Angst

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karin78

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Angst

Ich habe Angst. Ich will nicht nach Hause. Ich will nicht nach Hause, weil ich genau weiß, was mich erwartet. Es ist jeden Tag das gleiche schreckliches Ritual. Sobald ich die mächtige Eingangstüre aufgesperrt habe, höre ich die herrische Stimme, die in diesem Moment noch besorgt und fürsorglich klingt, die schreit:“ Mausi, bist du es?“
Ich zucke zusammen! Der Ekel fließt durch meinen kleinen Körper. Ich bin wie eingefroren, wie ein atmender Eisblock, der am liebsten weglaufen würde, doch dessen Füße sich keinen Millimeter von Ort und Stelle bewegen lassen. Ich höre schon die dumpfen Schritte, die sich dem Vorzimmer nähern. Die freundliche Stimme wird ernst und furchterregend als sie erneut schreit:“ Kannst du nicht antworten? Hat man dir nicht beigebracht, daß man eine Antwort gibt, wenn man etwas gefragt wird?“
Ich würde ihm so gerne sagen, daß er je nie da war, um mir etwas zu lernen, und wenn er da war, war er so betrunkenem , daß er Glück hatte, noch rechtzeitig aufs Klo zu gelangen, oder er wollte ganz einfach nur noch in sein Bett.

Er schreit mich an. Ich soll zu ihm kommen und mir die vom Regen aufgeweigten Schuhe und Jacke ausziehen. Ich weiß, was jetzt kommt. Er greift an seine silberne Gürtelschnalle und öffnet sie. Dann zieht er den braunen Ledergürtel mit einem Ruck aus den Schlaufen. Es macht mir Angst. Ich starre wie versteinert auf dieses braune Stück Leder. Der Gürtel ist schon sehr alt und brüchig, an manchen Stellen fehlt schon die oberste Lederschicht. Meine Mama hat mir gesagt, ich solle ihm zu Weihnachten doch endlich einen neuen Gürtel schenken. Wenn sie wüßte!

Er kommt auf mich zu und sagt mir mit versteckter Freude in seiner Stimme:“ Du warst wieder einmal unartig, mein Mausi!“. Meine Angst wird immer größer. Was jetzt passieren wird, weiß ich zu gut ...

Es ist vorbei. Gott hat meine Angst bemerkt, falls es so etwas wie einen Gott überhaupt gibt. Ich glaube es eigentlich nicht mehr. Wenn es einen Gott geben würde, dürfte er solche schrecklichen Dinge nicht zulassen. Es dürfte nur Frieden und Liebe auf dieser, von ihm erschaffenen, Welt geben und nicht so viel Haß und Gewalt, die einem das Leben so schwer machen. Er dürfte nicht zulassen, daß kleine Kinder sterben müssen und Kinder ihre Eltern hassen. Die wirklich paradiesische Welt wird es wahrscheinlich nie geben, genau so wenig wie es Ihn je geben wird.

Ich laufe in mein Zimmer und verkrieche mich unter meinem Schreibtisch. Mein Rücken schmerzt und ich beginne zu weinen. Ganz leise, daß er es nicht hört! Ich bringe es nicht mehr übers Herz, meine Hände zu falten, und zu Gott zu beten, da ich jetzt weiß, daß es Ihn nicht geben kann. Ich fühle mich so alleine, ungeliebt und von allen verlassen. Mein junges Herz rast, als wenn ich mich kurz vor dem Ziel eines Marathonlaufes befinden würde. Ich höre auf jedes kleinste Geräusch. Das Ticken meiner Uhr vergeht zu langsam. Sie wird nicht rechtzeitig zu Hause sein. Er hat sich sicher einen genauen Zeitplan zurechtgelegt, damit er exakt weiß, wann er in mein Zimmer kommen muß.

Es ist so weit. Ich höre die Schritte, die sich langsam nähern. Ich schließe die Augen und versuche an etwas sehr schönes zu denken, wie die jungen Vögel im Frühling, die mühsam versuchen von Ast zu Ast zu fliegen, oder an eine große weite Wiese, auf der ich so lange laufen kann, bis mich niemand mehr findet.

„ Mausi, es tut mir leid! Ich wollte dir nicht weh tun!“, Wie oft habe ich diese beiden Sätze von ihm wohl schon gehört. Ich kann im Moment an nichts Schönes denken. Er bückt sich und blickt mit seinen teuflischen grünen Augen unter den Tisch. Das ist der Augenblick, in dem mein Gehirn aufhört zu denken. Er nimmt mich an meinem kleinen Arm und zerrt mich unter dem Tisch hervor. Dann setzt er sich auf mein Bett und befiehlt mir, mich auf seine Schoß zu setzen. Er beginnt mich mit seinen großen, brutalen Händen zu streicheln und sagt mir dabei immer wieder:“ Es tut mir so leid, laß es mich wieder gut machen. Ich liebe dich!“
 

Pasta

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Hallo Karin!

Du schilderst sowohl die Gefühle der Ich-Erzählerin als auch die Psychologie des Geschehens und des Täters so einfühlsam und - so weit ich das beurteilen kann - authentisch, dass ich fast ein bisschen Angst habe, du könntest aus eigener Erfahrung schreiben! (Ich erwarte darauf selbstverständlich keine Antwort!)

Ich finde die Geschichte gut, weil sie berührt. Nichts ist zu dramatisch geschildert, nichts wird unnötig in (reißerische, "anmachende") Worte gefasst, was nicht eh klar ist, dennoch wird nichts beschönigt.

Die Sprache ist klar und eindeutig, schnörkellos und passt zur Thematik. Und die Angst, die kann man beim Lesen förmlich spüren.

Grüße von Pasta
 



 
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