Ausbruch aus dem Käfig

Ausbruch aus dem Käfig

Von George Müller


Da läutete an diesem hässlichen Alltagsmorgen die Glocke, und brav wie eine Schafherde strömten die freiwilligen Häftlinge zurück in ihre Gemeinschaftszellen. Grosszügige 900 Sekunden hatte man ihnen das nostalgische Gefühl, frei zu sein, zugebilligt, obwohl dieses Mass in Anbetracht der befreienden Globalisierungsbewegung schon seit Jahren auf höchstens fünf Hundertstelsekunden hätte reformiert werden müssen. Es ist jedoch eine falsche Auffassung zu glauben, die Häftlinge hätten sich dem erschallenden Marschbefehl gegenüber widerspenstig gezeigt. Was man ja eigentlich meinen könnte, markierte dieser gnadenlose Akt doch die unweigerliche und dennoch freiwillige Rückkehr in die Gefangenschaft. Innerlich aber zählte jeder Häftling sämtliche Sekunden einzeln. Denn dass er draussen im freien, engen Hof unter freien, der Mode entsprechend gekleideten Menschen frei und korrekt dastehen durfte, und dass er frei und befangen über seine freiere, mit Karriere verbundene Zukunft in einer geradezu von Freiheit übersättigten Welt reden durfte, machte ihn ganz unbewusst und doch offensichtlich zu einem gefangenen Menschen.

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Es war die Zelle 33, welche ihm so sehr gefiel. Blickte man, und dies tat er oft mit ungebändigter Sehnsucht, aus dem Fenster im hinteren Teil des Raumes, sah man über Baumzipfel auf eine saftig grüne Landschaft, die sich in der Ebene verlor. Bei klarem Wetter erkannte man bei genauerem Hinsehen bewaldete Bergrücken, die den Horizont säumten. Eine unbekannte, verlockende Welt. Im Nichts dieser unendlichen Idylle, in der Nähe des Gefängniskomplexes, vergewaltigte ein Gehege die landschaftliche Freiheit. Es bestand aus dicken, unüberwindbaren Holzbalken und hielt ein wunderschönes Pferd mit rebellisch wirbelnder Mähne gefangen. Die mächtigen Balken bestimmten die Freiheit des Geschöpfs und erniedrigten es zu einem armselig eingepferchten Wesen. Wut, Ohnmacht und Verzweiflung zugleich durchdrangen ihn aufs Neue. Ach, wie ihn dieser Anblick schmerzte.

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Es war finstre Nacht, die Häftlinge lagen zu Hause in ihren Betten und träumten von den gefangenen Freiheiten dieser Welt, als er sich durch die Dunkelheit schlich. Der Wind heulte durch die ausgestorbenen Strassen, es rauschten die Wälder, perfider Mondschein drohte seine revolutionären Absichten vorzeitig zu verraten. Ruhig Pferd, nur die Ruh. Verbissen begann er zu sägen, es ging nicht anders. Er kämpfte, schnaubte, litt, hielt inne, lauschte. Ruhig Pferd, nur die Ruh. Dann machte er weiter, durchschnitt Stück für Stück die zähe Masse, bald ermutigt, bald resignierend. Es ging leichter, noch ein Stück. Krach! Es war vollbracht, die Revolution vollzogen. Nun rasch auf, er klopfte des befreiten Pferdes Körper, davon, davon! Und wie sie galoppierten, über Stock und Stein, den rufenden Bergen zu, dem Land dahinter entgegen, da schrie er immerzu: „Libertas! Libertas!“ Und als er die Stromleitungen erkannte, welche ihm folgten, ihm dicht auf den Fersen blieben, ihn schliesslich überholten und hinter den bewaldeten Bergrücken verschwanden, da erwachte er schluchzend aus seinem Traum.
 



 
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