Auf und Ab

Rainer Heiß

Mitglied
Auf und Ab

Wozu sollten Reiseführer dienen? Doch wohl um dem Reisewilligen sein Ziel näher zu erläutern, so weit zumindest, wie ihn das als Unwissenden nicht überfordert. Schon beginnt die crux: Haben alle, die je von Italien berichteten, uns schonen wollen, weil wir mit dieser nationalen Kuriosität, von der zu berichten seit ewig niemand wagte, nichts würden anfangen können? Dabei ist diese seltsame Gewohnheit unserer südlichen Mit-Europäer nicht so schwierig zu beschreiben, nur zu verstehen, oder gar zu deuten. Dachten alle Merian-Autoren, die uns vom Treiben auf dem Stiefel schrieben, sich der Berichterstattung unfähig? Oder glaubten sie, uns würde das Verständnis fehlen? Nein, viel naheliegender: Dieses Brauchtum ist einfach zu abstrus, als dass man es einem seriösen Reiseführer anvertrauen möchte. Versäumnis!, schreien da die Aufklärer, und Recht haben sie!
Egal, welche italienische Stadt der Ahnungslose ansteuert, überall wird er auf dieses Fänomen treffen: gewaltige Menschenströme, plaudernd, einem unbekannten Ziel zustrebend. Nichts wie hinterher, denkt der Tourist, Attraktionen werden dort wohl lauern, dass mir die Spucke weg bleibt! Auf dem Weg, die Menschenmassen verdichten sich, die Neugier steigt, fällt bereits auf, dass die Seiten- und Parallelstraßen, wirft man trotz des unbändigen Entdeckerdrangs einen Blick nach rechts oder links, obwohl sie sich in nichts von der dicht frequentierten Straße unterscheiden, ausgestorben zu sein scheinen. Nun gut, egal! Irgendeine Sensation wird uns am Ziel dieser Promeniermeile - denn eine Meile ist dieser Catwalk leicht - schon erwarten. Dann, die Füße bereits deutlich erhitzt, kommt man an einem Wendepunkt an, wo sich mit viel Glück eine Eisdiele befindet; sonst nichts! Dieses unmotivierte Auf und Ab, wobei Auf und Ab sowohl das Treiben als auch die dazu benutzten Wege bezeichnet, findet sich in jeder italienischen Stadt: Die Einheimischen mischen sich dort mit den angelockten Besuchern zu einem bunten Treiben, das einzig darin besteht, eine bestimmte - wer weiß, in welch grauer Vorzeit die genaue Route abgesteckt worden ist? - Tour hinter sich zu bringen. Bei uns heißt das Volkswandertag und man bekommt am Wendepunkt oder in Wegbiegungen von IVV-Ehrenamtlichen einen Stempel in die Karte. Nicht so in Italien. Straßen, ohne Geschäfte, Bars, Bistros oder irgendeiner sonstigen Lustbarkeit müssen täglich von Einbruch der Dunkelheit bis zum Morgengrauen plaudernd abmarschiert werden.
Doch Vorsicht! Jede Stadt hat hat ihr eigenes Auf und Ab! Die Wendepunkte, wo die Menschenströme ohne ersichtlichen Grund auf dem Absatz kehrt machen, manche scheinen in ein leichtes sinnierendes Grübeln zu verfallen ob ihres eigenen Tuns, indem sie stehen bleiben und den Blick in die Ferne schweifen lassen, doch nur kurz!, sind variabel. Bei der Erforschung jener heute sinnlos erscheinenden Tätigkeit - etwa so wie ein Hund sich vor dem Hinlegen mehrmals im Kreis dreht, einst zum Niedertrampeln des Steppengrases, heute nur mehr instinktive Gewohnheit - haben sich feine und verwirrende Unterschiede gezeigt: Manche Auf und Abs haben am einen Ende einen Kreis (natürlich scheinbar beliebig gewählt, aber wer weiß das schon?, also besser mitmachen!), andere einen dicht bevölkerten Platz, wo die Jugend sich mit den Alten vermengt und herumsteht, um nach einer in der Hirnrinde gespeicherten Verweildauer aufzubrechen, und das Auf und Ab in entgegengesetzter Richtung erneut abzuschreiten. Wieder andere Städte haben in ihr Auf und Ab selbst bereits und nicht erst in dessen Wendepunkte Lokalkolorit gebracht, indem sie es teils rechtwinklig, teils in irgendeinem Winkel, abknicken ließen, um es in einer anderen unbeleuchteten Straße fortzuführen.
Nirgends Musik, nirgends eine Sehenswürdigkeit, kein Cafe, keine Bar - nur eines haben die Auf und Abs gelegentlich gemein: Die Italiener, ein Volk von Jägern und Fischern, haben einen starken Zug zum Wasser; ist also ein Flüsschen in der Nähe, muss man sich nur dorthin begeben, schon stößt man zumindest auf das Auf und Ab, in der Regel aber sogar auf einen Wende- und Verweilplatz.
Bei der ersten Begegnung mit einem Auf und Ab staunt der Tourist ungläubig, bei den nächsten Nachtwanderungen wird er aufmerksamer, das bloße Staunen weicht einer - so sind wir Deutschen halt! - wissenschaftlichen Analyse. Es ist nämlich bei weitem nicht so viel Schlendervolks unterwegs, wie es zunächst scheint. Haben die Italiener von Rommel, dem Wüstenfuchs, der seine Truppen stets mehrmals an gegnerischen Stellungen vorbeifahren ließ, um eine unbesiegbar große Armee vorzutäuschen, gelernt? Und zeigen dies darin, dass die Menschen immer mehrmals - wer mitzählt, kommt zu dem Ergebnis, dass tapfere Auf und Ab-Profis des Nachts leicht ihre zehn Kilometer und mehr absolvieren - hin und her wandern. Auch das bleibt wohl unergründlich.
Nur wenige Städte scheren aus der völlig unmotivierten Routenplanung aus: in Pisa etwa gelangt man am einen Ende des Auf und Ab zum Schiefen Turm. Das ist aber eine Ausnahme. Wer sich dieses nächtliche Spazieren anschauen will, darf nichts erwarten als nächtliches Spazieren. Haben die Italiener alleine - denn Straßenbeleuchtung ist dort natürlich keine; nichts zu beleuchten, keine Beleuchtung! - Angst im Dunkeln? Welch außergewöhnliches Ereignis zur Einrichtung dieses Brauchtums führte, blieb dem Autor verborgen. Immerhin hielt es sich tapfer, denn Grund gibt es wirklich keinen, genau diese Wege abzuschreiten, die sich in rein gar nichts von den Parallelstraßen unterscheiden, trotzdem wird der Italiener bei Einbruch der Dämmerung nervös, scharrt zuhause unruhig mit den Füßen, bis er nicht mehr anders kann: Er muss seine Schuldigkeit tun und mindestens einmal das örtliche Auf und Ab begehen. Also packt er die komplette Familia, Omas, Opas, schreiende Kinder, Frau, ok, auch die Frau, Freunde, Tanten, Onkels, präzise gesagt also alle, die irgendwie direkt oder telefonisch erreichbar sind, schnappt sie und geht mit ihnen auf den Wegen der Vorväter auf und ab.
Hat man akzeptiert, dass sich auf dem Weg nichts finden wird, außer pflichtbewusst nachtwandernden Italienern, kann so ein Auf und Ab so manche Urlaubsnacht in der Erinnerung hell erleuchten! Also: in Italien abends nicht einfach zuhause bleiben oder nach einem Cafe suchen, sondern den Einheimischen gleichtun und Auf und Ab!
 
B

Bruno Bansen

Gast
Auf und ab...

Als alter Italien(Toscana-)Kenner, kann ich beurteilen und bestätjen: So isses, hervorragend beschrieben, kaum zu glauben aber bei den Lemmingen ist das ja... nicht ganz...aber fast...na, egal, gut getroffen, macht Spaß zu Lesen, mir fehlt aber'n bißchen sone klitzekleine Poengte, damit man weiß, zum Schluß, warum man durchgehalten hat.

Gruß! Bruno
 

Rainer Heiß

Mitglied
Treffer!

Hi Bruno,

du hast Recht, die story über dieses Fänomen ist tatsächlich letztes Jahr in der Toscana gereift; Pointe? Stimmt, hat sie keine; und du meinst, sie bräuchte eine... wie sollte die denn aussehen? Zunächst mal Danke für deine Anregung, vielleicht komm` ich ja selbst noch auf einen zündenden Schlussgedanken. Mehr zur Toscanafahrt 2000 übrigens im Sonstiges-Forum.
Grüße, Rainer
 



 
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