Arkadien

Mein Arkadien

Ich habe den Ort gefunden, nach dem sich meine Seele ein ganzes Erwachsenenleben lang gesehnt hat, ohne es zu wissen: mein Arkadien, hoch im Norden. Wie konnte ich leben, ohne von diesem Ort gewusst zu haben? Gar nicht! Erst seit ich dort gewesen bin, weiß ich wieder, was das ist: Leben. Mein Mann und ich, wir mussten beide zurück in jene Zeit, als wir noch wuss­ten, was Leben ist. Zurück zu unserem gemeinsamen Anfang, zurück in unsere Kindheit. Zurück auch zu dem Zeitpunkt, als wir einander als Seelenverwandte erkannt hatten. Seit wir dies von neuem erkannt ha­ben, tauchen wir so oft wie möglich in dieses Leben ein, um danach gestärkt und belebt unser hek­ti­sches, in Zeiteinheiten unterteiltes Erwachsenendasein wieder aufnehmen zu kön­nen.
Vielleicht werde ich diesen Ort nie mehr sehen, nie mehr so erleben wie einst. Sehr weit entfernt liegt er nicht, aber unerreichbar... Es hat keine Bedeutung: Arkadien liegt seitdem in unseren Her­zen.
Um wenigstens für kurze Zeit vor dem Alltagsstress zu fliehen, reisten wir beide für eine Woche nach Stockholm. Ein zu Hause er­stelltes, prall gefülltes Programm sollte uns helfen die wenigen Tage, die wir uns zwischen all den Terminen freischaufeln konnten, möglichst gut zu nutzen. Allzu viel Verlockendes erschwerte die Auswahl der Sehenswürdigkeiten in und um Stockolm herum, denn jede Wahl bedeutete zugleich Verzicht auf etwas anderes.
Kaum in dieser wunderschönen Stadt angekommen, erfasste uns eine kribbelnde Ungeduld. Obwohl wir schon mehr als vierundzwanzig Stunden auf den Beinen waren, hätten wir am liebsten gleich mit einer Besichtigung angefangen. Verschiedene Umstände ließen dies jedoch nicht zu. Ärgerlich über die Zeitverschwendung mussten wir zunächst unser abseits gelegenes Hotel aufsuchen. Dort angekommen, wollten wir in unserem Zimmer nur ein wenig die Beine hochlegen, fielen stattdessen je­doch, erschöpft wie wir waren, in einen tiefen Schlaf. Erst in der Abenddämmerung schreckten wir plötzlich hoch, tranken eilig einen star­ken Kaffee und zwangen uns zum Busbahnhof zu gehen, um wenigstens den Abend noch für eine Besichtigung nutzen zu können. Auf dem schnellsten Weg fuhren wir nach Gamla Stan, der pittoresken Altstadt Stockholms. Der Abend war für den Besuch be­sonders geeignet, denn unzählige kleine Bars, gemütliche und ru­stikale oder elegante Restaurants luden zum Verweilen ein. Trotz der Märzkälte standen die Gäste dicht an dicht vor den vielen Lo­kalen, um auf die Schnelle eine Zigarette zu rauchen. In den beleb­ten schmalen Gässchen reihten sich kleine Läden mit originellen Auslagen aneinander. Gerne hätten wir die bunte Vielfalt ein we­nig näher betrachtet, doch die Zeit drängte. Wir wollten noch in eines der schönen Lokale, um ein wenig auszuruhen und eine Kleinigkeit zu essen, bevor wir mit der letz­ten Bahn zurück zum Hotel mussten. Eine Auswahl unter den vielen reizvollen alten Bars und Restaurants zu treffen fiel uns schwer. Im Reiseführer hatten wir markiert, welche Delikatessen und landestypischen Gerichte Schwedens Küche zu bieten hatte. Wir wollten so gern von all den Spe­zialitäten wie Elchgulasch, Köttbullar, Hering in den unterschiedlichsten Variationen usw. kosten. Die Vielfalt der angebotenen Speisen, aber auch deren aberwitzige Preise, zwangen uns jedoch zur Bescheidenheit. Dafür kehrten wir für eine Weile in einem Lokal mit einem herrlich hergerichteten Kellergewölbe aus dem sech­zehnten Jahrhundert ein, das mit seinen brennenden Fackeln an den Wänden, dem funkelnden Ker­zenlicht auf groben Holz­tischen, dem nacktem Steinboden und den alten Waffen und Helmen ein ganz besonders Ambiente hatte. Dort genossen wir eine leichte Abendmahlzeit aus landestypischen Vorspeisen und tranken das traditionelle, alkoholarme Bier, das sogenannte „Leichtöl“. Die Ruhe war köstlich und machte uns träge, so dass es uns schwer fiel, uns aufzuraffen, um Stockholms imposanten Königspalast zu bewundern. Wunderschön anzusehen war das von Scheinwerfen be­strahlte prächtige Bauwerk, an dessen Eingängen die königlichen Soldaten mit Bärenfellmützen Wache hielten. Schnell schoss ich noch ein paar Fotos, bevor wir zur U-Bahn eilten. Mein letzter Gedanke, ehe ich in einen bleiernen Schlaf fiel, war: Wie herrlich war doch der Abend gewesen, aber was wollten wir morgen...
Um 6.00 Uhr riss uns der Wecker aus dem Tiefschlaf. Gestern hatten wir das Programm für den heutigen Tag nicht mehr planen können, so dass wir diese Stunde vor dem Frühstück dringend be­nötigten. Nun galt es Öffnungszeiten von Museen, Fahrverbindungen von Bus und Bahn aufein­ander abzustimmen, entsprechende Kleidung herauszusuchen und den Rucksack passend zu unseren heutigen Vorhaben zu packen. Nach einem schnellen Frühstück konnten wir so ohne Zeitverlust auf Entdeckungsreise gehen. Aufgrund der günstigen Verkehrsverbindungen stiegen wir ganz ohne Wartezeit in ein schneeweißes, luxuriös ausgestattes Ausflugsboot, um an der „Königlichen Kanal- Tour“ teilzunehmen.Wir glitten bei strahlendem, kalten Licht und klarem Himmel über das dunkel­blaue ruhige Wasser und ließen uns von der einzigartigen Kulisse Stockholms beeindrucken. Die schön anzuschauenden Bürgerhäuser im Renaissancestil bezauberten uns in ihrer Pracht, und wir lauschten über Kopfhörer gespannt den Erläuterungen. Schon bald ließen wir die dicht bebaute Ku­lisse Stockholms hinter uns und fuhren an großzügigen Grundstücken vorbei, auf denen schmucke Holzhäuschen in allen Farben zu sehen waren. Vieles erinnerte mich an die bezaubernden Bilder aus den geliebten Astrid-Lindgren-Filmen, und ich war überrascht, all das wiederzusehen, was ich für eine künstliche Filmkulisse gehalten hatte. Ganz allerliebst waren die blauen, gelben, vor allem aber dunkelroten Hüttchen anzuschauen, die hier und dort am Wasser oder auf kleinen Hügeln ge­baut waren, als habe eine liebevolle Hand sie dorthin gezaubert,
Die Flut an Informationen über die Geschichte, Kultur, Bauweise und Sehenswürdigkeiten Stock­holms konnte mein überladenes Gehirn schließlich nicht mehr fassen. Ich würde dies zu Hause nacharbeiten müssen.
Glücklicherweise endete dieser herrliche Bootsausflug pünktlich, so dass wir genügend Zeit hatten den Rest des Tages dem größten Freilichtmusseum der Welt, Skansen, zu widmen. Dort sind über hundert Bauern- und Herrenhäuser Schwedens im Original zu betrachten. Zusammen mit den Tier­gehe­gen, die alle in Schweden vorkommenden Tierarten beherbergten, konnten wir uns einen Über­blick über das Land en miniture verschaffen. Lediglich die Menschenmassen verdarben den Ort, der ohne die vielen Karussels, Verzehrstuben, Spielplätze und Verkaufsstände so wundervoll hätte sein können. Auch an diesem Abend sanken wir mit bleischweren Füßen ins Bett - dazu mit leerem Ma­gen: Zeit für einen Restaurantbesuch hatten wir nicht gehabt, und uns an den endlosen War­te­schlan­gen der Schnellrestaurants anzustellen kam wegen der Abfahrtszeit unserer U-Bahn nicht in Frage.
So vergingen die Tage wie im Flug. Wissensdurstig besuchten wir wenigstens die wichtigsten Mu­seen wie das kulturgeschichtliche Nationalmuseum, in dem wir Interessantes aus dem Alltagsleben, den Traditionen und Bräuchen der schwedischen Bevölkerung vom Mittelalter bis zur Gegenwart erfuhren, das historische Museeum, welches uns einen Überblick von der Steinzeit bis zu den Wi­kingern bot, und natürlich das Nationalmuseum, um uns einen groben Überblick über die nordische Kunst zu verschaffen. Auch das im Barockstil erbaute Schloss Drottningholm, das Schloss, in dem die königliche Familie residiert, faszinierte uns. Wunderbar anzusehen war die dem französischen Versaille nachempfunde Schlossanlage, beeindruckt waren wir auch von den drei kunstvoll ange­legten Parks im englischen, französischen und Rokokostil, dem eleganten Chinesischen Pavillon und dem einzigartigem Schlosstheater aus dem achtzehnten Jahrhundert.
Wieviel mehr hätten wir all dies genießen können, wenn die Zeit nicht so schnell verflogen wäre. Unser Hotel war zu abgelegen, und die letzte Verkehrverbindung dorthin zwang uns spätestens um 21.00 Uhr die U-Bahn zu nehmen. Im Hotel angekommen sanken wir, trotz der frühen Uhrzeit, fast unvermittelt in den Schlaf, randvoll mit Eindrücken und körperlich erschöpft vom Laufen auf den As­phaltstraßen der Stadt und den Parkettböden der Museen. Die größte Wohltat des Tages war das Abstreifen der Schuhe im Hotelzimmer, um endlich aufs Bett zu sinken und dem müden Körper Ruhe zu gönnen.
Traurig und erschöpft stellten wir am vorletzten Abend fest, dass das Ende unserer Reise zum Grei­fen nah war.Wir hatten kaum bemerkt, wie schnell die Tage verflogen waren. Nun blieb uns nur noch ein einziger Programmpunkt: die einzigartigen Natur Schwedens zu erkunden. Drei Stunden Internetrecherche in unserem komfortablen Hotel ergaben lediglich, dass keines der drei von uns in Erwägung gezogenen Naturreservate in der Kürze der Zeit zu erreichen war. Mitternachts gaben wir endlich auf und widmeten uns unseren Reiseführern, um die wenigen Informationen über die Tau­sende von Schäreninseln in Stockholms Umgebung zusammenzutragen. Unserem Reiseführer nach gab es einen ständigen Fährverkehr zu den Inseln. Doch in der Eile hatten wir einen grundle­genden Aspekt nicht beachtet: Die Saison ist in Schweden nur auf wenige Wochen im Jahr be­grenzt, und dies bedeutete, wie uns morgens der freundliche Portier an der Rezeption mitteilte, dass lediglich drei Inseln im März angefahren wurden.
Auf der Fahrt in die Innenstadt mussten wir uns entschei­den. Vaxholm, eine recht belebte Insel, kam für eine Wanderung nicht in Frage, da dort Ge­schäfte und Häuser dominierten. Dann war da eine ganz entlegene und unbewohnte Insel, deren Reiz in einer großen Artenvielfalt von Wild­gänsen und Enten in völlig unberührter Natur liegen sollte. Diese Insel favorisierte mein Mann. Mir dagegen war etwas flau bei dem Gedanken, so weit entfernt von jeglicher Zivilisation zu sein. Deshalb las ich ihm aus meinem Reiseführer etwas über die Vorzüge einer viel näher gelege­nen wunderschönen grünen Schäreninsel vor, die laut Beschreibung über herrliche Strände, glattpo­lierte Felsen und viel Natur verfügte. Auch dort, so hieß es, gäbe es eine Vielzahl an seltenen Tieren und Pflanzen.
Ein wenig schuldbewusst unterschlug ich ihm die winzige Anmerkung, dass dort ein Boots- und Fahrradverleih sowie ein Restaurant zu finden seien. Doch genau diese Anmerkung war für mich die entscheidende: Wir könnten die herrliche Natur genießen, indem wir eine ausgedehnte Wande­rung unternahmen, und uns danach, sozusagen zur Belohnung und Krönung unserer Reise, ein fürstliches Me­nu in dem sicher eleganten Restaurant gönnen. Das Bild im Reiseführer ließ jeden­falls durchaus da­rauf schließen. Auch auf meinen geliebten Kaffee brauchte ich dort nicht zu ver­zichten. Bei dem Bootsverleih würde es sicher ein kleines Cafè oder einen Kiosk geben. Meinen Mann überzeugte ich mit dem Argument, dass wir auf der näher gelegenen Insel sehr viel mehr Zeit zur Erkundung der Natur hätten als auf einer abgelegenen Vogelinsel. Die Fahrzeit dorthin betrüge mehr als fünf Stunden, während die grüne Badeinsel in der Hälfte der Zeit zu erreichen war. Damit war die Entscheidung gefallen.
Fürs Frühstück hatten wir leider keine Zeit. Noch in der Dunkelheit eilten wir in rustikaler Wander­ausrüstung zur U-Bahnstation, um ins Stockholmer Zentrum zu gelangen. In Eile hatte ich einige Äpfel, eine große Flasche Wasser, ausreichend schwedische Kronen, Fotoapparat und Handy in den Rucksack gepackt. Eine Tasse Kaffee an Bord des Schiffes musste genügen. Mein Mann kaufte sich unterwegs an einem Kiosk ein großes belegtes Käse-Schinken Baguette sowie eine Rosinenschne­cke und ließ es sich schmecken. Ich wollte mir meinen Appetit lieber für das Mahl in dem Insel­re­s­taurant aufbewahren. Obwohl schon etliche Leute am Ticketschalter standen, ergatterten wir die letzten beiden Plätze am Oberdeck. Hoffentlich stiegen wenigstens einige der vielen Mitrei­sen­den an anderen Anlegestellen aus! Menschen hatten wir in den letzten Tagen wahrlich genug gese­hen. Wir nutzen die Fahrt auf dem großen Schiff, um uns endlich einmal in Ruhe zu unterhalten. Beide waren wir uns einig, dass Schweden wunderschön war und wir gerne hier einmal Urlaub mit den Kindern machen würden, wenn es für uns Sonnenhungrigedoch nur nicht so kalt im Norden wäre. Sowohl die Natur als auch die freundlichen, gelassenen Menschen gefielen uns außerordent­lich. Nie habe ich eine sauberere und vor allem ruhigere Großstadt als Stockholm gesehen.
Dem verführerischer Duft nach Frischgebackenem auf dem Schiff erlag ich eine Stunde vor unserer Ankunft auf der Insel, und ich verschlang gierig ein halbes, ganz frisches Baguette. Es schmeckte köstlich. Mit dem vollen Magen stellte sich schnell auch die Reue ein, doch tröstete ich mich da­mit, dass sich auf unserer ausgedehnten Wanderung an der frischen Luft sicher wieder ein gesunder Ap­petit einstellen würde. Nach eineinhalb Stunden Fahrt waren wir noch die einzigen Menschen auf dem Oberdeck. Die meisten waren an der belebten Insel Vaxholm und anderen Anlegestellen Stock­holms ausgestiegen. Was für ein Glück!
Nach einer weiteren Stunde schallte aus dem Lautsprecher: „Aussteigen, letzter Halt!“ Eilig stiegen wir die Treppe hinab. Wir hatten gar keine Anlegestelle gesehen! Entsetzt sah ich mich um. Wir waren die einzig verbliebenen Reisenden an Bord und standen nun vor einem winzigen, aus weni­gen Brettern bestehenden Anleger. Dies konnte nur ein Irrtum sein! Im Reiseführer stand, dass diese Insel in der Saison von annähernd zweitausend Tagesbesuchern aufgesucht werde. Höflich, aber bestimmt wurden wir aufgefordert auszusteigen. Verzweifelt rief ich dem Fährmann noch hinterher: „Rückfahrt um 18.00 Uhr?“ Der Mann nickte, und dann ließ uns das Schiff auf der Insel zurück.

Zwei kleine Blechbriefkästen standen am Rand des Bretterstegs. Auf einem stand: „Restaurant“. Eine Woge der Erleichterung überkam mich. Also doch kein Irrtum, die Insel war bewohnt!
Eine grobe Holztafel zeigte den Umriss der Insel sowie einen Hauptpfad mit zwei oder drei Neben­pfaden. Der Hauptpfad führte quer über die Inselmitte zur Südseite, an der sich auch das Restaurant befinden sollte.Wanderrouten waren leider keine eingezeichnet. So gingen wir zunächst den mar­kierten Hauptpfad entlang, um auf der Südseite nach dem offiziellen Anleger und dem Restaurant zu su­chen. Von dort konnten wir schließlich genauso gut unsere Wanderung beginnen und endlich in die viel gerühmte Natur Schwedens eintauchen. Obwohl wir mehr als fünf Stunden Zeit zur Verfügung hat­ten, trieb ich zur Eile an. Nach kurzer Orientierung über Wanderwege und Verköstigung und nach einer guten Tasse Kaffee wollten wir unsere ausgedehnte Wanderung beginnen. Aus Erfah­rung wusste ich, dass gegen Ende einer Wanderung die Zeit immer knapp wurde. Deshalb folgten wir zügig dem Hauptpfad. Unzählige kleine Blockhäuschen säumten den Weg. Die meisten waren offen, spärlich ausgestattet, aber blitzsauber und stabil. Keine einzige Hütte schien bewohnt zu sein. Dane­ben fanden wir mehrere Grillplätze, Freiflächen und gesicherte Stellen für größere Lagerfeuer. Es musste herrlich sein, hier einen Abenteuerurlaub mit Kindern zu verbringen. Freudig überrascht stellten wir fest, dass kein Müll, rostige Getränkedosen oder Plastiktüten die Natur verunstalteten. Außer den beschriebenen Anlagen gab es keine Eingriffe in die Natur, nicht einmal einen Kinder­spielplatz. Wir waren verblüfft, als wir schon nach weniger als einer halben Stunde am anderen En­de der Insel ankamen. Weder von dem Boots- noch von dem Fahrradverleih war auch nur das Ge­ringste zu entdecken. Beim Anblick des schönen Restaurants eilte ich voller Kaffedurst darauf zu und setzte mich an den einzigen Tisch auf der Terasse. Dort legte ich meine Sachen ab, kramte mei­ne Zigaretten hervor und bat meinen Mann hineinzugehen, um Kaffee zu bestellen und schon ein­mal einen Blick auf die Speisekarte zu werfen. Er ging zu der rückwärtig gelegenen Flügeltür, klopfte, rüttelte daran und schüttelte schließlich den Kopf. Plötzlich überkam mich das Gefühl, eine Gestrandete zu sein, weitab von jeglicher Zivilisation. Von irgendwoher drang ein Hämmern und Klopfen an mein Ohr. Gott sei Dank: Menschen! Schnell lief ich in die Richtung, aus der die Geräu­sche kamen. Tatsächlich, wir entdeckten einen Mann im blauen Arbeitsanzug, der anscheinend Re­novierungsarbeiten an Holzbänken und Tischen vornahm. Freundlich wie alle Schweden erwiderte er unseren Gruß. Wir erfuhren, dass die Insel nur in der Saison bewohnt sei und dass auch nur dann der Boot- und Fahrradverleih sowie das Restaurant geöffnet seien. Im gemütlichem Wanderschritt wäre das kleine Eiland in etwa einer Dreiviertelstunde bequem zu umrunden.
Das hieß für mich: Selbst wenn wir uns sehr viel Zeit ließen, mussten wir vier Stunden Wartezeit in Kauf nehmen, bevor wir nach Stockholm zurückkehren konnten.Welch ein Hohn, zum Ende unse­rer Reise gezwungen zu sein, die knapp bemessene Zeit mit Warten totschlagen zu müssen! Wie gut, dass ich wenigstens ein Brot gegessen hatte. Kostbar erschienen mir nun auch die wenigen Äpfel und die Flasche Wasser.
Wir blickten enttäuscht umher. Plötzlich hielten wir inne - nur wenige Meter entfernt am gras­um­säumten Ostseestrand entdeckten wir prächtige Wildgänse. Auf leisen Sohlen näherten wir uns der kleinen Schar. Ganz langsam, um die seltenen Vögel nicht zu vertreiben, ließen wir uns auf einer verwitterten Holzbank nieder und beobachteten fasziniert die zum Greifen nahen Tiere. Sie zupften Gras, wühlten mit ihren Schnäbeln im seichten Wasser, genossen ganz offensichtlich die wärmende Sonne und ließen sich von uns nicht stören. Begeistert schauten wir uns an. Auch wir genossen mit einem Mal den windstillen Tag, die Sonne und die Ruhe. Längst vergessene Gefühle kamen auf, Er­innerungen an unsere Kindheit stellten sich ein, als wir, Zeit und Raum vergessend, einfach nur ins Beobachten versunken waren.
Nach einer Weile bedeutete mir mein Mann mit einem mir sehr vertrauten Blick und einer auf­for­dernden, leichten Bewegung des Kopfes, ihm zu einem kleinen, sich in Kurven windenden Bächlein zu folgen. Plötzlich konnten wir uns wieder ganz ohne Worte, so wie früher, verständigen. In wortlosem Einverständnis schlich ich leise hinter ihm her, um gespannt ins Wasser zu blicken und darin vielleicht ei­ne Forelle oder einen anderen Fisch zu entdecken. Man durfte beim Gehen nur kei­ne Erschütterungen her­vorrufen; diese würden alle Fische vertreiben. Das Wasser mäanderte in sei­nem Bett mal im schnellen, engen Fluss, mal in langsamen, ausgedehnten Schleifen; ideale Be­din­gungen für alle möglichen Tiere. War nicht jetzt auch Paarungszeit von Molchen und Fröschen? Am Ufer des Bächleins wuchs schon das erste hellgrüne saftige Gras des Jahres. Es bildete einen wunderschönen Kontrast zu dem dunklen Grün und satten Gelb der Sumpfdotterblume.Wie von selbst fanden wir zurück zu der wortlosen Verständigung der Kinderzeit, die so viel mehr aus­drück­te als nur das Nachfolgen des anderen. Der Blick, die Geste, all das umfasste das Heranschleichen, das instinktive Aufsuchen der von Fischen und Fröschen bevorzugten Wasserstellen, das genaue und geduldige Beobachten und Warten auf eines der uns von jeher faszinierenden Wassertiere. Während wir uns vorsichtig dem Gewässer näherten, sprangen dicke Frösche eher belästigt als be­ängstigt ins Wasser. Einen Schritt weiter folgten andere mit trägen Sprüngen in den Bach. Mittels unserer wiedergefunden Sprache zeigten wir einander Goldrandkäfer, Wasserläufer, Rücken­schwimmer und andere vertraute, aber seit Jahrzehnten vergessene Geschöpfe, bestaunten gelbe Schwertli­lien und winzige, dunkelrote Veilchen. Randvoll mit Gefühlen und in freudiger Erwartung gingen wir langsam auf die glatten, weißen Felsen zu, setzten uns nebeneinander, zogen Jacken, Pullover, Schuhe und Strümpfe aus, ließen die fast heiße Sonne unsere helle Haut bescheinen, nur den gleichgültigen Blicken der Möwenkolonie gegenüber ausgesetzt, und schauten auf die Ostsee, die etliche Meter unter uns wogte. Dort im dunkelblauen, ruhigen Wasser zogen Schwäne majestä­tisch ih­re Bahnen, und verschiedene Entenarten folgten den uralten Paarungsritualen zur Zeit des beginnen­den Frühlings. Wir teilten unsere Äpfel, tranken hier und da ein Schluck Wasser, lauschten der Stille, ließen die Wärme bis in unser Innerstes dringen und öffneten unsere Herzen weit für die Ge­räusche, Farben und Gerüche der unberührten Natur. Fühlten den leisen Wind und schauten in die sich langsam bewegenden Wolken. In unmittelbarer Nähe, auf einer kleinen gelben Blume, hatte ein Tagpfauenauge seine Flügel weit aufgespannt, um sich mit Wärme zu füllen. Die Natur, all die Pflanzen und Tiere, hatten uns so selbstverständlich als Gäste aufgenommen, dass wir keine menschlichen Geräusche hören mochten, nicht einmal unsere eigenen Stimmen. Wir brauchten sie auch nicht. Als wir auf einer kleinen idyllischen Anhöhe eine hölzerne Bank in der Nähe des An­le­gers entdeckten, ließen wir uns dort nieder und blickten in die unendliche Weite. Wohin wir auch schauten, überall lagen kleine, manchmal winzige Inseln im Meer, bevölkert von allen möglichen Arten von Möwen oder schwarzen Kormoranen, denen wir beim fasziniert beim Tauchen zuschau­ten, immer wieder überrascht davon, wo diese Tiere schließlich wieder auftauchten. Nichts um uns her­um schien von Menschenhand beeinflusst. Schweigend lehnten wir unsere Köpfe aneinander, teilten den letzten Apfel und brauchten einander nur in die Augen zu schauen, um sicher zu sein, dass wir nicht nur zum Glück unserer Kindheit, sondern zu uns selbst und vor allem der längst vergessenen Seelenver­wandtschaft, um deretwillen wir schon früh ein Paar geworden waren, zu­rückgefunden hatten. Überwältigt von der endllich wieder wahrgenommenen Nähe zueinander, die schon so lange durch Alltagsroutine, Termine und allerlei als wichtig empfundene Dinge fast gänz­lich zugeschüttet worden war, sahen wir uns in die Augen, und wir wussten: Wenn wir in morgen in unseren normalen Alltag zu­rückkehren würden, wären wir nicht mehr dieselben wie vor dieser Rei­se.
Ein plötzlicher, unangenehmer Ton ließ uns aufschrecken! Das Schiff! Wir rafften, so schnell es ir­gend ging, unsere Sachen zusammen und rannten wie seit Kindertagen nicht mehr. Nur mit Mühe er­reichten wir die Fähre, fielen erschöpft auf eine Polsterbank und sahen dann zu, wie sich unser Pa­ra­dies langsam, aber sicher entfernte.
Einige Minuten später brachte ich hervor: „Kaffee! Ich brauch\' dringend einen Kaffee!“ Mit dem heißen Getränk in der Hand entwickelte sich bald eine angeregte Unterhaltung.Wir konnten in Wor­te fassen, was mit uns geschehen war, und waren dankbar, dass uns das Leben quasi wiederge­schenkt worden war.
Wenn ich heute, Jahre später, an Schweden denke, ist nur die Erinnerung an diese winzige Insel wirklich real. Unser Leben geht weiter wie immer. Das Alltagsallerlei ist erbarmungslos, gönnt uns kaum Freiraum für das drängende Bedürfnis, das seit damals wieder erwacht ist. Oft sind uns nur Augenblicke des Glücks und der Nähe möglich, obwohl es dazu nichts weiter bedarf außer ein wenig Zeit. Und so nutzen wir jede Lücke zwischen den vielen Verpflichtungen und Terminen, um durch jede Pfütze, jeden Vogel, jeden Käfer und jedes Bächlein in unser Arkadien einzutauchen und uns mitein­ander und aneinander ein ums andere Mal zu freuen. Heute brauche ich nur nach innen zu schauen, um in dieses sagenumwobene, ja mythische Land einzutauchen.
 



 
Oben Unten