Atavismus

Atavismus

(von Wolf-Peter Wille)


Lieber Wolfgang,

[Sonntag:]

ich soll Dir also erzählen von unserem Leben auf dieser merkwürdigen Insel. Irgendetwas, offensichtlich, stimmt hier nicht. Liegt es am verrückten Wetter, an El Niño? Wie von einer bevorstehenden Naturkatastrophe, einem Erdbeben etwa, künden seltsame Phänomene, die wir bei Menschen und Tieren beobachten, aber im Jahr des Hundes soll man sich darüber wohl nicht wundern. Bei unserem Einkauf für das chinesische Neujahrsfest spürte ich in den dampfenden Garküchen und im Gedränge der Schaulustigen vor den Erdnussständen der traditionellen Dihua Strasse eine fast ärgerliche Energie, als die Händler ihre Ware zum Takt von Rap-Rhythmen anpriesen. Meine Sophia, sie handelt gern, kaufte fünf Sack Erdnüsse. Ja, das ist die City.

[Dienstag:]

Wir sind zunächst aufs Land gezogen, Wolfgang. Hier glaubten wir, unsere Ruhe zu finden. Falsch! Du kannst Dir kaum die kakophonen Konzerte vorstellen, die wir in den langen Morgenstunden hören, wenn wir uns im Bett verstecken, furchtsam, wie gelähmt. Zunächst ist da das mächtige akustische Netzwerk der Hunde, das mich an die 101 Dalmatiner erinnert. Manchmal klingt das leise Bellen wie durch den Äther von den fernen Dörfern und Bergen herüber; dann wieder scheint ein gräulicher Kläffer unserem eigenen Schlafzimmer zu entstammen. Es ist eine gigantische Plauderecke. Aber plaudern? Nein, das tun sie nicht. Sie jaulen, winseln, grunzen, niesen, husten...; und jetzt haben sie auch noch ein altes Laster wiederentdeckt: das Heulen. Welch ein bizarrer Atavismus! Dies herzzerreissende, dies endlose Geheul! Erinnern sich die Viecher an ihre wölfischen Vorfahren? Bedauern sie ihre Metamorphose? Trauern sie um ihre verlorene Freiheit, ihr Sklaventum unter dem Joch des grausamen Menschen?

Aber das hündische ist keineswegs das einzige akustische Netzwerk. Die Familie der Vögel benimmt sich mindestens ebenso unkultiviert. Wer sagt eigentlich, dass Vögel singen? Nicht hier! Sie kabbeln sich und zanken wie die Marktweiber von Limoges, die Mussorgsky in seinen Bildern einer Ausstellung verewigt hat. Manchmal gibt’s auch einen lamentierenden Solisten und der beginnt dann eine endlose elegische Predigt, einen traurigen Monolog, stetig dieselben Ermahnungen wiederholend, eine rechte Vogelmantra. Hierzu kommen die Geräusche der menschlichen Spezies, das Popp-popp-popp der Basketball-Krieger vom Sportplatz, ihre scharfen Befehle, ihre triumphierenden Schreie..., kommen die Geräusche von den Baustellen, auch die Garagentüren, die stolz ihr Öffnen verkünden, die erwachenden Motoren, weinenden Autos und Babies...; unsere Müdigkeit beim Aufstehen wirst Du Dir gut vorstellen können.

[Freitag:]

Gestern morgen entschieden wir uns zu einer Wanderung. Eine heilige Stätte wollten wir aufsuchen, um unsere gereizte Laune zu bekämpfen. Der Weg führt hinab durch den Dschungel, über einen wilden Gebirgsbach und endlich wieder nach oben zur Golden Soul Pagode. In der Nähe des Flussufers trafen wir den alten General. Er hockte neben einem winzigen Erdgottschrein, rauchte eine Zigarette und las die letzte Ausgabe des Taipei Boten.
“Schau”, sagte ich zu Sophia, “er liest den Boten.”
“Dummkopf!” erwiderte sie. “Hast Du keine Augen in Deiner Rübe? Kannst Du nicht sehen, dass er Le Chien liest?”
“Dreck! Es ist der Bote!” argumentierte ich und verlieh meiner Aussage mit einem Schlag des Schirmes die notwendige Beweiskraft. Nachdem unser Dialog also friedlich beendet war, erreichten wir die Pagode. Wie lieblich ist die Aussicht über das Tal hin auf die fernen Berge! Aber nicht gestern. Es regnete, wie man im Englischen sagt, Katzen und Hunde, und die Räucherstäbchen vor dem Buddha vermischten ihren süsslichen Rauchgeruch mit den feuchten Ausdünstungen der Erde.

Als wir den Tempelbezirk verliessen, wurde mein Ohr von einem höllischen Geknurr verletzt. Da, plötzlich, begann ein zweites Tier, wild zu bellen.
“Was ist los?” fragte ich Sophia, aber, als ich mich umdrehte, war sie verschwunden.
“Sophia!” rief ich. “Wo bist Du?”
Ein Kläffer war alles, was ich vernahm. Dann sah ich sie an der Ecke der Strasse. Sie hatte sich verändert. Sie schien einen Buckel zu haben, wie jemand, der an Osteoporose leidet, und mit weit vorgestrecktem Nacken bellte sie den Hund an.
“Hör auf damit, Sophia! Das Mittagessen wartet zuhause!”
“Wuff!”
“Kommst Du, oder nicht?!”
“Wuff!”

Ich hatte keine Wahl. Alleine wanderte ich heim und trank meine süsse Kartoffelsuppe mit Ingwer. Sophia würde sicher bald kommen. Als sie um 1Uhr noch nicht zu Hause war, nahm ich einen Napf heisser Kartoffelsuppe und wanderte zurück, durch den Dschungel, zur Pagode. Ich fluchte heftig als ich über die Wurzeln durch das Dickicht stolperte mit der heissen Suppe in der linken und meinem Schirm in der rechten Hand, aber den Schirm würde ich sicher noch benötigen, um die Köter fortzujagen. In der Nähe des Flussufers sah ich den alten General wieder auf seiner Zeitung hockend. Er war viel älter geworden, rauchte eine Zigarette und seine Haut schaute wie die von Lederstrumpf aus. Zuerst hielt ich ihn für einen Baumstumpf.
“Geh’ vorsichtig.” sagte er. “Der Weg ist glatt heute.”
“Danke.” sagte ich.
“Und..., guten Appetit.”
“Danke.” sagte ich.

Ich hörte das Bellen bereits von ferne. Es waren sicherlich nicht nur zwei Tiere. Sophia schien glücklich adoptiert von einer grossen Meute gieriger Biester, die unter wütendem Gekläff meiner Suppe nachjagten.

Ich hatte keine Wahl. Ich sank auf die Pfoten nieder und teilte mein Mahl mit der ganzen Familie.
 



 
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