Passage des Witzes ohne Einwand über die Runden gebracht hatte, blickte Helfried zu seinem größten Kritiker hinüber , doch der zeigte einen eher gleichgültigen bis gelangweilten Gesichtsausdruck, während die Kollegen es vor Spannung fast nicht mehr aushielten, sei es im Hinblick auf die Pointe oder auf den nächsten Knall.
Vorsichtig nahm er die Erzählung wieder auf
„Ja, und was soll ich sagen, liebe Kollegen, dem nächsten Bewerber erging es ebenso; kaum hatte er dem Chef eine Andeutung über dessen Ohren gemacht, flog auch er achtkantig hinaus. Als dieser Bewerber ins Vorzimmer zurückkehrte, saß dort schon ganz aufgeregt der dritte Kandidat, der zweimal das Gebrüll des Chefs und den Rausschmiss seiner Vorgänger miterlebt hatte, worauf ihm der andere ins Ohr flüsterte, er solle um Himmelswillen beim Gespräch mit dem Chef keine Bemerkung über dessen Ohren machen“.

Wiederum froh, eine weitere Etappe seines Witzes gefahrlos überstanden zu haben, machte Helfried eine kleinen Pause. Der Witz steuerte dem Höhepunkt zu, alle waren nun gespannt, wie er zu Ende ging.
Helfried fuhr fort:
„Nun trat der dritte Bewerber ein; auch ihm stellte der Chef die gleiche Frage: ‚Sagen Sie mal, fällt Ihnen etwas an mir auf?’ ‚Ja, antwortete der Kandidat, Sie tragen Kontaktlinsen“.
Siegesgewiss blickte Helmfried Kleumann in die Runde.
Die Spannung auf die nun unmittelbar bevorstehende Auflösung, die große Pointe,
war fühlbar zu atmen. Unendlich froh, diesen Witz, wenn auch unter unglaublichen Strapazen bis zu diesem Punkt vorangetrieben zu haben, setzte er an, ihn mit einem Knaller zu beenden, als sich ungerührt die Stimme seines Widersachers vernehmen ließ.
„Sagen Sie einmal, Herr Kleumann“, begehrte Thorsten Schnäter zu wissen „Sie geruhten vorhin, zu schildern, dass sich die beiden ersten Bewerber zuerst vorgestellt haben, bevor sie vom Chef nach den Ohren befragt wurden, wie verhielt es sich mit dem dritten Mann; ich bin da etwas irritiert…“

Irritiert war auch Helmfried Kleumann, und mehr als das.
Mit verzerrtem Gesicht und einem Aufschrei unbändiger Wut stürzte er sich auf den neuen Kollegen:
„Sie erbärmlicher Hund, Sie haben meinen Witz gemordet“.

Schon lagen sie sich in den Haaren und zerrten sich gegenseitig auch an den Ohren, und nachdem es den Kollegen mit viel Mühe gelungen war, sie voneinander loszureißen, hatten sie beide ihre Lauscher eingebüßt, wie der Chef in dem etwas lang geratenen Witz.
Auf der Stelle wurden beide ins Krankenhaus gebracht, und nun liegen sie nach erfolgreichen Operationen auf dem gleichen Zimmer.
Ob Helfried Kleumann allerdings unter diesen Umständen bereit ist, Thorsten Schräter die fehlende Pointe herauszurücken, ist sehr fraglich; auch kann einem die gesamte Belegschaft der Abteilung richtig Leid tun, denn wer weiß schon zu sagen, ob Helfried wenigstens den Kollegen das Ende des Witzes nicht vorenthält.

Ob er überhaupt jemals wieder Witze erzählen wird?
Fragen über Fragen.
 
M

Minotaurus

Gast
Hallo Raniero,
ich kenne zwar bereits die Auflösung dieses Uralt-Witzes, aber die Form, wie Du das Erzählen dessen erzählst, finde ich recht gelungen und kurzweilig.
Auch hier fehlt so etwas wie eine Pointe, aber zumindest liest sich die Geschichte selbst recht humorvoll.
Grüße vom Minotaurus.
 

Raniero

Textablader
Hallo Minotaurus

in der Tat geht es in der Story nicht um den uralten Witz, den wohl die meisten kennen, sondern in erster Linie um das Verhalten der drei, jawohl, drei Protagonisten, wenn man die schweigende, kichernde Gruppe der Arbeitskollegen gleichsam als Chor nach antikem Vorbild hinzurechnet.
Aus diesem Grund habe ich auch die Pointe des saublöden Witzes weggelassen und die Geschichte auch nicht mit einer anderen (schon gar nicht mit einem sogenannten 'Brüller' der Dir so am Herzen liegt, mir jedoch absolut nicht) beendet, sondern in der Art einer Calvino-Erzählung ausklingen lassen;
der Leser kann sich seine eigenen Gedanken machen, wie es weitergehen könnte.

Gruß Raniero
 



 
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