Annes Parkplatz

4,20 Stern(e) 6 Bewertungen

Leovinus

Mitglied
Annes Parkplatz

»Papa, mein Buch!«
Der schwergewichtige Martin ging zum Familien-Van zurück, der mitten auf der schmalen Straße stand, und gab seiner achtjährigen Tochter ihren 1100-Seiten-Wälzer. Dann ermahnte er sie noch einmal: »Also, pass schön auf, Anne, dass keiner den Parkplatz wegnimmt. Ich hole nur schnell Mama.«
»Papa!«
Martin drehte sich ungeduldig um. »Was ist denn?«
»Krieg ich dann Band Neun?«
»Vielleicht.« Martin konnte wirklich nicht verstehen, was seine achtjährige Tochter schon an den ersten acht Bänden so toll fand.
»Bitte!« verzog Anne den Mund.
»Pass erst einmal hier auf. Dann reden wir darüber, okay?«
Anne fand das zwar keinen fairen Deal, aber gemeinsam mit Mutter würde sie ihren Vater schon überzeugen können. Deshalb stimmte sie zu.
Martin stieg ins Auto und fuhr zum Büro seiner Frau. In einer Viertelstunde würden beide wieder zurück sein. Sie hätten einen der äußerst begehrten Parkplätze vorm Haus und könnten gemütlich das Wochenende beginnen.
Anne rückte ihr weißes Kleid mit hellroten Rosen zurecht und setzte sich mitten in die Parklücke. Sie blätterte eben von Seite 691 auf Seite 692, als sich ein rotes Fahrzeug rückwärts in ihre Parklücke zu schieben versuchte. Auf der Rückseite las Anne das Wort »Ambulance«. Tatsächlich schien es ein Krankenwagen zu sein, wenn auch ein älteres Modell. Die Fahrerkabine war noch vom Patienten-Teil getrennt. Das rote Gesicht des etwa dreißigjährigen Holger schob sich aus dem Fenster.
»Hallo, Mädchen. Kannst du bitte woanders spielen? Ich möchte hier gern parken.«
Das Mädchen schaute Holger erstaunt an. Wie kam dieser Mensch darauf, dass sie hier spielte? Dazu würde sie auf den Spielplatz im Park gehen, was sie allerdings höchst selten tat. Viel lieber saß sie irgendwo und verschaffte sich Bildung. Bildung, das hatte sie neulich wieder im Fernsehen gehört, war der Baustein für eine erfolgreiche Karriere. Außerdem hatte sie von ihrem Vater einen klaren Auftrag erhalten.
»Das ist unser Parkplatz. Den hat mein Papa reserviert.«
Holger hatte keine Zeit für lange Diskussionen. In zehn Minuten war er in der Cocktailbar an der Ecke mit einer Frau verabredet, von der er bisher nicht viel mehr wusste, als dass sie eine äußerst erotische Telefonstimme besaß, dass sie Kontaktanzeigen las und Männer mit außergewöhnlichen Autos mochte.
Holger, dem sonst nichts peinlicher war, als irgendwo aufzufallen, hatte eine tief sitzende Vorliebe für exotische Fahrzeuge. Wahrscheinlich hatte er dies von seiner Mutter geerbt, die eine stille Frau war und ihre Schüchternheit mit schreiend bunten Kleidern wettzumachen versuchte. Holgers erster Wagen war eine aufgemöbelte Isetta mit Satellitenschüssel auf dem Dach gewesen. Danach hatte er eine sechstürige alte Limousine besessen, die sich jedoch in der Großstadt als leider zu sperrig erwies. Schließlich hatte ihm ein Freund diesen original amerikanischen Krankenwagen verschafft, der wirklich nicht billig war. Holger galt zwar als sparsam, doch hatte er schon immer einen guten Riecher dafür, wann sich eine größere Geldausgabe lohnte.
»Soso, wo ist denn dein Papa?«
»Der holt Mama von der Arbeit ab. Wenn Sie gestatten, würde ich jetzt gern weiter lesen.« Holger war perplex. Doch wozu hatte er im letzten Jahr einen Kommunikationskurs absolviert? Lektion Nummer Eins: Lerne die Interessen deines Gegenüber kennen.
»Was liest du denn da?«
Anne schaute widerwillig auf. »Meyers Großes Konversationslexikon, Band Acht.«
»Das ist aber ein dickes Buch. Verstehst du das denn schon?«
»Dazu ist es doch da, dass man es versteht! Ist alles drin erklärt!«
»Das ist logisch«, gab Holger zu.
»Parken Sie doch dort vorn«, riet ihm Anne. Tatsächlich verließ in diesem Moment etwa hundert Meter entfernt ein ungewöhnlich blauer Mercedes den Straßenrand. Anne vertiefte sich wieder in ihr Buch. Holger manövrierte den Krankenwagen heraus und fuhr los.
Ein grüner Trabant bog aus einer kleinen Seitenstraße, kurvte geschickt in die soeben frei gewordene Parklücke und eine lederbekleidete Frau mit schwarzem lockigem Haar und Beinen, die viel zu lang für so ein kleines Auto waren, stieg aus. Was für eine Frau, dachte Holger. Wäre er nicht verabredet gewesen, hätte er diese Schönheit vielleicht sogar angesprochen.
Er blickte auf die Uhr und fluchte. Warum hatte er sich von diesem Kind fortschicken lassen? Überhaupt, eine Frechheit von den Eltern, ihre Tochter als Parkverbotsschild zu missbrauchen. Er beschloss, noch einmal eine Runde zu drehen. Hier musste doch ein Parkplatz zu finden sein.
Keine drei Minuten später stand der alte amerikanische Krankenwagen wieder neben Anne.
»Sag mal, Kleine...«, begann Holger.
»Ich heiße Anne. Anne Kleinschmidt. Aber Sie dürfen auch Annette zu mir sagen. Das ist nämlich die französische Form. Anne heißt übrigens soviel wie ›Gnade‹«
»In Ordnung, Annette ... Anne ... also, machst du eigentlich immer, was dein Papa dir sagt?«
Anne witterte eine Falle. Wenn sie jetzt ja sagte, stünde sie als dummes unselbständiges kleines Mädchen da. Sagte sie nein, müsste sie das Feld räumen. Nicht, dass ihr das viel ausgemacht hätte, sie konnte schließlich überall lesen. Aber Band Neun bekäme sie nicht vor Weihnachten. Und ehe sie den letzten Teil, Nummer Zwanzig, hätte, wäre sie wahrscheinlich schon zwölf.
»Wie heißen Sie eigentlich?«
Holger nannte seinen Namen.
Anne fragte: »Und was bedeutet das?«
Er musste zugeben, das nicht zu wissen.
Aber Anne hatte sofort eine Idee: »Was für ein Glück, dass ich hier den Band H bis I habe.« Sie begann zu blättern. »Holger - schwedischer Vorname, von ›Insel‹ und ›Speer‹.« Anne sah ihn an. »Sie sind eine bewaffnete Insel.«
Holger gefiel diese Vorstellung. Aber das half jetzt nicht weiter. Er hatte noch fünf Minuten, sonst käme er unwiderruflich zu spät zu seiner Verabredung.
»Meinetwegen, Anne. Wenn dein Name ›Gnade‹ bedeutet, wärest du dann so gnädig, mir diesen Parkplatz zu überlassen?«
So einfach ließ sich Anne nicht abspeisen. Sie antwortete schlicht: »Nicht für umsonst.«
»Möchtest Du ein Eis?«
Darüber konnte Anne nur lachen. Ein Eis! Was wäre das für ein kindischer Wunsch. Das hätte sievon Papa für umsonst bekommen. So ein Parkplatz war teurer, das wusste sie. Außerdem spürte sie, dass dieser Mann dort in Zeitnot war. Alle paar Sekunden sah er auf die Uhr. Abgesehen davon bildete sein Fahrzeug ein kleines Verkehrshindernis, das die übrigen Autos nur mit Mühe umkurvten. Und Holger schien nicht der Typ zu sein, dem das nichts ausmachte. Der trieb den Preis höher.
»Einen Ball? Ich kann schnell dort rüber gehen und dir einen kaufen, wie wär’s?« Holger zeigte auf den Spielzeugladen, der zwischen einer Buchhandlung und einer Apotheke auf der anderen Straßenseite stand.
Anne schüttelte nur den Kopf und vertiefte sich in ihr Buch. Inzwischen wusste sie genau, was der Parkplatz kosten würde.
Holger stieg aus und ging zu ihr. Er hockte sich vor sie hin und redete auf sie ein.
»Pass mal auf, Anne. Ich brauche diesen Parkplatz. Denn ich will mich in wenigen Minuten vielleicht mit der Frau meines Lebens treffen. Möchtest du daran schuld sein, dass dies nicht geschieht?«
Anne dachte nach. Parkplatz hin, Parkplatz her. Was hatte ihr Papa schon davon, wenn er das Auto hier hinstellen könnte. Das Wochenende war schließlich lang, da hätte er genug Zeit, sich woanders eine Stelle zu suchen. Dieser Mann hier hatte einen echten Grund. Einen wahrhaft romantischen, wie es Anne erschien. Zwar war sie im Lexikon noch nicht bei »L« wie »Liebe« angelangt, doch so viel wusste sie immerhin: Wenn ein Mann vorhat, die Frau seines Lebens zu treffen, so darf man ihn nicht daran hindern.
Aus vielen Filmen wusste sie auch, dass Männer bei Frauen alles erreichen können, wenn sie sie zum Lachen bringen.
»Erzähl mir einen Witz.«
»Einen Witz?«
»Ja, erzähl mir erst einen Witz. Dann sage ich dir, was ich für den Parkplatz haben will.«
Schwierig. Holger kannte keine Witze. Schließlich dachte er daran, wie ihm sein Kumpel den Krankenwagen verkauft hatte. Der hatte erzählt:
»Kommt ein Mann mit einem Frosch auf dem Kopf zum Arzt. Fragt der Arzt: ›Was fehlt Ihnen denn?‹ Antwortet der Frosch: ›Sehen Sie nicht, was ich mir eingetreten habe?‹«
Anne grinste schief. Aber toll fand sie den Witz nicht. Sie bekam Mitleid mit Holger.
Der fragte nun: »Na? Hab ich mir den Parkplatz verdient?«
Oft genug hatte Anne im Fernsehen gesehen, dass wahre Liebe ihren Preis hatte. Darum antwortete sie: »Ich gebe dir den Parkplatz unter einer Bedingung.« Sie zeigte auf die andere Straßenseite.
»Spielzeug? In Ordnung. Was willst du?«
Anne schüttelte den Kopf.
»Kein Spielzeug? Was dann?«
Anne zeigte weiter auf die andere Straßenseite. Holger kapierte.
Als Martin wenig später mit Annes Mutter auftauchte, musste er feststellen, dass die Parklücke, auf die seine Tochter achten sollte, von einem alten amerikanischen Krankenwagen besetzt war.
Auf dem Fußweg saß Anne und blätterte in ihrem Lexikon. Neben dem Mädchen lagen, einzeln in Folie verpackt, fein säuberlich aufgestapelt die Bände Neun bis Zwanzig von Meyers Großem Konversationslexikon.
In der Cocktailbar an der Ecke plauderte Holger mit einer lederbekleideten schwarzlockigen Frau, die Beine hatte, viel zu lang für einen kleinen grünen Trabant. Als er davon erzählte, eine bewaffnete Insel zu sein, musste sie das erste Mal fröhlich lachen. Und das war nicht das letzte Mal.

----

Für die Berliner Lupianer & alle Interessierten: Leovinus-Lesung am 14. Dezember, 21 Uhr, Florastraße 16 in Pankow (Theater "Zimmer 16")
"Annes Parkplatz" erschien in Ausgabe No. 4 meines kostenlosen Literaturpapiers "Blaupause" , welches auf meiner Website
http://www.leovinus.de
abonniert werden kann.
 
K

kaffeehausintellektuelle

Gast
eine wunderbare geschichte.

zwei kleinigkeiten fallen mir so ganz schnell auf.

holger kapierte. warum bitte kapierte er so schnell? also ich würde länger brauchen, um zu kapieren, auch wenn dort gegenüber eine buchhandlung ist.

und dann würd ich einen absatz machen, an der stelle, wo der vater kommt. weil da ja ein bisschen zeit vergangen ist.

liebe grüße

die kaffeehausintellektuelle
 

Zefira

Mitglied
Lieber Leovinus,

auch mir gefällt die Geschichte. Erinnert mich mit ihrem skurrilen Personal an Fanny Morweiser - eine meiner liebsten story-tellers!

Ein paar Kleinigkeiten, die mir aufgefallen sind:


>Martin ging zum Familien-Van zurück, der mitten auf der schmalen Straße stand, und gab seiner achtjährigen Tochter ihren 1100-Seiten-Wälzer<
...klingt für mich so, als säße das Kind im Auto. Ich bin ziemlich gestolpert, als ich gleich darauf las, daß er ins Auto steigt und wegfährt.


>Anne rückte ihr weißes Kleid mit hellroten Rosen zurecht <
"Zurechtrücken" finde ich merkwürdig formuliert für ein Kleid. Vielleicht besser "sie zog zurecht"?

>Holger galt zwar als sparsam<
... das ist die Perspektive von Leuten, die Holger kennen, und an dieser Stelle (da Du sonst Holgers Perspektive einnimmst) ziemlich unmotiviert, warum nicht einfach "er war sparsam"?

Der Witz ist spitze. Dafür hätte ich dem Holger ein ganzes Parkhaus überlassen :D

Liebe Grüße,
Zefira
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hm,

eine sehr schöne, gut erzählte geschichte. mir ging das maul sperrangelweit auf, als das mädchen gleich die restlichen bände bekam. ich hatte lediglich mit band 9 gerechnet. ist das nich n bißchen unverschämt von der kleinen?
ich glaube, der witz mit dem frosch bekommt nur beim ersten hören lacher, aber egal, er reicht für die story.
ganz lieb grüßt
 



 
Oben Unten