Augen. Blicke.

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knychen

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Augen. Blicke.
Eine chronologische Sammlung


Der Regenbogenblick

Sommer 1968
Gleich als der Wolkenbruch mit ein paar letzten blasigen Tropfen auf den frischen Pfützen sein Ende ankündigte, haben wir Kinder die schützenden Verstecke verlassen und wieder tobt die wilde Jagd um die ziegelroten Mietshäuser.
Zu jedem Haus gehören drei Treppenaufgänge, zu jedem Aufgang vier Wohnungen und zu jeder Wohnung eine kleine heckengesäumte Parzelle direkt am Haus. Zwischen Häusern und Gärten, teilweise zwischen den Gärten oder auch durch ungenutzte hindurch verlaufen rechtwinklig abbiegende Sandwege.
In diesem Sommer 1968 habe ich auf einem sogenannten Bambirad das Radfahren gelernt und meinen Aktionsradius nicht unerheblich erweitert.
Stolz schaue ich auf jene herab, die immer noch mit dem Tretroller herumjuckeln.
Vor allem der Rücktritt des Fahrrades hat mich sofort beeindruckt. Will man aus voller Fahrt heraus auf einem der Sandwege abbiegen, muss man nur den Rücktritt betätigen, den Lenker erst in die richtige, dann sofort in die entgegengesetzte Richtung einschlagen und sich mit dem kleinen Hintern das blockierende Hinterrad zurecht schieben.
Das hat eindeutig Stil.
Der Parcours um das Haus verläuft vorn an der Hauptstraße ein kleines Stück auf dem mit Steinplatten gepflasterten Fußweg. Ich rase durch spritzende Pfützen, schleudere um die Ecken und staune nebenher über den wie frisch gewaschenen und nun wieder blauen Himmel.
Dann will ich von den Steinplatten nach rechts zur Hausnummer 57 abbiegen.
Irgendetwas stimmt aber diesmal bei meiner Aktion nicht.
Das Heck meines bronzefarbenen Flitzers dreht sich viel zu leicht und vor allem viel zu weit nach links, bricht aus und schon knalle ich auf die nassen und dampfenden Steine. Die Verwunderung über die soeben erlebte Unkontrollierbarkeit des Fahrzeuges weicht einem Funkenflug im Kopf und dann einem Schmerz, der mich sofort komplett ausfüllt. Eine Horde Kinder bringt mich schreiend und erklärend zu meiner Mutter.
In der Küche dreht Mutter mein Gesicht zum Fenster und begutachtet im Licht der Nachmittagssonne meine Stirnverletzung. Dann greift sie in das Besteckfach unseres Küchenschrankes und holt das breiteste Messer heraus. Nach kurzem Abkühlen unter kaltfließendem Wasser drückt sie mir die Breitseite der Klinge auf die Brüsche an der Stirn. An ihren kühlen Händen vorbei schaue ich mit tränengefüllten Augen in den Himmel.
Plötzlich glitzert die Welt in allen Farben und wenn ich die Augen zusammenkneife, verändern sich diese Farben – werden kräftiger oder schwächer, blitzen kurz auf oder ziehen sich in Bögen dahin.
Ich kann Regenbögen machen.
Heute weiß ich ein wenig Bescheid über das Wesen der Spektralfarben und ich habe auch gelernt, dass der erste Regen nach langer Trockenheit den Staub aus der Luft wäscht und die Strassen schmierig macht. Aber wenn mir aus irgendwelchen Gründen ein körperlicher Schmerz die Tränen in die Augen treibt, schaue ich wie damals ins Licht.
Ablenkung ist immer noch die beste Medizin.



Der mitfühlende Blick

Herbst 1973.
Eine Woche Herbstferien bei den Großeltern steht auf dem Programm.
Ich bin neun Jahre alt und durchstreife mit meinem zwei Jahre älteren Bruder die Wälder in der Nähe von Storkow.
Wir sind Trapper und wollen uns von dem ernähren, was wir selbst erjagen. Unsere Fahrtenmesser sind an den Ufersteinen des Kanals frisch geschärft und stecken an den Gürteln in Lederscheiden. Für den Notfall hat uns die Oma ein paar Klappstullen mitgegeben.
Das hügelige Stück Kiefernwald, durch welches wir lautlos schleichen, heißt Türkenberge.
Am Rande von Türkenberge stoßen wir auf einen abgeernteten Mohrrübenacker. Hier und da schimmert aus der braunen und vom Nieselregen klebrigen Erde ein Möhrenrest. Dunst hängt über der Landschaft und lässt schon in geringer Entfernung alles in einförmigem Grau erscheinen.
Wir sind im Jagdfieber und suchen nach ganzen Möhren.
Als ich eine finde – lang und dick wie ein ausgereifter Maiskolben – kratze ich mit dem Messer den Dreck von der Schale. Dann will ich sie aufspießen. Ich halte die Möhre mit der rechten Hand und steche die Klinge von unten nach oben mitten durch meine Beute.
Wir haben gut geschärft....die Schneide dringt mir mühelos in den rechten Daumen.
Zeitgleich mit einem Knirschen am Knochen des oberen Daumengliedes - welches ich mehr spüre als höre - setzt ein Schmerz und zeitnah auch mein Gebrüll ein. Blut quillt hervor, sucht sich Bahn an der Hand herab und beginnt zu tropfen. Mein Bruder ist genauso erschrocken wie ich. Von Blutvergiftung wissen wir nicht viel, umso größer ist die Angst.
Am Rande des Ackers sieht mein Bruder plötzlich eine Bewegung.
Da kriecht etwas über die Erde, hört wohl mein Gebrüll und richtet sich auf.
Ein Mensch.
Ein Mann.
Mein Bruder rennt hin, ich stolpere mit empor gerecktem Daumen tränenblind hinterher.
Als wir heran sind, begreift der Mann, holt ein großes Taschentuch heraus und wischt mir Rotz und Tränen aus dem Gesicht. Dann betrachtet er meine Verletzung.
Der Mann sieht aus wie die Landschaft – braun und feucht. Er ist groß und massig und auf dem fast kahlen Schädel sind unregelmäßig graue Stoppeln verteilt. Seine Hose und Jacke sind ausgeleierte Kleidungsstücke aus einem Material, das ich damals nicht kannte, das ich aber heute als Manchester bezeichnen würde. Neben ihm liegt ein halbvoller Sack.
Auch der Mann sammelt Reste auf diesem Acker.
In seinem Gesicht schimmern an einigen Stellen ebenfalls graue Stoppeln.
Vom linken Stirnrand herab über die darunter liegende Braue und Wange, beinahe schon mittig über den Mund und bis auf die Kinnspitze verläuft eine fast schnurgerade und unterschiedlich stark ausgeprägte Narbe. An der gespaltenen Unterlippe hängt ein durchsichtiger Spuckefaden. Der Mann wischt sich mit dem Handrücken über den Mund und murmelt undeutlich etwas wie: "Nu, nu, wird schon..."
Es soll mich wohl beruhigen.
Seine Finger sind braun, seine Nägel brüchig und verdreckt. Er greift in die Innentasche seiner Jacke und holt ein kleines graues Päckchen heraus. Es sieht aus wie eine kurze Wurst mit abgeflachten Enden. Ich erkenne kurz ein aufgedrucktes Zeichen - es ist das verbotene Hakenkreuz.
Ich habe Angst.
Mit einer Hand und den Zähnen reißt er das Päckchen auf und holt einen in dieser Umgebung irritierend sauberen und weißen Packen Verbandsmaterial heraus. Dann reinigt er meine Wunde und begutachtet sie nochmals mit schräg gelegtem Kopf. Sehen kann er nämlich nur mit dem rechten Auge. Das linke ist milchigweiß und während das rechte Auge sich bewegt oder das Lid auf und zu klappt, bleibt links alles starr und offen.
Der unheimliche Mann wischt sich erneut den Spuckefaden von der Lippe, grunzt befriedigt und umwickelt fachmännisch meinen Daumen. Den Knoten am Ende setzt er exakt nicht zu locker und nicht zu fest. Dabei fixiert sein bewegliches Auge abwechselnd sein Werk und mein Gesicht.
So schaut man, wenn einem jemand leid tut.
Zum Schluss sagt er: "Die Klinge immer weg vom Körper", zerstrubbelt mir das Haar, dreht sich weg und kniet wieder nieder auf die abgeernteten Furchen.
Den Sack hinter sich her zerrend, schaufelt er weiter mit der bloßen Hand nach Möhrenresten.
Der Mann war nicht alt.
Er hatte ungefähr die Mitte zwischen unserem Vater und unserem Opa.
Heute denke ich, dass seine Narbe von einem Spatenhieb stammen könnte – zweiter Weltkrieg, Grabenkämpfe, vielleicht nur eine exakte Handvoll Jahre älter als wir in diesem Herbst 1973. Wahrscheinlich hat er seitdem immer ein Verbandspäckchen dabei.
Die Narbe an meinem Daumen ist mitgewachsen und weiß geblieben. Sie erinnert mich daran, immer die Klinge weg vom Körper zu halten.
Habe ich damals eigentlich Danke gesagt?



Der zynische Blick

Frühjahr 1989
Der große Exodus der DDR hat noch nicht begonnen und ich blicke zuversichtlich in die Zukunft.
Mit einem Kumpel renoviere ich gerade meine neue Wohnung in der Krüllstraße im Ostberliner Stadtbezirk Treptow.
Die Krüllstraße liegt im sogenannten Kunger-Kiez und dieses Wohngebiet ist von drei Seiten wie eine Halbinsel von der Mauer umgeben. Dementsprechend wenig Durchgangsverkehr gibt es dort und an den Wochenenden ist es für eine Großstadt fast schon unheimlich ruhig.
Ich freue mich auf das Wohnen dort.
Im Moment läuft es allerdings mit dem Renovieren nicht so richtig und schnell haben wir auch die Ursache gefunden - es ist der Durst.
Wir gehen zum Bermudadreieck.
Das Bermudadreieck ist eine Kreuzung mit drei Kneipen auf engstem Raum – ganz böse Falle. Aber immer auch eine Herausforderung für die Willenskraft. An diesem Abend verlieren wir und es wird Mitternacht, als wir angenehm beschickert den Heimweg antreten.
Ich beschließe, meinem Kumpel die Ungerechtigkeit dieser Welt zu zeigen und wir machen einen kleinen Umweg zum Schmollerplatz. Dort stehen die meiner Meinung nach schönsten Altbauten, aber leider befinden sich die Eingänge hinter einem Schild, welches ein Voranschreiten nur mit Passierschein erlaubt. Am Ende des Hauses sieht man die Vormauer und wer dort im Erdgeschoss wohnt, kriegt die Bude wahrscheinlich nie richtig hell.
Genau an dem Verbotsschild bleiben wir stehen und quatschen so vor uns hin, als aus dem nächstgelegenen Eingang ein Polizist hervor kommt und uns anblafft.
"Was machen sie hier? Ausweise und Passierscheine!"
Unser Hinweis, dass wir ja noch vor dem Schild stehen, bringt ihn nur dazu, ein "Verstärkung zum Schmollerplatz!" in sein Funkgerät zu keifen. Ruckzuck ist die Verstärkung auch vor Ort, erst zwei, drei Uniformierte zu Fuß, dann kurz nacheinander auch noch zwei Streifenwagen. Wir sind richtiggehend überrumpelt, werden in Handschellen geschlossen und los geht die Reise durchs nächtliche Ostberlin.
Endpunkt ist nach Zwischenstation im Revier an der Bulgarischen Straße und einem wahrscheinlich vorgeschriebenen Besuch beim Arzt zwecks Überprüfung des Alkoholpegels eine Stadtvilla in Ortsteil Johannisthal.
Nach einer Weile sinnlosen Grübelns in einer Zelle werde ich – immer noch mit Handschellen – in ein dämmeriges Büro gebracht. An dem aufgeräumten Schreibtisch sitzt ein vielleicht vierzigjähriger Mann in Zivil und telefoniert sehr leise. Als er damit fertig ist, lehnt er sich entspannt zurück und fragt mich nach kurzem Mustern vorwurfsvoll, was ich mir eigentlich 'dabei' gedacht hätte.
Ich bin mir natürlich keiner Schuld bewusst und sage, dass ich überhaupt nichts sagen werde und schon gar nicht, wenn meiner Freundin in der zu renovierenden Wohnung nicht möglichst schleunig jemand sagt, wo ich bin. Weil sich diese meine Lebensgefährtin nämlich darauf verlässt, dass ich spätestens um sechs Uhr in der Frühe zu hause bin. Weil sie nämlich weit vor dem Wecken zur Arbeit muss und ich dann den Kleinen zur Kinderkrippe bringen muss.
Und erst recht nicht, so sprach ich weiter, werde ich mit jemandem reden, der zwar meinen Ausweis in Händen hält, es aber nicht für nötig erachtet, mir zu sagen, wer er denn eigentlich sei.
Der Mann nimmt wieder das Telefon auf, wählt eine kurze Nummer und sagt: "Krüllstraße achtzehn, bei Kny, sag Bescheid, dass Ronald Kny erst mal wegbleibt. Überzeugt euch, ob da ein Kleinkind ist, ansonsten bringt die Hure gleich her."
Wieder lehnt er sich zurück, ich sitze aufrecht auf der Stuhlkante, die Hände in der Acht vor mir auf dem Tisch.
Er kostet ein wenig meine Wut über das Gehörte aus, dann beginnt er im Plauderton:
"Also dass ich hier nicht der Hausmeister bin, werden Sie ja wohl schon mitgekriegt haben....ich bin der Oberleutnant Ehrlich und..."
"Der Name ist doch gelogen" entfährt es mir.
Sein Stuhl poltert nach hinten, er kommt mir sehr schnell über den halben Tisch entgegen und ich bekomme ein lange gerade Rechte in die Fresse. Natürlich mache ich nicht mal ansatzweise den Versuch, mich zu wehren – man will ja schließlich nicht unnötig provozieren.
Man bringt mich wieder in die Zelle.
Dort gibt es noch mal Dresche – diesmal von zwei kräftigen unteren Dienstgraden in Grün und irgendwann am späten Morgen händigt mir Oberleutnant Ehrlich meine Papiere aus.
Mit unterirdischem Humor gibt er mir ein "Und in Zukunft reißen Sie sich mal am Knieriemen" mit auf den Weg.
Ich frage ihn noch – rein hypothetisch natürlich – was denn eigentlich passiert wäre, wenn ich reflexartig zurückgeschlagen hätte.
Sein Gesicht bekommt einen fast genießerischen Ausdruck und mit zutiefst zynischem Blick antwortet er:
"Dann wärste schon im Haus am See."
Im Ostberliner Jargon stand diese Bezeichnung für die Haftanstalt an der Rummelsburger Bucht.
Da begriff ich endlich, wie knapp es diesmal war.
Rückblickend würde ich schon gern noch ein paar Dinge mit dem Oberleutnant Ehrlich bereden.
Ungelogen.



Der verschwörerische Blick

Sommer 1991
Anfang der Neunziger lief im Nachmittagsprogramm bei SAT1 eine amerikanische Fantasyserie mit dem Titel "Die Schöne und das Biest".
Ort des Geschehens war ein meist dämmeriges Paralleluniversum unter New York.
Der männliche Protagonist hieß Vincent und war eine Mutation aus Mensch und Löwe.
Mit entsprechender Mähne und gekleidet in braunes Leder im Vintage-look trat er an gegen das Böse der Oberwelt und war der Held vieler Kinder. Auch mein Ziehsohn – geboren 1987 – ließ sich kaum eine Folge entgehen.
An diesem Tag jedoch hat er verzichtet, denn wir haben Karten für den Zirkus.
Es ist nur ein kleiner Zirkus, der da auf dem ehemaligen Todesstreifen – dort wo heute wieder die Harzer Straße verläuft – Station macht.
Die Tiere sind räudig, die Kostüme viele Male geflickt, die Kinder trotz allem begeistert.
Es ist ein sonniger Samstagnachmittag und mein Sohn und ich sitzen im Halbdunkel des blauroten Zeltes. Weil ich erst in der vergangenen Nacht von einer anstrengenden Tour Berlin-Valencia-Köln-Valencia-Berlin zurückgekehrt bin, habe ich die Lider auf Halbmast und genieße einfach das Beisammensein mit dem Kind.
Aber da ist noch jemand, der - oder besser - die sich nicht für das eigentliche Geschehen in der Manege interessiert.
Ein kleines Mädchen in der Reihe vor mir kniet falsch herum auf ihrem Sitz, umklammert mit den Fingern den oberen Rand der Rückenlehne, hat ihr Kinn auf die Finger gelegt und starrt mich an.
Stumm.
Eine Weile schaue ich mir das mit fast geschlossenen Augen an, dann nicke ich ihr ein wenig mit der Kinnspitze zu.
Sie kommt mit dem Oberkörper noch ein Stück in meine Richtung und fragt flüsternd:
"Bist du Vincent?"
Tja, da sitze ich nun: vierzehn Tage nicht rasiert, das blonde Haupthaar wirr über die Schultern, abgeschabte braune Lederjacke und –hose am Leibe und ringsum ist es schummrig wie in einem Tunnel.
Nun beuge auch ich mich vor und mit meiner knurrigsten Stimme raune ich ihr vertrauensvoll zu:
"Aber verrat mich nicht."
Die Kleine bekommt ob des soeben erfahrenen 'Geheimnisses' einen funkelnden, stolzen und vor allem verschwörerischen Blick, schüttelt leicht den Kopf und dreht sich endlich auch der Manege zu.
Ob sich die junge Frau, die das Mädchen von damals heute sein müsste, diese Kindheitserinnerung erklären kann?



Der gequälte Blick der Kreatur

März 1993
Die breite Landstrasse südöstlich von Moskau ist voller Schneematsch und man erkennt die Schlaglöcher erst, wenn man hineinpoltert.
Es poltert oft.
Der Verkehr tendiert Richtung Null und ich bin mit Material für eine deutsche Baustelle in der Nähe der russischen Provinzstadt Tambow unterwegs.
Alles ist grau an diesem Tag – mein Vierzigtonner, der Schnee neben der Strasse, der Himmel und auch dieser seltsame Fleck etwa hundert Meter vor mir in der Rinne, der mein linkes Vorderrad folgt.
Aber der Fleck ist nicht nur grau.
Am rechten Rand ist er rot und als Ganzes bewegt er sich aus meiner Spur in Richtung Straßenmitte.
Ich fahre ungefähr Tempo 60. Bei diesem Tempo legt man pro Sekunde etwa sechzehn, siebzehn Meter zurück und es bleibt genug Zeit zum Reagieren.
Als ich dem Fleck näher komme, erkenne ich einen Schäferhund, dem jemand das Hinterteil breitgefahren hat.
Auf den Vorderpfoten schleppt sich das Tier über die Strasse und zieht sein malträtiertes Heck mit heraushängenden Darmschlingen hinter sich her.
Ich bin nun zwanzig Meter vor dem Hund.
Er liegt hechelnd auf der Straßenkrone zwischen meiner und der Gegenspur und schaut zu mir herauf. Nein, eigentlich schaut er nicht zu mir, sondern zu dem großen bedrohlichen Fahrzeug, das da auf ihn zu kommt.
Aber sein Blick trifft mich doch mit voller Wucht.
Ich deute den Blick als Bitte, schlage das Lenkrad kurz ein, es rumpelt unter der Triebachse, dann weiter hinten noch mal und schon bin ich wieder in meiner tief ausgefahrenen Spur.
Gewissensbisse?
Nein.
Nicht ein einziges Mal.



Der ultimativ erste Blick

November 1998
Ich sitze im Krankenhaus Friedrichshain neben einer großen unförmigen Badewanne und halte eine angefeuchtete Stoffwindel in der rechten Hand. Den linken Arm kann ich nicht bewegen, denn den umkrampft meine Frau.
Sie sitzt mit abgekämpftem Gesicht in der Wanne und wir befinden uns in der heißen Phase der Geburt unseres Kindes.
Ab und an tupfe ich ihr mit dem Tuch Gesicht und Lippen ab.
Über der Wanne leuchtet eine große grelle OP-Lampe und lässt das ansonsten klare Wasser honigfarben scheinen.
Eine halbe Stunde zuvor hat man meiner Frau eine undefinierbare Spritze gegeben, denn die Wehen dauern nun schon einen Tag an und es war an der Zeit, ihr ein wenig mentale Entspannung zu gönnen. Das Zeug tut Wunder und meine Frau fragt mich leise, ob wohl alle norwegischen Medizinstudenten zwei Köpfe haben. Außer dem bei Geburten üblichen Personal steht da nämlich noch – mit unserem Einverständnis – ein norwegischer Student im Praktikum.
Wieder beginnt eine Wehe.
Zwischen den Beinen meiner Frau schiebt sich ein dunkler Haarschopf hervor, dann eine kleine Stirn, dann zwei Augen.
Ende der Wehe.
Noch ist das Wasser in der Wanne glasklar und ich drehe meinen Kopf so, dass ich dem Kind dort unten nicht kopfüber erscheine.
Es hat die Augen geöffnet.
Der erste Blick eines neuen Menschen trifft mich und es interessiert mich nicht, dass da eine Stimme aus dem Off sagt:
"Sehen kann das Kind noch nichts."
Ich weiß es besser, ich schaue ja meinem Kind in die Augen und wir nehmen einen ersten Kontakt auf.
Die Hand an meinem Arm verkrampft sich ein letztes Mal und dann flutscht der ganze Körper des Kindes heraus. Das Wasser wird trübe, das Kind abgenabelt und meiner Frau auf den Oberkörper gelegt. Ganz anders ist ihr Gesicht jetzt – weich und voll von Glück.
Ein ums andere Mal stammelt sie: "Meine Tochter...meine Tochter..."
Als unsere Tochter ihren ultimativ ersten Blick in diese unsere Welt tat, war sie noch an der Nabelschnur und meine Frau hatte diese Spritze bekommen.
Ob ich für meine Tochter auch zwei Köpfe hatte?
Konfus genug war ich.



Der euphorische Blick

Sommer 2002
Rechts neben uns steht wie für die Ewigkeit gemacht der weltberühmte Pont du Gard, links neben uns weist ein Schild in unverständlichem Französisch darauf hin, dass Baden und Springen verboten ist und unter uns fließt der Gardon.
Exakte acht Meter zweiunddreißig sind es an dieser Stelle bis zur Wasseroberfläche.
Als gründliche Deutsche haben wir das natürlich ausgemessen. Als ich das dreißig Meter lange Sportmessband mit der abgeschabten braunen Lederhülle und der ausklappbaren Messingkurbel auf einem Trödelmarkt kaufte, schwebte mir genau solch eine praktische Anwendung vor.
So gründlich wir die Höhe überprüft haben, so négligent werden wir mit dem Verbotsschild umgehen.
Zumindest haben wir uns das beim Erklettern und Erkrabbeln des Ufers wortreich so vorgenommen.
Die letzten Meter allerdings wurde meine Tochter immer leiser und die Schritte mit schwindendem Abstand zur Felskante langsamer und kürzer bis zum Stillstand.
Und nun steht sie da – Felicitas, elf Jahre alt, schmal, zierlich, weißblond, einen Arm um den Oberkörper geschlungen, den anderen mit dem Ellenbogen darauf abgestützt und mit abwesendem Blick Fingernägel knabbernd.
An ihr vorbei sehe ich die vielen Worte rauschen, die ich als Sicherheitsunterweisung getarnt zum Mutmachen ausstoße. Auch ich springe schließlich nicht jeden Tag aus respektablen Höhen.
"Kreuz die Arme vor der Brust oder lass sie gerade an der Seite. Mach die einfach lang und gerade. Schau nicht nach unten mit vorgebeugtem Kopf. Vor allem fang nicht an zu zappeln, solange du noch in der Luft bist,...rhabarber...barbara...blablabla....."
Keine Reaktion von ihr.
Sie starrt auf den glitzernden Fluss, knabbert und grübelt.
Ein paar halbwüchsige Burschen, die ein Stück neben uns auf den Steinen in der Sonne sitzen, bitte ich, auf das Maßband aufzupassen. Einer von ihnen gibt mir mit einer wackelnden Handbewegung zu verstehen, dass er es der Tochter nicht zutraut zu springen, als hinter mir ein hochfrequenter Ton aus sich schnell entfernender Schallquelle erklingt.
Hastig herumwirbelnd sehe ich gerade noch eine schwach schäumende Einsprungstelle.
Fast im gleichen Augenblick taucht meine Tochter wieder auf.
Und wie sie auftaucht!
Bis zur Hüfte schießt sie aus dem Wasser und fängt sofort an, unverständliche Worte zu kreischen. Mein erster Gedanke ist, dass sie sich vielleicht wehgetan hat beim Eintauchen.
Ich springe hinterher und als ich etwa zwei Meter neben meiner wild zappelnden und schreienden Tochter auftauche, begreife ich endlich.
Rings um sie herum ist kein Wasser mehr. Feli wird von einer sprudelnden Mischung aus Dopamin, Serotonin und Adrenalin getragen und überall auf dem sichtbaren Teil ihres Körpers perlt flüssige Euphorie. Ihre Augen machen der Sonne ernsthafte Konkurrenz.
In diesem Sommer passt ihr Name hervorragend – Felicitas, die Glückliche.
Wir klatschen uns ab.
Niemals wäre ich mit elf Jahren aus einer solchen Höhe gesprungen.
Zumindest hätte ich deutlich länger gebraucht, darüber nachzudenken.





Der innere Blick

Winter 2007
Den Lkw habe ich in einem altstadtnahen Industriegebiet von Bamberg geparkt.
Es ist kurz vor Weihnachten und eine grelle Nachmittagssonne zeichnet die scharfen Schatten der Straßenbäume auf die geschlossene Schneedecke. Mein Weg in die Stadt ist mit Swarovskisteinen bestreut.
In einer Fußgängerzone finde ich ein Antiquariat, aber was mir dort gefällt, ist zu teuer und was preislich annehmbar wäre, interessiert mich nicht. Viel Karl May steht in den Regalen. Anscheinend erwarten die Touristen das in Bamberg.
Am Ende der Einkaufsstraße locken weihnachtliche Fress- und Saufbuden mit "Lasst uns froh-ho u-hund munter sein".
Ein Karussell dreht sich und rotbackige Kinder staunen mit offenen Nasenlöchern.
Ich entdecke einen freien Stehtisch mit Sonne und Windschatten und beschließe, bei einem Heißgetränk Leute zu beobachten.
"Ick nehm denn ma 'n Glühwein" ordere ich an der Bude.
"Mit oder ohne Turbo?" fragt die flinke Verkäuferin.
Ich bin kein geübter Glühweinkonsument und kann die Frage nicht so recht deuten.
"Wennet drehen soll, nimm zwee Turbo" sagt eine weibliche Stimme hinter mir.
Kurz drehe ich mich um, sehe eine blonde extrem kurzhaarige junge Frau und sage nickend zur Verkäuferin gewandt: "Wenn schon, denn richtich". Zwei Turbo sind zwei Amaretto, lerne ich dazu.
Die junge Frau ist nach mir dran und stellt sich dann mit ihrer Tasse zu mir.
Wir kommen ins Plaudern und es stellt sich heraus, dass sie auf meinen Berliner Dialekt aufmerksam geworden ist und dass sie fast aus dem gleichen Berliner Vorort stammt wie ich. Ich schätze sie auf das Alter meiner Frau, also etwa zehn Jahre jünger als ich.
Nach einer Weile kommt noch eine junge Frau, begrüßt die Blonde mit Umarmung und intensivem Kuss und ist – husch! – schon wieder verschwunden.
"Meine Freundin", erklärt die Blonde und erzählt, dass sie seit drei Jahren zusammen sind, sich aber noch nicht entschließen können, zusammen zu wohnen. Es plaudert sich angenehm bei Glühwein mit Turbo.
Mit dem Dunkelwerden passt dann auch die Musik besser zur Beleuchtung und irgendwann haben wir die gemeinsam bekannten Kneipen und Tanzschuppen unserer Heimat durch und ich will langsam los. Es stellt sich heraus, dass die Blonde ein Stück weit den gleichen Weg hat. Als unsere Wege sich trennen müssten meint sie, sie hätte noch drei Flaschen Bier im Kühlschrank und wenn ich Lust hätte...
"Klar", antworte ich.
Sie wohnt in einem uralten Fachwerkhaus. Die zur Strasse weisende Giebelwand ist weit nach hinten gebogen, der dicke Balken zwischen Erdgeschoss und erstem Stock hängt durch. Viel Lotrechtes wird es in diesem Haus nicht geben. Ein massives zweiflügeliges Tor führt in eine düstere Durchfahrt zum Hof. Die Stiege zum Obergeschoss ist eng und knarzt bei jedem Schritt. Alles erinnert mich an das Haus meiner Großeltern in Storkow. Von einem kleinen Treppenabsatz geht es in einen winzigen Vorraum. Wir ziehen die Schuhe aus und die Blonde öffnet die Tür zum Wohnzimmer. Ein Sofa, ein Sessel, ein flacher Tisch, ein Schrank und eine Kommode mit einem kleinen Fernseher.
Die Kommode steht mittig zwischen zwei niedrigen Sprossenfenstern mit einfacher Verglasung. Die quadratischen Scheiben sind voller Eisblumen und lassen nur jeweils in ihrer Mitte einen klaren Blick auf ein Fließ offen. Ich nehme an, es ist die Regnitz.
Wann habe ich das letzte mal so perfekte Eisblumen gesehen?
Dann sehe ich das Bild. Es hängt hochkant unter Glas im Posterformat etwas oberhalb der beiden Fenster – mittig wie die Kommode.
Ich erkenne Schmerz und Heilung, Hass und Liebe, Dissonanz und Harmonie, Zerrissenheit und den Versuch, alles zusammen zu halten - Fanal und Ruhepunkt.
"Von wem ist das Bild?" frage ich Richtung Küche, weil ich von dort Flaschenklimpern vernehme.
Die Blonde kommt mit zwei Bier in der Hand ins Zimmer, sieht mich vor dem Bild stehen und sagt: "Das hab' ich gemalt."
"Halleluja!" entfährt es mir, "da hat dir aber jemand weh getan."
Ihr schönes und die ganze Zeit schelmisch lächelndes Gesicht wird ernst.
Sie sagt: "Setz dich."
Und dann erzählt sie.
Sie erzählt von einer zerrütteten und doch irgendwie glücklichen Kindheit; von Eltern, die sich dann getrennt haben; von einem älteren Bruder und einer jüngeren Schwester und dann noch einer jüngeren Schwester; von einer Mutter, die gerne feierte und mit den Kindern überfordert war; von einem vorübergehenden Aufenthalt in einem Kinderheim; von einem neuen Partner der Mutter und wie dieser Mann sie das erste Mal vergewaltigte, als sie elf Jahre alt war.
Und wie es dann so weiter ging – "von oben, von unten, von hinten, von vorne". So brutal wählte sie ihre Worte.
Und wie er drohte, sie würden wieder ins Heim kommen, wenn sie jemandem etwas verriet und wie die Angst vor dem Heim größer war wie die Angst und der Ekel vor dem Mann.
Und wie die Mutter nichts mitbekam oder nichts mitbekommen wollte, aus Angst, den Mann zu verlieren, von dem sie nun ihr fünftes Kind hatte.
Und wie sie sich mit dreizehn vor ihre elfjährige Schwester stellte, als diese nun an der Reihe sein sollte und wie sie zu dem Mann sagte, dass sie zur Polizei geht, wenn er sich an der Schwester vergreift.
Und dass sie, als sie alt genug war und plötzlich die Grenzen sich öffneten, weg ging.
Und dass sie sich wahrscheinlich deshalb so schwer tut mit einem männlichen Partner.
"Die Hoffnung habe ich nicht aufgegeben, dass irgendwann der Märchenprinz vor der Tür steht" sagt sie, "aber bis dahin vergnüge ich mich eben mit Frauen."
Ob sie ihn je angezeigt hätte, frage ich.
"Der war doch auch bloß ein Opfer", antwortet sie.
Die ganze Zeit schaue ich immer wieder auf das Bild und plötzlich fühle ich mich wie in ihrem Kopf.
Die beiden eisblumenverhangenen Fenster sind ihre Augen, die etwas schräge Wand darüber ist ihre Stirn von innen und das Bild an der schrägen Wand ist das, was sie sieht, wenn sie ins Leere schaut und eigentlich nichts sehen will.
Den glitzernden Schnee beachte ich nicht mehr, als ich zurück gehe zum Lkw.
Die Frau hab ich seitdem nicht mehr gesehen.
Ob sie ihren Märchenprinzen gefunden hat?
Ich wünsche es ihr.
Sie wäre bestimmt eine tolle Mutter.
Eine starke und sehr schöne Frau ist sie auf jeden Fall.



Der große Augenblick

1991 und 1998

Das ist er also -
der große Augenblick:
Du schaust in den Spiegel
und siehst in die Augen
des Vaters.
Und im Schwarz der Pupillen -
ganz weit hinten drin -
glüht wie im Schlund eines Ofens
lodernde Freude.
Im ganzen Gesicht steht in Fältchenschrift:
Vater!
Frischgebacken!
Vielleicht nur eine simple Reflexion –
doch für den Augenblick
war es Glück.
 

knychen

Mitglied
freut mich, wenn es gefallen hat.
geschrieben hab ich die kleine sammlung für eine freundin. sie feierte letzte woche ihren siebzigsten und hat uns gebeten, nix zu schenken. wir haben das so verstanden, dass wir kein geld ausgeben sollen. eine andere freundin hat das ganze noch illustriert, dann hab ich eine alte novelle von ernst von wildenbruch auseinander genommen, den buchblock weg geschmissen, den einband neu verwendet und fertig war eine kleine edition limitée. zum überreichen des geschenkes mussten wir in den luberon nach südfrankreich, aber da wir sowieso ein paar tage in den calanques bei marseille und über das cap canaille nach la ciotat wandern wollten, war das ja ein weg. heute früh waren wir KO und erholt zurück.
besten gruss aus berlin.
knychen
 

ENachtigall

Mitglied
Ein persönliches Stück Geschichte(n), dem ich viele Leser wünsche! Vielen Dank für die Hintergrundinformation, knychen.

LG Elke
 
Deine Blicke haben mich in ihren Bann gezogen.
Ich konnte ihnen nicht ausweichen.
Und wollte das nach kurzer Zeit auch gar nicht mehr.

Ich bin in den verschiedenen Blickwinkeln versunken,
habe die Geschichten miterlebt. Nachempfunden.
Ein gutes Gefühl, derart bewegt zu werden.

Danke, kny!

G Bf
 

knychen

Mitglied
besten dank für's feedback.
seltsamerweise dauert es bei meinen wenigen beiträgen immer ne weile, bis mehrere leute warm werden mit der geschichte, dem stil - womit auch immer. da grübelt man dann und fragt sich, ob es einfach nur schlecht war oder ob vielleicht nix zu bemerken ist oder ... oder ... oder
gruß von sur la route.
knychen
 



 
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