Arambol

Trippi

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Ich dachte oft an diese Begebenheit. Mit gemischten Gefühlen. Zu nah schien mir das Ganze am Abgrund des Wahnsinns.
Aber so ist das in unserer Ursache-Wirkungs-Welt: Wenn heute jemand daherkommt und behauptet, Gott habe zu ihm gesprochen, den stecken wir glatt in die Klapsmühle. Und wenn der heilige Geist persönlich vorbeigeflogen käme, die Luftabwehr hätte ihn abgeknallt, noch bevor er seine Botschaft verkünden könnte. War es das, was hinter den Spaceprogrammen stand, dieser ganze SDI-Mist, Defensivraketen im Weltraum?
Auf Umwegen, zu lang um sie im Detail zu beschreiben, war ich in Goa gelandet.
Ich muss mich mit einer Zusammenfassung begnügen: Im Frühjahr 1989 in Koh Phangan hatte ich Barbarossa, so nannte er sich, kennen gelernt. Ein Schweizer mit blasser Haut, wässrig-blauen Augen, roter Mähne und Rauschebart. Der kam direkt aus dem Himalaya, wo er behauptete, sieben Jahre in einer Höhle gesessen zu haben. Er hatte einen riesen Haufen allerbesten Charras dabei, den er nun in Koh Phanghan unter die Leute brachte. Barbarossa amüsierte mich köstlich mit seinen Stories von Zauberern und internationalen Verschwörungen und anderen, höchst schrägen Überzeugungen, deshalb verbrachte ich Tage in seinem Bungalow. Da war unter anderem die Frage aufgetaucht, wie man denn mit einem ganzen Kilo Haschisch über die Todesstrafengrenze Bangkok marschieren konnte, deren Beantwortung mehrere Tage andauerte. Quintessenz war: „Ich bin unsichtbar.“
Wie gesagt, Barbarossa, der eigentlich Martin hieß, amüsierte mich königlich. Gleichzeitig beeindruckte er mich auch gewaltig, mit dem besten Hasch, das ich je geraucht hatte (das ist bis heute so), auch deshalb verbrachte ich Tage in seinem Bungalow.
Außerdem brauchte er einen Chillumpartner, denn er hatte ein sagenhaftes Konsumtempo, korrekter vielleicht, eine ausgeprägte Sucht. Da er nur schlecht Englisch sprach, aber gerne seine Weisheiten kund tat, war ich also in jeder Beziehung das passende Gegenstück. Weshalb er mich tagelang in seinem Bungalow duldete. Kurzum wir wurden Freunde, obwohl immer mit dem Gefälle der Bewunderung, die ich ihm, dem gut fünfzehn Jahre älteren Hippie, entgegenbrachte.
Was mich allerdings immer irritierte, das war seine ausgeprägte Vorliebe für Technomusik, die damals noch gar keinen rechten Namen besaß. Für mich war das aggressiver Krach und passte gar nicht zu meinen Vorstellungen von Strandidylle und Flower-Power. Dazu bedurfte es doch Sitas, Bongos und Akustikgitarren. Doch Martin belehrte mich eines Besseren.
Koh Phangan war damals das Exil der aus Goa vertriebenen Langzeithippies. Auch das erfuhr ich von Martin, der mir auch ein paar Szenegrößen vorstellte. Alles durchweg nette, aufgeschlossene Leute, die eines verband: Den Hang, sich bei Vollmondparties LSD zu verpassen und wie die Wahnsinnigen zu jener unerträglichen Stampfmusik zu tanzen. Dafür bot sich das erst seit kurzem für Touristen offene Inselchen geradezu an, denn es gab nur eine Polizeistation im Dorf beim Bootsanleger, aber von dort keine Straße herüber zum wilden Hadrin-Beach. Die Polizei konnte also nur mit dem Boot in die Bucht gelangen, eine Barkasse zu Wasser lassen um dann, unter dem Gejohle der genüsslich ihre Joints zu Ende rauchenden Leute zum Strand paddeln. Das konnte die Ordnungsmacht sich gleich sparen und tat es auch.
Mehrfach saß ich staunend am Rand von Tanzflächen und beobachtete, wie unter stumpfen Sprüchen wie `Ich bin so wild nach Deinem Erdbeermund´ die totale Ekstase auf der Tanzfläche ausbrach.
Martin behauptete immer, Goa sei da noch viel abgefahrener und ich solle ihn da mal am Ende der nächsten Saison treffen. Er war absolut überzeugt davon, dass der abrupte Abzug der gesamten Szene an verschiede andere Plätze, nach Thailand, den Philippinen und irgendwo in Südamerika, den vom Hippietourismus fett gewordenen Goanesen arges Kopfzerbrechen machte, so dass im nächsten Jahr dort wieder gefeiert werden könne. „Fährt doch sonst keiner hin, außer zum Feiern“, lachte er und zwinkerte mir schelmisch zu. Irgendwann reiste er ab.
Ich selbst ging nach Taiwan und tauchte danach, also im Herbst 1989, wieder in Koh Phangan auf. Um schließlich den Einstieg in diesen ungewöhnlichen Sound zu finden, als ich auf der Sylvesterparty unter Schwarzlicht derart tanzte, dass ich plötzlich Martin zu verstehen glaubte. Der hatte nämlich behauptet, dass es sich bei den ekstatischen Tänzen um die Wiederbelebung von schamanistischen Ritualen handele und das schien die treffendste Beschreibung für meinen ekstatischen Tanz.
Von jener Party auf der Klippe am Hadrin-Beach könnte ich berichten, denn in jener Nacht gab es ein großartiges Naturschauspiel. Während auf der einen Seite blutrot die Sonne ins Meer sank, stieg auf der gegenüberliegenden Seite der volle Mond in seinem blassen Rosa aus den Fluten. Aber wohl niemand trug einen Photoapparat bei sich in dieser lauen Nacht.
Wichtig war das Ergebnis, nämlich mein Entschluss, meine ursprüngliche Reiseroute gewaltig zu ändern. Zwar würde ich durchaus noch meinen bereits gebuchten Flug nach Nepal antreten, jedoch den dortigen Aufenthalt erheblich kürzen, um dann über Puschkar nach Goa zu reisen.
Wo ich tatsächlich am ersten Tag, als ich gerade ratlos in einem Strandcafe hockte, Martin traf. Mit ihm passierte eine Wiederholung des Programms von Koh Phangan: Er lud mich ein, bei ihm zu wohnen, in einem Laden namens Low Valley, der die Schaltzentrale der Szene zu sein schien. Und er führte mich in erlauchten Kreisen ein, so dass ich binnen kürzester Zeit auf Parties geladen war, die nicht von den Hotels im Süden für die Touristen, sondern von der Szene für die Szene veranstaltet wurden.
Am Ende der durchgetanzten Wochen, die ich sehr genossen habe, eröffnete mir Martin, dass es nun eine Party geben werde, an die ich noch lange denken würde. Damit auch wirklich ausschließlich die richtigen Leute dorthin kämen, erläuterte er, sei die nicht bei uns in der Nähe, sondern ganz oben am Nordzipfel Goas. Arambol hieße der Platz.
Es war gar nicht so leicht, nach Arambol zu gelangen, obwohl es der Karte nach kaum zehn Kilometer Luftlinie entfernt war. Aber es gab keine praktikable Busverbindung von den Stränden in der Mitte Goas zu denen im Norden. Das lag daran, dass der Fluss, der bei Chapora ins Meer mündet, den nördlichen Teil Goas vom Rest des Staates abschneidet. Hier, direkt an der Küste, schwillt der sonst gemächlich dahinfließende Strom während des Monsuns gewaltig an, so dass die aufwendige Errichtung einer Brücke bisher unterblieben ist. Somit gibt es keine Küstenstraße. Und deshalb kann man den Norden nur erreichen, indem man von den Stränden mit einem Bus zuerst in die Distrikthauptstadt Mapusa, dann von dort zur im Landesinneren liegenden Fähre über den Fluss, auf der keine Busse Platz haben, und schließlich mit einem letzten Bus nach Arambol vorstößt. Die so zustande kommenden knapp siebzig Kilometer mit dem Taxi zurückzulegen verbot sich (damals zumindest) ganz von selbst.
So war es zu erklären, dass die Region um Arambol noch relativ verschont geblieben war von den im Hippie-Eldorado Anjuna ausufernden Zuständen, wo Kurzzeittouristen bereits damit begonnen hatten, systematisch das spannungsfreie Verhältnis der gutmütigen Einheimischen und der irgendwie heimisch gewordenen Ausländerpopulation Stück für Stück zu demolieren, erklärte Martin. Warum er denn dann nicht in Arambol wohne, fragte ich und erhielt wieder diesen beschwörerisch stechenden Blick aus seinen wasserblauen Augen. „Hier spielt die Musik“, raunte er verschwörerisch.
Und damit hatte er mehr als recht. Nach dem Exodus des Vorvorjahres hatte sich in der darauffolgenden Saison die gesamte ausgelassene Gemeinde wieder in Goa eingefunden. Um im überschwänglichen Bewusstsein ihres Sieges eine Saison durchzutanzen, wie sie Goa kaum je zuvor erlebt hatte. Und nie wieder erleben würde. Geradezu im Idealverhältnis mischte sich in diesem Jahr die alteingesessene Szene mit Neuankömmlingen wie mir und assimilierte sie.
„Everybody get´s into it“, war die Losung mit universeller Durchschlagskraft. Und ich mitten drin. Dank Martin und dem zufälligen Umstand, dass ich die halbe Szene im Jahr zuvor in ihrem unfreiwilligen Exil, Koh Phangan, kennen gelernt hatte, als es durch die ungewöhnlichen Umstände kurzzeitig Schlupflöcher in der eingespielten Hierarchie gegeben hatte. So waren mir Adi, Acid-Erick, die Olli-Crowd, der unendlich dicke Schweizer Mandy und der wie ein Saddhu in Lendenschurz und Dreads umherstolzierende Joe mittlerweile vertraute Größen, die ich ehrfürchtig beäugte, wenn ich in Martins Schlepptau mit ihnen gemeinsam an einem Tisch sitzen durfte.
Aber an jenem nächsten Donnerstag würde die Musik in Arambol spielen. Zumindest für die Eingeweihten, zu denen ich mich nun offensichtlich endgültig zählen durfte.
Es war heiß geworden in den letzten Tagen, der Monsun drückte heran. Allgemein schien man übereingekommen, dass der Frühlingsanfang das Saisonende markieren würde. Mit zwei Parties: Eine fürs Volk, also diejenigen, die nicht mit dem harten Kern der Bewegung in Verbindung standen, in Anjuna. Und eben jene in Arambol für die Insider. Ich war zutiefst gerührt, denn alles, was Rang und Namen hatte, würde an diesem Abend dort auflegen: Antaro. Goa Jill. Olli.
Nie zuvor habe ich getanzt, wie wenn Antaro auflegte. Antaro, dem es mit Songs aus dem Computer, die er in beliebigem Tempo abspielen konnte, gelang, eine ganze, in irrsinniger Geschwindigkeit wirbelnde Tanzfläche synchron in eine zeitlupenartige Trance zu versetzen. Bis alle quasi gleichzeitig merkten, dass sie wie Marionetten an den unsichtbaren Fäden der Musik geführt wurden, um dann mit befreiendem Gejohle zurückzuschnellen in den erneut unbarmherzig stampfenden Rhythmus. `Das kollektive Bewusstsein generieren´ nannte Martin das und irgendwie, ja, genau so fühlte es sich an. Eine Art telepathisch-kollektive Ekstase.
„Wir können also mit einem Motorrad fahren oder am Strand entlang wandern“, fasste Martin unsere Optionen zusammen. Doch, natürlich könne man über den Fluss, wehrte er meinen Einwand ab, denn die Fischer von Chapora würden einen für kleines Geld mit ihren Baumstammbooten übersetzen. „Aber am Strand entlang, da können wir natürlich nicht so viele Sachen mitnehmen“, fügte er hinzu. Also ein Motorrad für ein paar Tage leihen.
Wir fanden schließlich eines, wahrscheinlich das letzte zu mietende Gefährt. Eine rote Rajdoot, die den Eindruck machte, als sei sie soeben aus hunderte Jahre alten Ersatzteilen zusammengeschraubt worden, in die sie sich, kaum um die nächste Ecke, auch gleich wieder auflösen würde. Martin erklärte völlig unerwartet, er selbst besitze weder Führerschein noch Fahrpraxis. Mit bangem Herzen drehte ich daraufhin ein paar Testrunden. Die Vorderbremse erwies sich als bloße Attrappe und bei der Hinteren schliff geräuschvoll, aber wirkungslos, Metall auf Metall. Auch die Kupplung schien bar jeder Funktion, doch das total ausgelatschte Getriebe nahm die Gänge auch so ohne größeren Protest entgegen. Einzig der Motor schien verlässlich, so dass ich schließlich zähneknirschend einwilligte, die Karre über die von Schlaglöchern übersäte Piste zu manövrieren. „Fährst halt vorsichtig, oder?“ meinte Martin in seinem unnachahmlichen Schweizerdeutsch und brüllte dann so laut sein „Shiva“, dass mir trotz des Motorengeräusches fast die Ohren abgefallen wären.
Unterwegs wurden wir in unregelmäßigen Abständen von kleinen Gruppen johlender Freaks überholt, die uns aufmunternd zuwinkten. Schien doch gar nicht so klein zu sein, wie ich es mir vorgestellt hatte, die Party. Wir waren noch nicht bei der Fähre angelangt, da ließ mich Martin auch schon anhalten, um ein Chillum zu rauchen. „Du hältst es wohl keine Stunde ohne aus“, lachte ich scherzhaft und erhielt ein schelmisches „Dreißig Minuten“ zur Antwort. Am Straßenrand sitzend fragte ich ihn, wie groß ich mir denn das Ganze vorzustellen hätte, worauf ich allerdings lediglich den vielsagenden Blauaugenblick und das unvermeidliche „Shiva!“ zur Antwort bekam. Er bemerkte meinen missbilligenden Gesichtsausdruck und lenkte ein. Tatsächlich wisse er es nicht, behauptete er. Aber sicher nicht allzu klein. „Die Szene ist groß und das ist ´n ganz special place, musst du wissen“, fing er an. „Da ist ein See, direkt am Strand, der wird aus sieben Quellen gespeist, oder?“
Ich zuckte mit den Achseln, das Märchen hatte er mir schonmal aufgetischt. Martin wusste aber nicht, dass ich seine Geschichte schon nachgeprüft hatte. Meine Teilnahmslosigkeit veranlasste ihn zu einem unwirschen Grunzen. Als wolle er mich hypnotisieren zog er die buschigen Brauen hoch und riss dabei die Augen weit auf. „Bei Vollmond kommt das Meer so nahe, dass der See und das Meer eine Einheit bilden“, flüsterte er. Deshalb gebe es in diesem See Fische, wie sie sonst nirgendwo auf der Welt existierten, halb Salz- und halb Süßwasserfisch. Wenn man sich regungslos ins Wasser lege, dann kämen sie an und wo immer man eine Wunde in der Haut hätte würden sie mit ihren kleinen Mündern daran herum nibbeln, bis die Wunde sauber sei. Außerdem münde eine der Quellen unter Wasser direkt in den See und dort trete eine weiße Tonerde aus. Heilerde. „Wenn du Hautprobleme hast, kannst du dich damit einreiben und von der Sonne trocknen lassen. – Weg! Shiva!“
Ich hatte zwar gelernt, dass Martins für mich oft unvorstellbare Geschichten sich gewöhnlich bewahrheiteten, aber diesmal hatte er den Bogen eindeutig überspannt. „Wirst schon sehen“, erwiderte er achselzuckend, „heute ist ja Vollmond.“
Nach einem weiteren Stop gelangten wir endlich in die Bucht von Arambol. Hunderte von Motorrädern säumten den abschüssigen Schotterweg und wir hatten Mühe irgendwo unseren Bock abzustellen. Links und rechts der Straße gab es einige aus Bambus und Palmen zusammengezimmerte Cafehütten, alle bis zum Bersten voll mit buntem Volk. Zielstrebig hielt Martin auf den Strand zu, der zwar, malerisch halbrund wie in den Katalogen, sehr hübsch war, aber zu meiner Enttäuschung nirgendwo einen See mit Wunderfischen offenbarte. Auch hier lungerten einige hundert Leute in kleinen Gruppen herum. Hier und da drang die allerneuste Technomusik an mein Ohr, wie ich sie nur von den Abendgelagen im Haus des Schweizers Mandy kannte. „Haben gut vorgesorgt“, kommentierte Martin und erklärte mir zum wiederholten Mal eindringlich, dass es diesen Sound noch gar nicht auf Vinyl, geschweige denn auf CD gebe. Aber für so ein Event wie den heutigen Abend, da würden vorher von den DJs Tapes unter die Leute gemischt, die richtigen Leute, damit man sich schon mal einhören könne in den Sound der nächsten Saison. „Was hier läuft, das wird fürs nächste Jahr in den Londoner Clubs getestet“, meinte er stolz und ich glaubte ihm kein Wort. (Bis mich ein Jahr später in Köln ein DJ auf die Kassette ansprach, die ich bei einer Geburtstagsfeier einer Freundin aufgelegt hatte. Woher ich denn die Songs habe, wollte er wissen, denn die seien brandneu und zumindest zum Teil nirgendwo zu bekommen, weil limitiert. Die Kassette hatte mir Martin zum Abschied geschenkt „Auch wenn du´s nicht zu schätzen weißt, oder?“ Barbarossa, wo bist du?)
Irgendwo am rechten Ende der Bucht hockten wir uns ein bisschen erhöht in die Klippen, sahen der sinkenden Sonne zu und rauchten zwei, drei Chillums. Was immer mit mir sein mochte, ich war übellaunig. Ich hatte einfach keine Lust mehr zum Feiern. In Gedanken versunken erklärte ich mir das damit, dass ich nach sechs Wochen unablässigen Feierns wahrscheinlich die Schnauze voll hatte. `It´s just another party´, dachte ich und freute mich erstmalig darauf, in ein paar Tagen im Flieger nach Hause zu sitzen. Das sagte ich auch und erklärte Martin, dass ich dort Chinesisch studieren würde, weil ich ja noch ein Leben lang an Stränden abhängen könne, aber sicherlich nicht ein Leben lang studieren. Mit ungläubigem Erstaunen starrte Martin mich an. Doch, versicherte ich gegen seine ärgerlich in Falten gelegte Stirn, immer nur feiern, das sei mir eindeutig zu wenig, so da nicht mehr dahinter stecke. Aber die von ihm behauptete Geschichte mit der internationalen Bewegung, dem ganzen Verschwörungskram, Magiern und all das Zeug, das würde ich ihm einfach nicht abkaufen. Sicher, gab ich zu, das sei schon irre mit dem Acid-Erick, der da jeden zweiten Abend kostenlos LSD verteile, aber dennoch, beweisen würde das nichts.
„LSD?“ lachte Martin und hielt sich den Bauch. „Hast Du ´ne Ahnung!“ Und wenn ich tatsächlich mehr fordere, setzte er fort, dann würde da auch mehr geschehen. Schließlich, das wisse ich doch, „Nothing is real, oder?“. Ich wurde fuchsig. „Wo ist er denn dann, dein sagenhafter See?“ keifte ich, „Hat sich wohl nicht materialisiert!“ Martin sprang sofort ruckartig auf und ich fürchtete schon, ich hätte ihn so sehr verärgert, dass er mich jetzt einfach stehen lassen würde. „Na los, dann komm!“ forderte er und stampfte los, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Wie ein aufgescheuchtes Huhn folgte ich ihm. Erst jetzt bemerkte ich, dass knapp über Meeresspiegelhöhe ein ausgetrampelter Pfad die Bucht am Hang entlang zur vordersten Spitze führte. Die Brandung klatschte schmatzend gegen rundgeschliffene Felsen, die etwas vorgelagert aus dem Wasser ragten. Vorne angekommen bog der Pfad nach rechts ab und führte weiter unten an einem Steilhang entlang, zur Linken Felsen und das Meer, das von der schon tiefstehenden Sonne in malerische Farben getaucht wurde.
Kaum hatte ich zu Martin aufgeschlossen, da nahm er das Gespräch wieder auf. „Glaubst mir wohl nicht recht, oder?“ Ich zuckte mit den Schultern, Martin grinste siegessicher mit funkelnden Augen. Noch ein paar Meter weiter folgten wir dem Pfad, der jetzt steil den vegetationslosen Hang hinauf führte, um dann einen Felsvorsprung zu erklimmen, an dessen Seite wir wieder hinabsteigen konnten. Schon von oben konnte man sehen, dass man auf diese Weise auf der anderen Seite wieder zu einem schmalen Stück Strand gelangte. Einige Leute lagerten auch hier, aber von einem See war nach wie vor nichts zu entdecken. Ich hielt dennoch geflissentlich den Mund.
Ich tat es Martin gleich und zog meine Schuhe aus, als wir den Strand erreichten, der mit starker Neigung zum Meer hin abfiel. Der gleißend weiße Sand war wunderbar feinkörnig und gar nicht klebrig, wie das in Anjuna der Fall war. Geschmeidig gab er dem Druck der Füße nach, auch auf der Höhe mit den ersten Wellenausläufern, wo wir schließlich wateten. Das Stück verlief ein-, zweihundert Meter schnurgerade, direkt auf eine Traube von Leuten zu, die sich auf dem oberen, trockenen Strandstück aufhielten. Bald erkannte ich, dass es mehrere hundert Köpfe waren, die da hervorragten, mehr konnte ich aufgrund des Höhenunterschiedes vom Wasser aus zunächst nicht sehen. Ein paar Leute tummelten sich ausgelassen im Meer.
Und dann trat der Steilhang zurück und gab endlich den Blick frei auf eine mit dichtem Grün bewachsene, halbrunde Bucht. Es war ein Atem beraubender Anblick. Im Schutz vor der sengenden Sonne auf der Ebene hatte sich hier, an den Hängen der vielleicht knapp zweihundert Meter breiten Bucht, ein intakter Urwald erhalten. Ein wahres Kleinod der Natur, das erkannte ich sofort. Mit einem Schauer der Begeisterung folgte mein Blick dem üppigen Wuchs nach oben. Ich jauchzte vor Freude. Martin nickte bestätigend, als sei der Platz sein Werk. „Shiva!“
Das letzte Stück des Hanges, der irgendwie an ein antikes Amphitheater erinnerte, war nahezu nicht mehr bewachsen, so steil fiel es ab. Große Felsformationen ragten dort oben in bizarren Formen aus dem erodierten Hang. Ein runder Brocken, den ich wegen des neben ihm stehenden einzelnen Baumes auf vielleicht sechs Meter Durchmesser schätzte, war mit einem riesigen `Om´ in Technofarben bemalt. Malerisch reflektierte sich das letzte Abendrot in seinen kunstvoll geschwungenen Linien. Darüber der bereits nächtlich schwarzblaue Himmel, vereinzelt schon mit Sternen gesprenkelt. Auf Höhe der Bucht angekommen gingen wir vom Meer weg den Strand hoch. Jetzt nahm ich auch das leise Wummern der Musik wahr.
Fast schon oben blieb mir die Spucke weg, denn ich erblickte den kleinen See. Still füllte er die Mitte der Bucht aus, sein hinterer Teil umsäumt von dichtem Blattwerk. Sein dem Meer zugewandtes Stück kam wie eine Zunge hinter einem großen Felsblock hervor und leckte am unbewachsenen Strand. Das ganze Naturschauspiel wirkte auf so erhabene Weise intakt, dass mir die Tränen in die Augen stiegen bei dem Gedanken, dass diese Schlucht die vielleicht letzte Nische war, in die sich der einst mächtige Urwald der südindischen Ebene verkrochen hatte. Zwischen dem See und dem Meer waren es zwar jetzt noch gut dreißig Meter, aber mit der ansteigenden Flut würde das Meer tatsächlich fast bis an den See reichen.
„Es sind jetzt noch fünf Quellen“, erläuterte Martin, der mit mir stehen geblieben war, „die diesen See speisen. Bis auf die eine entspringen sie dort oben irgendwo im Dickicht, eine ganz oben, bei dem heiligen Baum.“ Er deutete irgendwo in die Mitte des Grüns. „Wegen dem traut sich auch kein Einheimischer hier abzuholzen. Shiva!“ fügte er mit durch seine verschwörerisch aufgerissenen Augen unterstrichenen Nachdruck hinzu. „Sind ganz viele alte Lagerplätze noch im Dschungel. Alte Backöfen, Aussichtsplattformen und so. Kannst Du Dir morgen mal anschauen. Da haben schließlich auch die Beatles gewohnt, oder?“
Doch ich hörte kaum auf das, was er sagte, zu erschlagen war ich von der traumhaften Szenerie, ergänzt durch die etlichen kleinen Grüppchen sonnengebräunter Partygänger, die am Strand lagerten. Ein Jongleur mit asiatischem Gesichtsschnitt stand ganz in unserer Nähe und ließ massive Stahlkugeln über seine Handflächen und die Schulterpartie rollen, als sei sein Körper magnetisch. Kurz sah er zu uns herüber und warf mir ein Lächeln zu.
Links vom See, dort wo der Sandstrand aufhörte und der Wald begann, war auf einer kleinen Bühne das DJ-Pult aufgebaut. Davor, zum Meer hin bildeten mehr als mannshohe Boxentürme ein Karree, aus dessen Mitte ein etwa sechs Meter hoher Holzpflock aufragte. Von seiner Spitze ausgehend waren Seile zu allen Seiten gespannt, so dass auf diese Weise eine runde Tanzfläche abgegrenzt wurde. Das Ganze wirkte wie die Unterkonstruktion eines Zirkuszeltes. An den Leinen hingen Schwarzlichtbirnen, deren diffuses Licht sich schon jetzt im Dämmerlicht vor dem dunklen Wald in violetten Blasen abzeichnete.
„Da“, rief Martin plötzlich aus, deutete in eine Richtung und preschte vorwärts. Ich folgte ihm auf den Fersen durch die dichter werdende Menschenmenge. „Wie hast du die denn entdeckt?“ rief ich ihm erstaunt hinterher, als ich erkannte, dass er geradewegs auf Mandy und ein paar andere Gesichter, die ich flüchtig kannte, zusteuerte. „Das hier ist ein magischer Ort“, zischte mir Martin daraufhin zu. „Hier findet man, was man sucht. Shiva!“
Es hätte so schön sein müssen. Der Ort, die ausgelassene Atmosphäre, die Aussicht auf eine wunderbare Party. Trübsinnig hockte ich bei den anderen und beobachtete, wie das bunte Völkchen freudig erregt sich darauf vorbereitete an diesem angenehm kühlen Abend und an diesem zweifelsfrei genialen Platz eine denkwürdige Party zu feiern. Ich sah, wie um uns her Lagerfeuer aufleuchteten, bemerkte, wie der Sound lauter gedreht und wieder leiser gestellt wurde, als wolle man mitteilen, dass alle Systeme einwandfrei arbeiteten. Wie zur Antwort rann jedesmal ein Raunen durch die Menge. Hier und da wurde gejohlt und gepfiffen.
Und ich fand´s beschissen. Ein Gefühl belangloser Leere stieg unaufhaltsam in mir auf. Ich fand die Leute langweilig und nichtssagend, trotz all ihrer Stories und der maximal ausgekosteten Lebensläufe. Ich fand, dass irgendwie das Potential, das hier versammelt war, zu mehr berufen sein sollte, als sich einfach nur kräftig zu amüsieren und sich dann, ohne weiteren Sinn und Zweck, in alle Winde zu zerstreuen. Ich fand, das hier müssten die Mitglieder der internationalen Hippieverschwörung sein, die geheime Keimzelle der Organisation zur Rettung der Menschlichkeit und nicht einfach nur zufällige, auf oberflächliches Entertainment hoffende Gäste. Ein DJ müsste die tranceartigen Tänzer mit hypnotischer Stimme konditionieren, eine untrennbare Gemeinschaft formen. Nicht bloß: kollektives Bewusstsein – juchhu! – und weg. Das konnte doch viel mehr, wenn Menschen sich unter Drogeneinfluss dem peitschenden Rhythmus hingaben, da waren sie offen für Ideen, Hoffnungen und Träume. Sah das denn niemand?
Mit Wehmut dachte ich zurück an Norbert und den wunderschön romantischen Gedanken an seinen geheimen Lehrplan, der die Welt in eine bessere Zukunft geleiten würde. Sauer lachte ich auf, als mir klar wurde, dass ich tatsächlich einmal geneigt war, solchen Schwachsinn zu glauben. „Kindskopf“, stieß ich ärgerlich hervor, aber niemand schien mich zu beachten. `Wer mit sechzehn kein Marxist ist, hat kein Herz. Und wer mit fünfundzwanzig noch einer ist, hat keinen Verstand´, hatte mir ein Juso (ein Juso!) mal bei einer Podiumsdiskussion an den Kopf geknallt. Sicher ein Plagiat, aber Recht hatte er trotzdem. Beim Gedanken an Martin, der gerade wieder mal ein Chillum anzündete, und dass ich fast auch seinem Unsinn von angeblichen Magiern und Hexen sogar mehr als nur ein klein wenig Glauben geschenkt hatte, schüttelte ich den Kopf und sprang abrupt auf. „Bis später“, murmelte ich noch und machte mich davon.
Ich sah mich um. Um in den Urwald zu laufen war es schon zu dunkel. Aber am vorderen rechten Hang der Bucht stand auf etwa halber Höhe eine kleine Hütte, aus deren Fenster Kerzenlicht schien. Bis dorthin war das Grün nicht vorgedrungen, so dass ich mir vorstellte, trotz der Dunkelheit einen Weg hinauf zu finden, denn ich wollte mir das Spektakel mal von oben ansehen. Vielleicht konnte ich aus der Distanz meine Unzufriedenheit irgendwie abschütteln. Schnaubend erreichte ich das kaum drei mal drei Meter große Häuschen, in dem ein paar Schatten geschäftig hin und her huschten. Ich fühlte mich irgendwie als Eindringling in jemandes Privatsphäre und schlich deshalb links an der Hütte vorbei und von dort weiter den Berg hoch. Bis ich einige zehn Meter hinter der Hütte schließlich aufgeben musste, weil es einfach zu steil wurde. Dort stand ich wie Käptain Ahab in der auffrischenden Briese und ließ den Blick schweifen. Links das endlose Meer, jetzt eine einzige pechschwarze Masse. Rechts vor mir das Schwarzgrün des Dschungels. Unter mir die Hütte, von der der süße Duft von Räucherstäbchen heranwehte. Dahinter der Strand mit seinen unzähligen wieselnden Schatten, scharfen Rufen, qualmenden Lagerfeuern, dem Schwarzlicht und über allem der wie ein fernes Donnergrollen wummernde Sound. Noch nichts, was zum Tanzen animiert hätte, eher eine Pausenschleife direkt aus dem Synthesizer, dazu geschaffen, die Anwesenden langsam auf die kommende Party einzustimmen.
Plötzlich johlte die Menge und im selben Moment bemerkte ich, wie der pralle Mond über das Halbrund der Arena trat. Die gesamte Tanzfläche erhielt sogleich scharfe Konturen durch seinen überraschend starken Schein. Man erkannte deutlich Einzelheiten. Die Spitzen der Bäume, sogar das Kräuseln der Wellen leuchtete auf in seinem kraftvollen Gelb, das allem etwas sagenhaft Unwirkliches verlieh. Vielleicht der beste Platz und die beste Party aller Zeiten. Zumindest die Beste auf dem Planeten an diesem Abend, da war ich mir sicher. Und ich mitten dabei!
Und ich fand´s beschissen. Lachte abfällig über meine sonderbare Stimmung. Schwor mir, dass ich künftig mehr aus meinem Leben machen würde, als bloß abzufeiern. Nicht, weil es etwas daran auszusetzen gab, sein Leben in Saus und Braus, ohne Halt und Anker durchzubrausen. Nein, es gab keinen kategorischen Imperativ, keine moralische Verpflichtung und erst recht keine Sünde. Einzig deshalb, weil mir das nicht reichte. Irgendeine Sehnsucht, die mit dem verklärten Glauben an internationale Verschwörungen hätte gestorben sein sollen, blieb hartnäckig unbefriedigt. Statt aber weiterhin auf solchen abgehobenen Quatsch zu hoffen, würde ich nach meiner Rückkehr fleißig Chinesisch studieren, um wirklich einen Beitrag zu einer besseren Zukunft leisten zu können. Jawohl! Irgendeiner musste ja mit den Chinesen über etwas anderes reden, als über´s Geschäft. Wenn schon nicht in göttlicher oder wenigstens geheimer, so eben in selbsternannter Mission würde ich ...
Ich fiel fast hintenüber als ein paar Meter vor mir, aber unmittelbar auf meiner Höhe, ein Feuerwerkskörper explodierte, eine Rakete, die ein paar Funken blaues Licht zerstäubte. Eine zweite und dritte folgten, dann eine ganze Serie, alle offenbar unten vor dem Häuschen gezündet. Vom Strand her wurde gejohlt und geklatscht. Dann herrschte einen sonderbar langen Moment gebannte Stille und genau in dem Moment, da mir auffiel, dass auch die hintergründige Musik aufgehört hatte, setzte sie mit gewaltigem Bass wieder ein, dass der Boden unter meinen Füßen vibrierte. Das Halbrund der Bucht bildete eine phantastische Akustik.
Und mir war es echt schnuppe. Ärgerlich stellte ich fest, dass ich mich verbissen hatte in meiner üblen Laune. Wäre da nicht Martin, ich wäre am liebsten gleich zurück nach Anjuna gefahren. Bei dem Gedanken an Martin begann ich sogleich runter zu steigen, denn in die Menschenmenge war seit Beginn der Musik deutlich Bewegung gekommen. Ich hatte Sorge, ihn nicht mehr zu finden und dadurch die Belanglosigkeit dieses Abends ins Unerträgliche zu steigern.
Als ich dicht an dem Eingang der Hütte vorbei kam, erblickte ich eine schemenhafte Gestalt am Eingang, die mich mit rudernden Armbewegungen heranwinkte. Ein, zwei Schritte auf sie zu und ich erkannte eine freundlich blickende Frau mit wehenden, fast weißen Haaren. Sie bedeutete mir einzutreten. Ohne mich über irgendwas zu wundern, auch nicht darüber, was eine gut und gern Siebzigjährige hier mitten in der Nacht verloren hatte, steckte ich neugierig den Kopf durch die niedrige Tür und blickte in den von unzähligen Kerzen erleuchteten Raum. Unter einem sonnengelben, auf weinrotem, samtenen Stoff genähten `Ohm´ saß Acid-Erick im Schneidersitz auf einem Kissen und schenkte an zwei vor ihm hockende Leute seinen heißbegehrten Punsch aus. Ich war überrascht und blieb wie angewurzelt stehen. Mit der Hand wedelte er mich herbei und sah mich fragend an. „No Limits today“, hörte ich ihn sagen, ohne mir klar zu werden, ob das eine Frage oder eine Feststellung war. Was soll´s, dachte ich und nickte einfach. Wortlos reichte Erick mir einen kleinen Becher, den ich hastig hinunterstürzte und ihm zurückgab. Seine Hand wedelte mich schon wieder weg, noch bevor ich etwas sagen konnte.
Kaum war ich vor die Tür getreten, da traute ich meinen Augen kaum. Vom Eingang der Hütte bis hinunter zum leergefegten Strand stand jetzt eine Schlange. Nahezu jeder schien sich hier fein säuberlich anzustellen. Alle offenbar in dem sicheren Wissen, dass es in der Hütte etwas Begehrenswertes geben würde. Nicht wie bei den Parties vorher, bei denen Erick irgendwo im Hintergrund eine Zeit lang verschwiegen seinen Punsch verteilte, so dass die nicht Eingeweihten das gar nicht erst bemerkten. Nein, hier, heute Abend wurde mit offenen Karten gespielt. Und dann wurde ich mit einem kurzen Blick den Strand entlang gewahr, dass das angestiegene Meer an die Klippen klatschend jetzt den schmalen Rückweg versperrte und damit auch jeden möglichen Anfahrtsweg für die Polizei. Und, ja, jetzt sah ich auch, dass tatsächlich See und Meer zu einer einzigen Fläche verschmolzen waren. Fand mich ohne es recht zu bemerken schon bis zur Hüfte im See oder Meer, denn mein Ziel, die Tanzfläche, lag nun auf der anderen Seite. Der Bassbeat erfasste mich, saugte mich wie ein Strudel dorthin und hinein in einen Rausch, der sich von allem unterschied, was ich je zuvor erlebt hatte.
Ich wurde mir nach einer zeitlosen Weile exstatischer Explosionen bewusst, dass ich wie ein Geisteskranker unter einer Masse Geisteskranker in wahnwitziger Geschwindigkeit meine Glieder in alle Richtungen zappeln ließ. Meine Glieder, die mit der Musik und allen anderen verbunden zu sein schienen. Nahezu mühelos vollführte ich die aberwitzigsten Kapriolen und ging auf in diesem Gefühl der Einheit mit der gesamten Tanzfläche. Unity! Nicht bloß mit den menschlichen Akteuren, sondern mit jeder Nuance der sphärischen Musik, jedem aufgewirbelten Sandkorn, den Fischen im See, dessen Oberfläche sich rhythmisch kräuselte, der Bucht, dem Meer, dem taghell strahlenden Mond, mir selbst. Totale Ekstase.
Und gleichzeitig, ungeachtet des fantastischen Gefühls, rumorte es in mir. Nörgelte, dass das zwar sehr schön, aber letztlich doch nichtssagend, unproduktiv und irgendwie nur für´s gemeine Volk sei. Ich peste währenddessen in Kreisen um den Mittelpfahl, in einer Geschwindigkeit, dass ich mit jemand zusammenstoßen musste. Und tat es nicht, weil entweder ich im Affenzahn einen Haken schlug oder die Tanzfläche wie ein organisches Gebilde zur Seite wogte und damit den Raum schuf, in den ich strömen konnte, mich dabei unablässig um mich selbst drehend. Und wusste, dass all das nicht wirklich passieren konnte, wie ein Planet in einer einzigen Pirouette um den Pfahl und um sich selbst zu kreisen. Dass ich mir nur einbildete, so schnell zu sein, dass ich wie die indischen Tänzerinnen mit ihren vibrierenden Beinen kaum mehr mit den Zehenspitzen den Boden berührte. Und ahnte, dass doch genau das war.
Ich erinnerte mich an Parties, blitzartig, wo ich den Eindruck hatte, irgendjemand sei mit Lichtgeschwindigkeit an mir vorbeigezischt und kehrte wie ein Komet auf seiner Bahn zurück, wieder und wieder, wie ich es jetzt tat. Als sei das Tor zu einer anderen, weniger stofflichen Welt einen Spaltbreit aufgestoßen, eine Welt, in der Schwerkraft und Zeit anderen Gesetzen gehorchten.
Und fand´s beschissen. Fragte mich in all dem unglaublichen Hin und Her, zu was das denn nun nütze sei. Höhnte, dass ich nicht mal in der Lage sei, meinen Körper selbst zu steuern, geschweige denn mein Leben.
Höhnte ich das, oder war das jemand anders, der da sprach? In meinem Kopf? Ich peste in einer elliptischen Schraube zum DJ Pult, glaubte, der spreche in ein Mikro, wie bei jener wunderlichen Erfahrung mit der Ausweiskontrolle. Konnte mich für Sekunden dort ohne Drehung halten, wie ein Pendel am Punkt seines weitesten Ausschlages, ohne jedoch etwas zu erkennen und war schon wieder eingesogen von dem kreiselnden Strudel. „Tanz auf dem Blocksberg“, lachte ich laut, dachte grölend an Martin und seine Hexen, Norbert, die Welt und ich, hier, jauchzend im Kreise.
Und wollte es nicht. Wollte nicht immer wieder auf der gleichen Bahn sinnlos um die eigene Achse rotieren, wollte Richtung, Steuerbarkeit. Versuchte mit Macht, mich dem Kreiseln zu entziehen, schaffte es einmal bis an den Rand der Tanzfläche, widerstand einige wenige Sekunden dem Sog und, als sei das Zentrum aller Schwerkraft der Pfahl in der Mitte, wirbelte wieder wie ein Derwisch um mich selbst.
`The Earth is moving so are we´, das hatte Martin mal gesagt und `It is a question of direction´, hallte es hinterher und, verdammt, das war in meinem Kopf! Durch die Boxen, real oder Trip, da war eine verdammte zweite Stimme in meinem Kopf. Eine Frauenstimme noch dazu, durchaus angenehm im Klang, unwillkürlich assoziiert mit jener Frau vor der Hütte. Schleeweiße Haare. Was machte so jemand hier in einer solchen Nacht, wenn es keine Hexe war? `Schamanin´, korrigierte sie und es kicherte in meinem Kopf und es höhnte, dass ich nicht mal in der Lage sei, meinen Willen so lange zu fokussieren, um auch nur zu dem Haus zu gelangen, um dort das Geheimnis herauszufinden. Und dennoch, die Stimme lachte höhnisch, meinte ich, ich sei ein freier Mensch. Ein angenehmes Gekicher folgte, während ich wie schwerelos Runde um Runde kreiselte, ein Gekicher von dem ich bald merkte, dass es mein eigenes war.
`Wer will schon entscheiden, was ist meins und deins, was real und was nicht´, erklang wieder die Stimme, diesmal näher, eindringlicher, lauter. „Das muss aufhören“, schrie ich, ohne dass mich irgendwie dabei die Angst gepackt hätte, irre zu sein. Ganz im Gegenteil, völlig gelassen erklärte ich mir, dass ich mich an der Grenze der körperlichen Möglichkeiten um mich selbst drehte, dass ich Selbstgespräche führte und dass ich wahrscheinlich wirklich verrückt würde, wenn ich weiterhin annehmen wollte, dass es sich um eine telepatische Stimme handelte, die tatsächlich von Außen mit mir kommunizierte. Dass ich wohl schon irre war, weil es mir tatsächlich auch im dritten Anlauf nicht gelungen war, die Tanzfläche zu verlassen und mich all das nicht im Geringsten störte. `Eben´, höhnte es, `wie willst du da die Welt verändern, du Narr!´ „Du Narr“, das hatte ich mit meiner ureigensten Stimme lauthals herausgebrüllt, synchron zum Gedanken mit der Stimme der Frau, und nur eines war klar, ich musste jetzt die Gewalt über mich zurückerhalten, musste runter von der wirbelnden Tanzfläche, musste mich befreien von den marionettenhaften Fäden, die mich willenlos im Kreise drehen ließen. Schaffte ein paar Schritte weg, ließ mich in den Sand fallen und stemmte mich gegen die magische Anziehungskraft, die in Wellen an mir zerrte, um mich zurückzuholen in jenen göttlichen Tanz. Lachte lauthals über das Bild, das ich anderen wohl böte, die sich `Guck mal, da ist wieder einer durchgeknallt´ zutuschelten. Sprang auf, rannte Richtung Meer, wurde zurück gezogen von magischer Macht und erkannte schließlich, bereits wieder im Kreise wirbelnd, die Hütte! Zwang den hämmernden Sound, langsamer zu werden. Stand felsenfest in der Mitte, direkt am magischen Pfahl und ließ den Sound so langsam werden, dass alle rings umher in Zeitlupe verfielen, einen Sekundenbruchteil nur. Das konnte nicht sein! Ich war irre, denn es musste der DJ sein, der den Sound verlangsamte und ich reagierte, nicht umgekehrt. Das Raum-Zeit-Gefüge löste sich auf, schaffte ich zu denken, ungerührt von dem drohenden Irrsinn, den das unweigerlich bedeutete. Dann: `In dieser Verlangsamung liegt deine Chance´, dachte sie in meinem Kopf, Don Juans `Die Welt anhalten´, das bot die Lücke, den Faden zu zerreißen und im Laufschritt geradewegs von der Tanzfläche zu stürmen.
Und letztlich, mit äußerster Willenanstrengung, gelangte ich doch irgendwie bis vor den Eingang der Hütte. Und bei allen diesen Ereignissen immer das seltsam klare Bewusstsein, dass das alles nur ein Trip war, nicht real, dass das vorübergehen wird und jene eigentümliche Gelassenheit, dass einfach nichts passieren kann. Und ein unbeschreibliches körperliches Wohlbefinden, kraftstrotzend, nahezu losgelöst von den lästigen Banden der Schwerkraft und nun Eins mit der Stimme, die voll Überschwang kund tat, sehr zufrieden mit mir zu sein, weil ich ja wirklich mehr wolle, als mich bloß zu amüsieren. `Tritt ein und weck die Wächter nicht´. Es war zu deutlich in meinem Kopf, hundertprozentig nicht aus den Boxen kommend und garantiert nicht mein Gedanke, als dass ich nicht nach einem unterdrückten Lacher sofort den Vorhang zur Seite geschoben hätte.
Mit Pulsschlag synchron zur tosenden Musik trat ich ein und erschrak, denn tatsächlich, da lagen zwei Gestalten in all dem Tohuwabohu seelenruhig schlafend vor dem verwaisten Kissen. Die Wächter. Der Gedanke war klar und eindeutig meiner. Vorsichtig stieg ich über sie und kniete mich mit dem Gesicht zum samtenen Vorhang auf das Kissen. Eine Weile verharrte ich so und versuchte meinen keuchenden Atem zu beruhigen. Du wusstest vorher von den Wächtern, dachte ich. Die Frauenstimme schien verschwunden.
Das nächste, was mir auffiel, waren die zwei dünnen Kerzen, die links und rechts von mir in je einer Ecke der stoffbehangenen Wand ohne jedes Flackern brannten. Sonderbar, es waren die üblichen, dünnen indischen Stearinkerzen, die kaum länger als eine Stunde brauchten, um ganz herunterzubrennen. Aber diese beiden, die waren zweifelsfrei frisch angezündet. `Für dich´, sagte die Frauenstimme. Doch bevor ich den Gedanken weiter verfolgen konnte, bevor ich mir die Kerzen genauer ansehen konnte, um eine Täuschung auszuschließen, fiel mein Blick auf die Bilder, die vor mir an der Wand lehnten. Ein Ganesh und ein Shiva, beide übernatürlich funkelnd, dreidimensional und wie lebendig. Intuitiv nahm ich das handliche Ganeshbild und hielt es direkt vor mein Gesicht. Es war der selbe, wie ihn mir der Verrückte im Ramdas gezeigt hatte, der mit nur zwei Armen. Aber dieser hier war kein billiger Schwarz-Weiss-Druck, sondern ein Foto und, einwandfrei, ein Raumfahrer blickte mich an. Der Rüssel, natürlich war das der Schlauch einer Atemmaske. Warum sollte er sonst unter der Achselhöhle verschwinden? Und die Ohren! Glasklar, das waren die Seitenschutze der Maske, und, glasklar, das war ein irrer Gedanke. Mir schlug das Herz bis zum Hals, als ich den Raumfahrer wieder vorsichtig an seinen Platz zurück stellte.
Dann nahm ich das Shivabild, das erheblich größer und in seinem einfachen Holzrahmen eigentümlich schwer war. Auf ihm war nur der Kopf und die Brustpartie abgebildet wie bei der Büste eines römischen Aristokraten. In einer offenherzigen Geste streckte er dem Betrachter seine rechte Handfläche entgegen, auf der ein purpurnes Om zu pulsieren schien. In seiner Linken hielt er stolz eine mit funkelnden Edelsteinen verzierte, dreizackige Trishul. Fehlte nur der Pferdefuß, dachte ich und lachte laut, hielt mich aber sogleich zurück wegen der Wächter, nach denen ich mich besorgt umsah.
Ich hätte damals nicht mal mit Sicherheit sagen können, dass es sich um Shiva handelte, denn der Mann auf dem Bild hatte einen Vollbart, was ich bei anderen Shiva-Darstellungen zuvor noch nicht gesehen hatte. Dennoch wusste ich intuitiv, das ist Shiva. Trotz des Bartes wirkte der Mund wie der einer Frau. Beim zweiten Hinsehen wurde es überdeutlich: Auch den geschwungenen Augenbrauen und den langen Wimpern nach das Bildnis einer Frau, der man nachträglich einen Bart angemalt hatte. Die Augen blickten gütig, als wollten sie einem gleich zuzwinkern und beruhigen, irgendwie wie der liebevolle Blick der Mutter auf ihr Baby. Auf der Stirn hatte er (sie?) drei weiße Querstreifen, wie ich es in Nepal mal bei Saddhus gesehen hatte. Und in leuchtendem gelb-orange prangte so etwas wie das dritte Auge in der Mitte, nur war es verschlossen und um neunzig Grad gedreht. Das letzte Stück des mit Ketten und einer Kobra behangenen Oberkörpers blendete wie körperlos zu ihnen über. Irgendwie schwebte der Torso über Bergen am unteren Bildrand. Aber auch im Hintergrund waren Berge zu sehen, so dass der Eindruck entstand, dass hier die Perspektiven nicht recht stimmten. Noch dadurch verstärkt, dass vor seinem buschigen Haardutt eine schmale Mondsichel schwebte.
An der Spitze des Dutts erkannte ich den Kopf einer Frau, aus deren frohlockenden Mund sich ein Wasserstrahl in hohem Bogen nach links ergoss. Mit angestrengt zusammengekniffenen Augen folgte ich seinem Lauf nach unten, wo er nahtlos in die Schlange überging, die sich um den Hals der Figur wandt und sich dann selbst auflöste in einem See, der wiederum in die unteren Berge überblendete. Von dort, wieder als Schlange, rechts den Hals hinaufstieg, um letztlich wieder aus dem Mund der Frau ... Wie gebannt folgte ich diesem faszinierenden Kreislauf, der mir vorkam, wie die Wahrheit allen Seins.
Es dauerte eine Weile, bis ich mich von der Faszination dieses Zusammenspiels lösen konnte, dann erklang wieder die Stimme, diesmal mit einem hallenden Bass im Hintergrund, als spreche sie aus einer Höhle: `Wie alles sich zum Ganzen webt, Eins in dem anderen wirkt und lebt! Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen, Mit sagenduftenden Schwingen Vom Himmel durch die Erde dringen, Harmonisch all das All durchklingen.´
Mir war voll bewusst, dass die Frau aus Faust zitierte, den ich ja aus der Schule kannte. Und wahrlich, so musste der Mann gefühlt haben! Also bildete ich mir die Stimme nur ein! Und alles nichts als nur ein Trip, eben, ach, ein Schauspiel nur!
Was dann geschah ist vielleicht im wahrsten Sinne unbeschreiblich.
Ich hatte den misslichen Gedanken kaum zu Ende gedacht, da öffnete sich das Auge auf der Stirn und ich war einen Sekundenbruchteil geblendet oder vielleicht hatte ich nur vor Schreck die Augen geschlossen. Als ich sie wieder öffnete blickte ich in mein eigenes Gesicht. Ich war Shiva, der mich ansah. Eine unendliche Sekunde wurde ich gewahr, wie ich den Lauf des Wassers und der Welt in ihrer anmutigen Balance hielt, mit der inbrünstigen Hingabe des Jongleurs, der ganz im Reigen der Bewegung aufgeht und dennoch einen kurzen Blick auf einen gebannten Zuschauer wirft, mich. Unmöglich, dachte ich, und schon flackerte mein Bewusstsein hin und her zwischen der einen und der anderen Position.
Dann riss etwas in meinem Inneren und ich fällte folgende Entscheidung: Ich bin Shiva. Ist mir scheiß egal, ob das verrückt ist. Berufen oder bekloppt. Das Gefühl war einfach zu überwältigend, zu real, um es mir nichts, dir nichts abzutun. Wenn alles ohnehin nur in meinem Kopf stattfand, dann gab es keinen Grund nicht diese wunderbar romantische Position zu wählen. Sollte kommen, was da wolle. Ich bin Shiva!
Dem ruckartigen Impuls eines Gedankens folgend ergriff ich das Bild und klemmte es mir unter den Arm, außerdem nahm ich einen Stock, der in der Ecke stand, sprang mit einem Satz über die Wächter und stürmte aus der Hütte. Den Berg hinauf. Hoch und höher ohne zu stolpern, wohl wissend, das dieser Teil des Berges zu steil war, ihn freihändig zu erklimmen. Aber ich bin Shiva!
Blieb kurz vor dem Gipfel stehen, weil mich sowohl das besorgte Gezeter der Frau als auch mein vormals Ich-Bewusstsein einholte, das doch nichts weiter war, als ein unendlich kleiner Teil meiner Göttlichkeit. Beide äußerten übereinstimmend, dass es kaum ein guter Gedanke sein konnte, so bepackt irgendwohin zu laufen, um was zu tun?
Grollend drehte ich mich um und hob, mir meiner unbeschränkten Macht bewusst, wie zur Drohung den Stock, der gar kein Stock war. Ich hatte ihn in seiner Mitte gegriffen und kaum hatte ich ihn waagrecht in die Luft gestoßen, da fing er an zu schwingen, oder das gesamte Universum begann zu schwingen um den Stock herum, mit mir als dem Zentrum. Wie die Schraube der DNS gewunden, eine Spirale, war das Ding in meiner Hand, das ich mir jetzt aus der Nähe betrachtete. Es wirkte, wie eine Wurzel, aber dazu war es zu symmetrisch. Dennoch, die Oberfläche war zweifelsfrei organischen Ursprungs. Wieder stieß ich den Zauberstab in die Schwärze des Himmels und wieder schrak ich zurück vor der geballten Ladung Energie, die sogleich durch ihn und meinen Körper zu pulsieren schien. Ja, ich war Shiva mit dem Zepter der Unendlichkeit in meiner Hand.
Wozu das denn nütze sei, das Zepter, höhnte die weibliche Stimme und mahnte mich eindringlich herunterzukommen. Ein kurzer Blick an mir herab tat ein Übriges, denn was ich da sah, das sah verdammt nach Tobias Tripler aus. Unsicher stieg ich herab, fiel einmal fast bei dem Gedanken, wie steil das Gelände eigentlich war, auf dem ich da herumturnte. Entschloss mich daraufhin zurückzufallen in jenes überwältigende Gefühl der Göttlichkeit und preschte im Laufschritt an der Hütte vorbei bis an den Strand.
Es dämmerte. Auch hier unten, wo das Licht der Tanzfläche nicht hinschien, konnte man bereits die ersten Farbnuancen erkennen. Etwas verloren stand ich weiter unten direkt am Meer und grübelte über mein Dilemma. Einerseits, das war unbestreitbar, ich war Tobias Tripler. Und gleichzeitig Gott, das Universum und der ganze Rest. Gott in mir, ich in Gott. Das würde heikel werden, wenn ich das bis zum Morgen nicht klar bekäme. Es war aber absolut undenkbar dies unbeschreibliche Gefühl einfach so als bloßen Trip ad acta zu legen, dazu war es einfach zu gut. Da ginge ich lieber in die Klapse oder als Saddhu in eine Höhle. Oder ich ginge kaputt. Martin!
Ja, ihn würde ich jetzt suchen. Der sollte mir sagen, ob ihm und seinen Magiern dazu was einfiele.
„Wo hast du denn die Sachen her“, drang mir, Tobias, eine forsche Stimme durch Mark und Bein und wie aus dem Nichts materialisierte sich Martin neben mir. Fest sah ich, Shiva, ihm in die Augen. „Martin, hör mir zu“, sprach ich gebieterisch, woraufhin er, mich von oben bis unten musternd, bedächtig nickte. „Ich habe ein Problem: Ich bin Shiva!“
Jede Reaktion hatte ich erwartet. Schallendes Gelächter. Eine Ohrfeige. Einen Vortrag. Stattdessen legte Martin seinen Kopf leicht schief, kniff die Augen zusammen und musterte mich erneut. Sein durchdringender Blick vereinte ein schelmenhaftes Lächeln mit einer Drohung, Kumpanei mit Distanz.
Endlich öffnete er den Mund. „Ja, du bist Shiva“, sprach er tonlos und ohne den Beiklang eines Scherzes. In mir drin brach eine Sintflut der Emotionen los. Die aber sogleich wieder verebbte, denn Martin fügte mit eindringlichem Blick hinzu: „Du hast nur eins vergessen: Ich auch!“
Ja. Ja, ja, ja! Jajaja! Das war es. Das war die Erleuchtung. Banane ist groß!
Ich hatte keine Fragen mehr, wollte Martin um den Hals fallen und damit mir selbst. Das war es, was ich gesucht hatte und es bedurfte keiner Erläuterung, keines weiteren Gedankens. Ja. Ja, ja, ja!
Doch Martin stieß mich unsacht zurück. „Und jetzt sagst du mir sofort, wo du die Sachen da her hast“ kommandierte er.
„Aus dem Haus“, antwortete ich kleinlaut.
„Hast du dir die überhaupt mal angeguckt? Das hier“, er riss das Bild unter meinem Arm weg und hielt es mir vor´s Gesicht, „das ist nämlich ein Original. Was glaubst du, wer so was besitzt? Ob der vielleicht auch weiß, was man mit so einem Zauberstab alles anstellen kann? Und was glaubst du, ob der verdammt noch mal einverstanden damit ist, das du hier endlich mal raffst, was wirklich abgeht und dann gleich ´n Egotrip abfährst und über alle Berge willst?“
Betroffen betrachtete ich das Bildnis, das eindeutig ein sehr altes, handgemaltes Kunstwerk von unschätzbarem Wert war. Auch mein scheeler Seitenblick auf den sonderbaren Stock, den ich achtlos hatte in den Sand fallen lassen, bestätigte, dass, wozu auch immer er diente, er nicht für mich gemacht war. Zu mühsam und hingebungsvoll musste an ihm gearbeitet worden sein, um allein seine exakt geometrische Form aus Naturmaterialien herzustellen.
„Was jetzt?“ fragte ich ratlos.
„Sag du´s mir“, gab Martin zurück, „du bist doch Shiva.“ Und das klang, als meinte er das ernst.
„Okay. Ich werde den Stock im Meer reinigen, während Du das Bild bewachst und dann bringe ich alles zurück, bevor jemand was merkt.“ Martin nickte bestätigend.
Mit großen Sprüngen stürzte ich mich ins erfrischende Meer. Ließ mich auf die Knie fallen, hob den Stock über meinen Kopf und tauchte ihn ins kristallklare Wasser, einige Male. Ich fühlte mich großartig. Meer und ich, wir schienen eins, ich war ein jugendlicher Gott, erfüllt von Leichtsinn und dankbar, dass ich meinen Fehler korrigieren durfte. Ganz fest stellte ich mir vor, dass ich keinen Schaden nehmen würde, dass niemand sauer sein würde, niemand außer Martin etwas bemerken würde von meinen nächtlichen Aktivitäten.
Etwas Glitschiges, ein Fisch vielleicht, streifte mich am Unterschenkel wie eine Warnung, nicht zu lange zu verweilen. Pudelnass hastete ich hoch zur Hütte, denn ich wollte fertig sein, bevor es richtig hell sein würde. Wie ein Dieb äugte ich zunächst vorsichtig durch das Fenster, aber zu meiner Erleichterung waren die Wächter nicht mehr da. Schnell schlüpfte ich hinein und mit hämmerndem Puls stellte ich die Sachen vorsichtig an ihre Plätze zurück. Nachdem ich sichergestellt hatte, dass der Rückweg frei war, schlenderte ich so unschuldig dreinblickend wie möglich zurück in das Getümmel vor der Tanzfläche. Obwohl ich die Stimme der Frau nicht mehr vernahm, wurde ich das dumpfe Gefühl, beobachtet zu werden, während der ganzen Zeit nicht los.
Einen kurzen Augenblick zweifelte ich, ob ich unter all den Leuten Martin jemals wiederfinden würde, doch dann schüttelte ich energisch den Kopf. „Shiva“ rief ich aus voller Lunge und unmittelbar darauf sah ich Martin ein paar Meter weiter hocken, das Gesicht mir zugedreht, als warte er auf mich. Freudig lief ich zu ihm, der gerade ein Chillum stopfte und ließ mich neben ihm in den Sand fallen. Er drückte mir das Gerät in die Hand und zündete es an. Mit einem einzelnen Zug produzierte ich eine gewaltige Wolke, die eines frisch gebackenen Gottes würdig war. Jemand stieß einen anerkennenden Pfiff aus und rückte ein Stück näher zu uns rüber. Martin reichte nach einem kräftigen Zug das dampfende Gerät an den neu Hinzugekommenen weiter, wie es üblich war im damaligen Goa. Alle miteinander. Alles.
Nach zwei weiteren Runden endete das Gerät schließlich bei mir. Ich wollte es reinigen, wie es sich gehört. Aber der Typ neben mir nahm es mir eilig aus der Hand und meinte, er werde das schon machen. Wogegen ich nichts einzuwenden hatte, denn ich war reichlich fahrig von meinem unruhigen Schuldbewusstsein.
An Martin gewandt fragte ich, ob wir noch lange bleiben wollten, aber der lachte nur ausgiebig, bis ich ärgerlich wurde. Schließlich fragte er, ob ich weglaufen wolle. „Vor was?“ brauste ich auf. „Vor deiner Paranoia, doch noch entdeckt zu werden“, entgegnete er scharf. Und Recht hatte er, denn irgendwie hatte ich Sorge, der Besitzer jener sonderbaren Utensilien würde doch sauer sein, mich finden und zur Rechenschaft ziehen. Und das konnte nicht ungefährlich sein, wenn er tatsächlich ein Magier war. „Wenn du das glaubst, dann sollte dir klar sein, dass du davor nicht weglaufen kannst“, meinte Martin trocken. Ja. Dann hielt er mir einen Vortrag, dass ich mal nicht annehmen sollte, meine nächtlichen Eskapaden seien unbeobachtet geblieben. Schließlich sei man die ganze Zeit über bei mir gewesen. Mich packte die nackte Panik. Doch Martin tat meine hervorsprudelnden Fragen unwirsch ab. „Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob du nicht doch Schaden genommen hast bei den starken Energien, die Du heute Nacht kanalisiert hast, oder?“ Oder jemand anders. „Am besten, wir rauchen noch ein Chillum und dann gehst du tanzen, od ...?“
Er sprang abrupt auf und suchte mit schnellen Kopfbewegungen den Boden ab. „Verdammt, hast du das Chillum?“
„Nein, das hat doch der Typ ...“
„Ach was!“ schrie er und seine Augen funkelten böse. Ich wusste, was Martin sein Chillum bedeutete. Mehr als einmal hatte ich die außerordentliche Hingabe staunend betrachtet, mit der dieses schöne Handwerksstück gefertigt worden war. Extra für Martin. Extra in einem heiligen Feuer irgendwo hoch oben in den Bergen gebrannt und geweiht.
„Verdammter Idiot!“ schrie er wieder. „Erkennst du den Typ wenigstens?“
„Ja. Das heißt nein.“ Ein Blitz traf mich aus seinen wütenden Augen. „Ich weiß es nicht.“ Ich wäre am liebsten davon gelaufen. Doch plötzlich änderte sich Martins Gesichtsausdruck und seine Augen erhielten das schelmenhafte Grinsen zurück. „Na dann mal los, Shiva“, raunte er todernst, „dann gehst du´s mal finden, oder?“ Und ließ mich stehen. Schiere Verzweiflung trieb mir die Tränen in die Augen. Wie um alles in der Welt sollte ich unter den gut und gerne zweitausend Leuten den einen finden, von dem ich nur noch ein rotes T-Shirt und eine goldene Halskette im Kopf hatte?
Ohne mir recht klar darüber zu sein war ich schon zur Tanzfläche gelaufen und blickte weinend in die Runde. Nach wie vor wirbelten die Tänzer über den Sand. Staub stieg von ihrem Gestampfe auf wie feiner Nebel. Absoluter Irrsinn, hier irgendwen zu suchen, dachte ich noch bevor mich der Sound wieder gefangen nahm und eine Pirouette nach der anderen drehen ließ. Bald war ich nahezu so high wie in der Nacht, einzig die Stimme der Hexe fehlte. Schamanin. Kaum hatte ich an sie und Erick gedacht, da ließ mich ein weicher Impuls innehalten in meiner Drehung, denn ich hatte kurz geglaubt die Frau gesehen zu haben. Tatsächlich, sie stand unmittelbar neben mir und grinste mich undefinierbar an. In meinem Schuldbewusstsein wirkte es so, als wolle sie mich gleich fressen, weshalb ich herumfuhr und zur anderen Seite entweichen wollte. Doch da stand der massige Körper von Erick. Was ich in dem Sekundenbruchteil erhaschte, bevor ich erneut wie ein wildgewordener Schamane über die Tanzfläche rotierte, war sein freundliches Lächeln und die unbestreitbare Tatsache, dass er, der Veteran der Hippiearistokratie, mich aufmerksam betrachtete.
In einem Rausch aus Licht und Farben dachte ich dann deutlich einen Gedanken: `Es passiert, was du dir vorstellst. Ich werde den Mann mit dem Chillum finden.´
Ich hob den Kopf und sah direkt auf jemand in einem roten T-Shirt auf der anderen Seite der Tanzfläche, der gerade an einem Chillum zog. Im nächsten Moment stand ich bei ihm und einer Gruppe von vielleicht zehn breitschultrigen Typen, die allesamt so wirkten, als fürchteten sie sich nicht vor einer gewaltsamen Auseinandersetzung. Das ist entweder alles absoluter Wahnsinn oder absolut wahr, dachte ich mit einem unbestimmten Nachgeschmack der Stimme der Frau, als ich dem verdutzten Typ das Chillum entriss und auf dem Absatz kehrt machte. Nein! Niemand würde es wagen mir zu folgen. „Du brauchst dich nicht umdrehen“, rief ich aus, „Shiva!“
Hinter mir, es war unbestreitbar, stand einzig Shiva, so real, wie in der vergangenen Nacht. Das qualmende Chillum hoch erhoben, wie die Fackel beim Einlauf ins Olympische Stadion, marschierte ich triumphierend schnurstracks durch die tobende Tanzfläche.
Aber es zog mich nicht zurück zum Strand, wo wir gesessen hatten. Stattdessen drehte meine Bahn zum Fuß des Hügels unterhalb der Hütte ab, wo ich mich niederlassen und meine überschäumenden Gedanken ordnen wollte.
Fast wäre ich über den Saddhu gestolpert, der mit gekreuzten Beinen am Wegesrand saß. Mit weit aufgerissenen Augen blickten wir uns an und in meinem Kopf flackerten unwillkürlich Bilder von Flammen und warme Gefühle reinster Wonne auf. Ehe ich mich versah hatte mich der Saddhu zu sich herabgezogen, zog mit einer Hand meinen Kopf zu sich ran und flüsterte mir ins Ohr: „You´ve been dancing inside the fire, remember?“ Schlagartig erinnerte ich mich. An eine Phase während des exstatischen Tanzens, bei der ich das Gefühl hatte, in der Mitte der Glut zu tanzen, von hüfthohen, lodernden Flammen umgeben. An den Schreckimpuls, aus dem Feuer zu springen, als ich es bemerkte. An das Gefühl, beobachtet zu werden. Und an den bewussten Entschluss, das gerade Erlebte als Blödsinn abzutun. Eine Halluzination. Und dieser Mann hatte das alles gesehen! Wenn das wahr war, was war dann mit ...?
Weiter kam ich nicht. Wie ein Computer mit Arbeitsspeicherüberlastung tilte mein Hirn. Die Gedanken implodierten in einem Feuerwerk aus tausend Scherben. Ich war starr vor Schreck und Skepsis, gleichzeitig vibrierend vor unfassbarer Freude, fiel entgeistert auf meinen Po und sah kopfschüttelnd zu dem Kerl herüber. Die ersten Sonnenstrahlen flossen gerade golden über den Rand der Bucht und erleuchteten sein ebenes Gesicht. „I hope you come down safe“, setzte er hinzu, nahm mir das Chillum aus der Hand und schlug die Mischungsreste heraus. Ich konnte nur tatenlos zusehen, wie er eine fertige Mischung aus einer kleinen Kokosnussschale in das Chillum schüttete und mir dann das Gerät mit markerschütterndem „Bom Halek“ reichte. Begierig saugte ich und inhalierte tief.
Einen Moment verschwamm die Umgebung im Kreislaufflash des Nikotins, dann sah ich wieder den Saddhu, dessen orangefarbene Robe so blitzblank wirkte, als käme sie gerade frisch aus einem Kostümladen. Mein Herz war voll von Sympathie für ihn, wie er da, vor Gesundheit strotzend, mit anmutigen Bewegungen das Chillum in einer Dankesgeste zur Stirn führte, mit geschlossenen Augen rauchte und genüsslich durch die Nase ausblies als sei er Hauptdarsteller eines Films. Ein strahlend klarer Gedanke leuchtete auf vor dem Chaos meiner aufgewühlten Seele, als sei es nicht mein eigener: Wenn sich zwei extreme Ausformungen zweier absolut unterschiedlicher Kulturkreise (Der Eremit und der Partyraver) an einem sonnigen Morgen am Strand treffen, um sich gegenseitige Sympathie zu bekunden, dann muss in dieser Schnittmenge ein Funken Wahrheit liegen. Ich dachte den Gedanken noch einmal nach und schwor mir, ihn nie wieder zu vergessen.
Dann wollte ich nach dem Chillum greifen, doch der Saddhu reichte es zur Seite. Ich folgte seinem ausgestreckten Arm, seitlich hinter ihm stand jetzt jemand. Ich hob den Kopf und erkannte Martin, der so urplötzlich aufgetaucht war, als hätte er hinter einem Fels versteckt die ganze Zeit gewartet. Oder er hatte sich aus dem Raumschiff herab direkt vor mich gebeamt. Er blies den Qualm aus, grinste vielsagend und reichte mir das Chillum.
Schließlich hatten wir fertig geraucht und Martin machte sich wortlos ans Säubern. Mir hatte es ohnehin die Sprache verschlagen. Der Baba aber rückte näher an mich heran, griff meine Schultern mit seinen Händen und sah mir tief in die Augen. Lange ruhte sein unergründlicher Blick auf mir. Das linke Auge hatte er leicht zu gekniffen, ein wenig zitternd am Unterlied, wie um scharf zu stellen. Bis er schließlich, laut genug, dass auch Martin es hören konnte, mit bedächtigen Pausen murmelte: „What you have achieved last night- took me- twenty five years of meditation.“ Dann stand er auf, griff die ausgewaschene Decke auf der er gesessen hatte und verschwand zwischen den nahestehenden Bäumen.
Martin grinste mich an wie ein Honigkuchenpferd. „Bist ja richtig gut geworden im Finden, oder?“ feixte er und hielt das Chillum wie ein Zepter in der Hand. Ich nickte. „Ist ja auch kein Wunder, hast ja schließlich die selbe Sonne auf dem Rücken“, sagte er weiter und hielt mir das Chillum entgegen. Ich wusste nicht gleich, was er meinte, nahm es mechanisch und sah verwundert auf die eingravierte Sonne mit ihrem wellenförmigem Strahlenkreis. Nie zuvor war mir die aufgefallen, obwohl ich das Gerät sicherlich einige hundert Male in meinen Händen gehalten hatte. Diese Sonne entsprach tatsächlich genau der Stickerei, die ich mir im Jahr zuvor in Katmandou auf meine Jeansjacke hatte sticken lassen, fest davon überzeugt, dass ich mir das Design selbst erdacht hatte.
„War ..., war die schon immer da drauf?“ stotterte ich ungläubig. Aber Martin riss nur kurz seine stechenden Augen auf und wischte damit meine Frage weg. Statt einer Antwort sagte er bedächtig „Ich weiß auch nicht alles, Tobi. Ich weiß nur, dass `Bias´ auf English Voreingenommenheit bedeutet und so was ähnliches heißt dann wohl auch `to bias´, Tobias. Das solltest Du mal ablegen.“ In meinem Kopf grollte ein Donnerschlag. Nomen est omen. Tobi or not To be.
„Ansonsten“, unterbrach Martin meine Gedanken, „gibt es hier nichts mehr für uns zu tun, glaube ich. Ich jedenfalls bin fertig. Und was Dich angeht, alle von denen, die eine Rolle spielen und die ich kenne, haben dich heute Morgen in Augenschein genommen und ihr OK genickt, oder? Scheint´s, als hättest Du einen Haufen positive Energie kanalisiert.“ Er deutete den Hügel hinauf, wo jetzt, ziemlich exakt den Pfad entlang, den ich in der Nacht genommen haben musste, einige hundert Leute saßen und gebannt aufs Meer hinaus blickten. Ich folgte ihrem Blick und drehte mich um. Dort in der Bucht tanzten drei Delphine, schlugen eine Kapriole nach der anderen. Und auch dort war ich auch mit dem Stock gewesen! Unwillkürlich sah ich hinauf zum Himmel, die Richtung in die ich in der Nacht mit dem Stock `meine´ Energie geschleudert hatte. Dort kreisten drei Adler und für Sekunden fiel ich in einen ohnmachtartigen Taumel.

Noch mal in aller Deutlichkeit: Es spielte weder damals noch heute eine Rolle für mich, ob die Geschehnisse `real´ im Sinne der physisch messbaren Realität waren. Heute weniger sogar.
Ich habe jedenfalls nichts weggelassen und nichts hinzugefügt.
Aus den Erfahrungen jener Nacht konnte ich Schlüsse ziehen, die Bestand hatten und haben. Unabhängig von meinem grundsätzlichen Standpunkt als Skeptiker. Unabhängig davon, ob jemand bewiesen hätte, dass ich einer `Illusion´ aufgesessen war. Oder umgekehrt.
Tatsache bleibt die unendliche neurologische Freiheit. Und damit die unendlich neurologische Verantwortung. Wenn es mir schlecht geht, dann sind es nicht die Umstände. Nie. Sondern immer nur meine Sichtweise der Umstände. Schönheit existiert in dem Auge, das sieht. You choose, don´t you know?
Man kann vielleicht die Umstände nicht wählen, sehrwohl aber den Standpunkt. Ohne diese Erkenntnis wäre ich an meiner Krankheit auf die ein oder andere Weise verreckt.
Wenn ich mich doch einmal einen magischen Augenblick lang so fühlen konnte, wie ein neugeborener Gott, dann bin ich doch ein Idiot, wenn ich diesen sagenhaften Zustand nicht jede Sekunde meines Lebens zu verwirklichen suche und für das Scheitern jemand anders verantwortlich mache, als meine eigene, menschliche Unzulänglichkeit. Ohne den hinderlichen, christlichen Schuldtrip. Wer sich gut fühlt, ist leistungsfähiger und produktiver. Das wissen selbst die Psychologen. Was erst, wenn man sich göttlich fühlt ?
Natürlich verblassten die Eindrücke jener Nacht, reduzierten sich allmählich und kaum bemerkt auf zweidimensionale Postkartengröße. Aber die Überzeugung blieb, weil sie nicht nur in einem romantischen Gefühl verwurzelt war, sondern auch einer kühlen Logik entsprang: Wer seinen Kopf kontrollieren lernt, der kontrolliert die Realität.
`Von der Muse geküsst´ heißt eine Redensart.
Freilich, weder gibt es eine Muse (es sei denn man will es so), noch ist die Erzählung meiner Geschichte Literatur von Weltklasse. Noch ist nachfolgendes Gedicht hervorragende Lyrik. Aber für einen skeptischen Rationalisten wie mich, mit von Hause aus null künstlerischer Neigung ist es eine Leistung, die ohne Glauben nicht möglich gewesen wäre. Glaube daran, dass es die Hoffnung ist, die uns zu Menschen macht. Und Hoffnung darauf, das es diese Zeilen sind, die einmal einem Menschen die Tür zum Glauben an die unumschränkte eigene Verantwortung öffnen:

To Hope

I´ve seen the light so shining bright
The candles were just lit for me
I´ve seen the Goddess in her hight
Strange and familiar that was She

I felt energy pouring down
My heart was filled down deep inside
I saw a shining in her crown
Darkness vanished into light

I haven´t been there on my own
There was a party going on
Had I been there all alone
I´d thought my mind was flipped and gone

Consider me just mad
I myself don´t have a clue
I don´t care, I feel just glad
´Cause the message just reached you

(Anjuna, 22nd of March 1991)


„Es ist doch eines völlig klar“, schalt mich Anette, nachdem sie den Bericht von jener sagenhaften Nacht gelesen hatte, den ich für das Packendste hielt, was ich bisher fabriziert hatte. „Jeder der das liest wird dich für verrückt halten. Total. Deine ganze Botschaft kippt, wenn die Leser den Eindruck kriegen, dass du tatsächlich einen an der Ratsche hast.“ „Denkst du etwa, ich hätte da nicht drüber nachgedacht?“ gab ich patzig zurück und konterte: Dass, erstens, sie die Geschichte ja vorher schon gekannt hatte. Dass sie, zweitens, wegen eben dieser Story mit nach Indien gekommen sei. (Obwohl ursprünglich nur, um mir und sich zu beweisen, dass ich eine Macke habe.)
„Und was dann passiert ist, das weißt du schließlich. Denk mal an den Lingam in Gokarna, den zweihundert Jahre alten Baba, Cesare und so.“ Anette erwiderte nichts.
Ich preschte weiter in die Pause hinein. Dass ich ganz im Gegenteil zu dem Haufen Eso-Bücher ja gar nicht behauptete, dass es einen Gott namens Shiva gebe. Das sei doch nur die Form, in der mir meine eigene Göttlichkeit zugänglich geworden sei. Niemals aber die Wahrheit, die man ohnehin nie erfassen könne, außer vielleicht aus Zufall. Und dass es auch gar keine Rolle spiele, ob das alles nur Einbildung sei, davon ginge ich ja sogar aus. Aber nichtsdestotrotz, es ließe sich ganz gut mit eben diesem Weltbild leben. „Schließlich bin ich wieder gesund und wär´s ohne Glauben kaum geworden.“ Anette prustete verächtlich.
„Außerdem weißt du, dass ich die ersten Müdigkeitsattacken schon lange vorher, nämlich in Taiwan hatte. Das hast Du ja sogar schriftlich . Also Pustekuchen mit der Psychose, die an diesem Abend ausgelöst wurde.“ Anette schlug die Augen nieder. „Und außerdem gibt es jetzt eine wasserfeste Diagnose.“
„Trotzdem“, begann Anette zögerlich, „das glauben die L ...“ Ich schnitt sie aufbrausend ab. „Nein! Ich werde keinen Deut von der Wahrheit abrücken. So ist es gewesen. So und nur so passt alles zusammen. Ohne den Shivatrip ... Du weißt genau! Nur so ist zu erklären, das ich heute überhaupt in der Lage bin, diese Geschichte zu erzählen und jetzt ist Schluss damit!“
Das würden wir ja noch sehen, wenn das Buch mal fertig sei, meinte Anette und beharrte dann noch mal auf ihrem Standpunkt, dass ich die Story nicht brauchte, um meine Botschaft rüberzubringen. Erst dann war sie bereit die Sache auf sich beruhen zu lassen. Schließlich war es ja tatsächlich gut möglich, dass das Buch nie erscheinen würde. Wozu also über ungelegte Eier (und damit ungeschlüpfte Hühner) streiten?

Und, offensichtlich, ich habe mich durchgesetzt.
Oder besser: drüber hinweggesetzt. Über all die wohlmeinenden Bedenken, die nicht nur von Anette kamen.
Warum? Weil an diesem Abend Realität wurde, was vorher nur graue Theorie war: It´s all in your mind.
Was ich da erlebt habe, das war so real wie die morgendliche Rasur. Und wie oft habe ich mich in ganz alltäglichen Dingen getäuscht?
Wenn doch sowieso die Fähigkeit zur objektiven Erkenntnis nicht gegeben ist, warum sollte ich in einer Welt leben wollen, die kalt und herzlos, gewinn- und streitsüchtig ist? Nein. Ich lebe lieber in einer Welt, in der es geheime Lehrer und geheime Lehrpläne gibt. So geheim, dass ich da, offen zugestanden, nicht durchblicke. Nur ahnen kann, dass mehr existiert, als was sie uns im Fernsehen glauben machen wollen. Mehr als Geld und Zinsen.
Und das macht Sinn mit einem oder tausend Göttern. Mit keinem oder nur mit mir und Dir als Gott. Der Mensch kann zu sich selbst finden, sich selbst erfinden, seine eigene Göttlichkeit, losgelöst von allen Hierarchien und es wird Friede herrschen unter Gleichen. Und wenn es auch ein unerreichbarer Wunschtraum ist, alles andere ist für mich belanglos. Unmöglich ist, was ich nicht zu hoffen wage.
Das weltweite, gegenseitige sich Zerfleischen ist mir jedenfalls zu affig.
Wenn es keinen Gott gibt, kein Netz, das im Hintergrund die Fäden verzwirbelt (und das ist gut möglich), man müsste es halt erfinden, damit die Welt eine Hoffnung hat.
Ach was, zu hoch gegriffen. Nicht die Welt.
Es geht um die Menschlichkeit.
In einer mechanischen Realität führen mechanische Gegebenheiten wie Rohstoffverknappung, Umweltchaos und Kriege unweigerlich in einem vorhersehbaren mechanischen Prozess zu Verelendung, Verschwendung und Leid. In einer lebensbejahenden Welt hingegen, wo sich der Einzelne als Gott unter Göttern wähnt, wo das Wunder der Schöpfung, die unfassbare Tatsache, dass Polysacharidketten mit vier simplen Basen die Zellvorgänge steuern, die mich das hier denken lassen können, in einer Welt, wo dieser angebliche Zufall ein Geschenk und damit Quell grenzenloser Freude ist, in einer solchen Welt ist auch unter den schlimmsten Umständen, ja selbst auf einer Müllhalde, ein freudiges Leben möglich.
Es ist die Hoffnung, die den Mensch aus dem Staub darwinistisch-mechanistischer Notwendigkeiten erhebt und ihn zum gottgleichen Wesen macht. Oder zur Pipi Langstrumpf. Everything is possible.

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Wie bei dem Beitrag "Affentanz" handelt es sich bei diesem Text um einen Kapitelauszug aus meinem Roman "Von Scharlatanen, Schurken und Schamanen" über den ihr unter http://www.tobias-tripler.de gern mehr erfahren könnt!
Und, sei´s nochmal gesagt, ich hab ne Ortografieschwäche und finds total ok!
 



 
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