Ausgeträumt

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Chrisch

Mitglied
Verträumt

Erik erzählte seinem Bruder Felix wieder einmal eine lange Geschichte, die er sich, wie jeden Tag, ausdachte. Manchmal waren die Geschichten etwas wirr und an den Haaren herbeigezogen, aber meist tat das der Spannung keinen Abbruch.
Es war erst fünf Uhr dreißig als die Tür von Schwester Barbara geöffnet wurde. Auf dem Fuße gefolgt von Aushilfe Maria. Barbaras Stimme dröhnte: "Herr Eichbaum, wie wär’s mit waschen und mal gucken ob die offenen Stellen okay sind?"
Erik machte den beiden Platz, schaute aber aufmerksam zu. Barbara redete munter weiter, während sie dem Patienten das Hemd auszog. "Wir müssen die auf Dauer bettlägrigen Patienten nicht nur waschen sondern auch auf Druckstellen untersuchen und die Verbände erneuern. Hier, siehst du, am Ellenbogen? Hier fängt es gerade an. Du machst jetzt einen weichen Verband, nachdem ich ihn ein geölt habe." Sie drehten ihn gemeinsam auf die Seite, um auch keine Stelle zu übersehen.
Plötzlich lachte Maria: „Warum hat er sich denn dieses Tattoo auf den Hintern machen lassen?“
Sie arbeiteten zügig unter Anleitung der routinierten Schwester. Natürlich vergaßen sie nicht, ihn zu rasieren und zu kämmen.
"Ein hübscher Mann", stelle Maria fest. "wenn er nur nicht so blass wäre. Ich könnte mir vorstellen, dass er richtig sympathisch sein würde, wenn er einmal lächeln könnte."
„Aber der ist doch viel zu alt für dich“. Barbara strich die Bettdecke glatt, kontrollierte die Anschlüsse und die Funktionstüchtigkeit der Geräte und Monitore. "So Herr Eichbaum, jetzt müssen wir sie wieder allein lassen. Ich hoffe, sie liegen angenehm. Sie sollten sich aber doch überlegen, ob sie nicht wieder aufwachen wollen. Ihr Bruder schaut jeden Tag nach ihnen und wäre sicher der Erste, der da ist, wenn sie wieder die Augen aufmachen."
Die Morgensonne erleuchtete das Krankenzimmer, als die Frauen den Raum verließen. "Wäre aber ein Wunder nach so langer Zeit, wenn er aufwachen würde. Der war schon vor fünfzehn Jahren hier, als ich noch gelernt habe. Wie ist das eigentlich mit dir? Wie lange kann ich denn mit dir rechnen? Bist du nur heute hier? Das ist nämlich ziemlich anstrengend für mich jeden Tag eine Neue einzuweisen, dabei bleibt ja doch alles an mir hängen."
Die Tür fiel ins Schloss und so konnte Erik nicht verstehen was Maria antwortete. Sein besorgter Blick musterte den Bruder. Er sah aus wie immer. Nun wieder frisch riechend lag er ausgestreckt und ruhig auf dem weißen Laken.

Keiner weiß wie sie damals darauf kamen, aber schon als sie beide ganz klein waren, hatten die Eltern sie verwechselt, eigentlich immer der Vater, was Mutter traurig machte. Dann kam der Tag als Vater sagte, dass sie einen Unfall gehabt habe und gerade im Krankenhaus bei der Operation gestorben sei. Das war im September, kurz nach ihrem sechsten Geburtstag.
„Wenn Papa uns immer verwechselt, dann weiß auch kein Arzt wer wer ist.”, flüsterte eines Abends Felix, kaum hörbar. “Wir müssen irgendwas machen, sonst weiß keiner wie wir heißen, wenn wir auch mal so einen blöden Unfall haben wie Mama.”
“So einen Unfall können wir doch gar nicht haben. Sie ist doch auf einem Frauenparkplatz überfahren worden als sie gerade ausgestiegen ist und wir sind doch Jungs.”
Felix fand das zwar auch logisch und diese Tatsache beruhigte ihn etwas, aber dann flüsterte er doch: “Kann ja auch auf einem Männerparkplatz passieren, wenn wir erstmal groß sind und Auto fahren können.”
Obwohl beide noch nie etwas von einem Männerparkplatz gehört hatten, bekamen sie doch Angst. Felix krabbelte schnell in Eriks Bett, obwohl Papa es verboten hatte. So dicht beieinander konnte sie sich nun noch leiser ins Ohr flüstern.
Nach einer Weile fing wiederum Felix an: “Wenn wir beide tot sind, dann wird Papa bestimmt auf deinen Grabstein Felix schreiben und bei mir Erik.”
“Meinst du wirklich, aber ich will schon, dass auf meinem Erik Eichbaum steht, sonst ist das gemein.”
“Finde ich auch!” Sie schwiegen wieder eine Weile. “Du, ich werd' mir auf meinen linken Arm ganz klein Felix schreiben lassen, dass es Papa gar nicht sehen kann.”
“Du meinst so ein Tattoo? Ich werd’ mir besser auf die Pobacke Erik schreiben lassen, weil sie alle Gestorbenen auf den Bauch drehen, um zu gucken, ob sie von hinten erschossen worden sind.”
Das mit der Pobacke fand auch Felix prima, weil ihr Vater das niemals entdecken würde. “Aber Mama ist doch gar nicht erschossen worden.”, sagte er trotzdem.
“Mama nicht, weil sie eine Frau ist, aber Männer werden oft erschossen.”, sagte Erik.
Sie schworen beim Leben des anderen und dann noch einmal am Grab ihrer Mutter, dass sie sich so bald wie möglich ihren Namen auf den Po schreiben lassen würden.

Zwölf Jahre später lagen sie wirklich nebeneinander auf dem Bauch, die Hinterteile frei. Sie hatten sich extra ein Studio ausgesucht, in dem sie gleichzeitig behandelt werden konnten, um einen Rückzieher gegenseitig auszuschließen. Sie betrachteten ihre heute bestandenen Führerscheine, während sie die schmerzhafte Behandlung über sich ergehen ließen.
Da klingelte ihr gemeinsames Handy. Sie hatten nur eins vom Vater erhalten, nur für den heutigen Tag. Als eine seltene Belohnung für seine großen Jungs, wie er sagte, war ihnen ein super tolles neues und modernes versprochen worden.
“Egal wer jetzt dran ist”, erklang es streng wie immer aus dem Hörer “Ich muss zum Amt was klären. Die haben irgendeinen Mist verzapft, also fährst du zum Großmarkt, einkaufen. Zettel liegt auf dem Tisch, aber beeile dich und vergiss nicht wieder die Hälfte, oder habt ihr etwa nicht bestanden?” Erik steckte das Handy ein, nachdem er versichert hatte, dass sie natürlich erfolgreich gewesen waren. Jetzt im Auto sitzen? Eine Horrorvorstellung. Heute Nacht würde er auf dem Bauch schlafen müssen.
“Paps hat gesagt, dass du sofort nach Hause rennen und einkaufen fahren sollst. Du musst dich beeilen. Er hörte sich ziemlich wütend an. Warum du das allein machen sollst, hat er nicht gesagt.”
Felix widersprach nicht. Wenn Vater befahl, fragte man besser nie, warum. Keiner von beiden hatte Lust schon wieder im Kuhstall Mist zu schaufeln, nur weil der Andere wieder etwas verbockt hatte. Erik wollte mit seinen Freunden rumhängen und quatschen. Aber er freute sich schon diebisch, wenn nachher Felix mit schmerzendem Hinterteil zurückkam und er ihm dann erzählen konnte, dass eigentlich er selbst hätte fahren sollen.

„Es tut mir so leid.“ So viel Jahre hatte ihn leer weinen lassen. Er fühlte sich furchtbar schlecht, so unglaublich gemein. Die Gefühle der Schuld und Trauer waren immer gegenwärtig.
„Ich, nicht du, sollte hier liegen, niemals wollte ich das es so kommt. Bitte wach doch auf!.“ Er legte sich vorsichtig neben Felix ins Bett. Flüsternd erzählte er die begonnene Geschichte weiter, wie er es als Sechsjähriger auch schon getan hatte. Irgendwann schlief er ein.

Damals, als Felix eilig das Studio verlassen hatte, konnte Erik im Spiegel endlich sein Hinterteil anschauen. Bei diesem Anblick, brach sein Kreislauf zusammen. Ohnmächtig knallte er mit dem Kopf auf die Fliesen. Sofort kam er ins nächste Krankenhaus.
Auf seinem, Eriks Gluteus Maximus stand in schönster Schrift: „Felix“.

Heute kam Maria als erste ins Zimmer und öffnete die Jalousien, weil es schon hell wurde. Sie begann das Gesicht des Komapatienten zu reinigen und fragte Barbara, die geräuschvoll herein sauste: „Du hast mir doch erzählt, dass er einen Zwillingsbruder hat. Ich bin völlig durcheinander. Seit gestern frage ich mich, ob die sich vielleicht gehasst haben, weil er den Namen seines Bruders Felix auf dem Hintern hat?

Erik hatte erst nicht richtig zugehört. Er war noch schläfrig. Nur langsam erreichten ihn Marias Worte. In diesem Augenblick schrie Barbara auf. Sie hatte die erste Träne in seinen offenen Augen gesehen.
 

Chrisch

Mitglied
Verträumt

Erik erzählte seinem Bruder Felix wieder einmal eine lange Geschichte, die er sich, wie jeden Tag, ausdachte. Manchmal waren die Geschichten etwas wirr und an den Haaren herbeigezogen, aber meist tat das der Spannung keinen Abbruch.
Es war erst fünf Uhr dreißig als die Tür von Schwester Barbara geöffnet wurde. Auf dem Fuße gefolgt von Aushilfe Maria. Barbaras Stimme dröhnte: "Herr Eichbaum, wie wär’s mit waschen und mal gucken ob die offenen Stellen okay sind?"
Erik machte den beiden Platz, schaute aber aufmerksam zu. Barbara redete munter weiter, während sie dem Patienten das Hemd auszog. "Wir müssen die auf Dauer bettlägrigen Patienten nicht nur waschen sondern auch auf Druckstellen untersuchen und die Verbände erneuern. Hier, siehst du, am Ellenbogen? Hier fängt es gerade an. Du machst jetzt einen weichen Verband, nachdem ich ihn ein geölt habe." Sie drehten ihn gemeinsam auf die Seite, um auch keine Stelle zu übersehen.
Plötzlich lachte Maria: „Warum hat er sich denn dieses Tattoo auf den Hintern machen lassen?“
Sie arbeiteten zügig unter Anleitung der routinierten Schwester. Natürlich vergaßen sie nicht, ihn zu rasieren und zu kämmen.
"Ein hübscher Mann", stelle Maria fest. "wenn er nur nicht so blass wäre. Ich könnte mir vorstellen, dass er richtig sympathisch sein würde, wenn er einmal lächeln könnte."
„Aber der ist doch viel zu alt für dich“. Barbara strich die Bettdecke glatt, kontrollierte die Anschlüsse und die Funktionstüchtigkeit der Geräte und Monitore. "So Herr Eichbaum, jetzt müssen wir sie wieder allein lassen. Ich hoffe, sie liegen angenehm. Sie sollten sich aber doch überlegen, ob sie nicht wieder aufwachen wollen. Ihr Bruder schaut jeden Tag nach ihnen und wäre sicher der Erste, der da ist, wenn sie wieder die Augen aufmachen."
Die Morgensonne erleuchtete das Krankenzimmer, als die Frauen den Raum verließen. "Wäre aber ein Wunder nach so langer Zeit, wenn er aufwachen würde. Der war schon vor fünfzehn Jahren hier, als ich noch gelernt habe. Wie ist das eigentlich mit dir? Wie lange kann ich denn mit dir rechnen? Bist du nur heute hier? Das ist nämlich ziemlich anstrengend für mich jeden Tag eine Neue einzuweisen, dabei bleibt ja doch alles an mir hängen."
Die Tür fiel ins Schloss und so konnte Erik nicht verstehen was Maria antwortete. Sein besorgter Blick musterte den Bruder. Er sah aus wie immer. Nun wieder frisch riechend lag er ausgestreckt und ruhig auf dem weißen Laken.

Keiner weiß wie sie damals darauf kamen, aber schon als sie beide ganz klein waren, hatten die Eltern sie verwechselt, eigentlich immer der Vater, was Mutter traurig machte. Dann kam der Tag als Vater sagte, dass sie einen Unfall gehabt habe und gerade im Krankenhaus bei der Operation gestorben sei. Das war im September, kurz nach ihrem sechsten Geburtstag.
„Wenn Papa uns immer verwechselt, dann weiß auch kein Arzt wer wer ist.”, flüsterte eines Abends Felix, kaum hörbar. “Wir müssen irgendwas machen, sonst weiß keiner wie wir heißen, wenn wir auch mal so einen blöden Unfall haben wie Mama.”
“So einen Unfall können wir doch gar nicht haben. Sie ist doch auf einem Frauenparkplatz überfahren worden als sie gerade ausgestiegen ist und wir sind doch Jungs.”
Felix fand das zwar auch logisch und diese Tatsache beruhigte ihn etwas, aber dann flüsterte er doch: “Kann ja auch auf einem Männerparkplatz passieren, wenn wir erstmal groß sind und Auto fahren können.”
Obwohl beide noch nie etwas von einem Männerparkplatz gehört hatten, bekamen sie doch Angst. Felix krabbelte schnell in Eriks Bett, obwohl Papa es verboten hatte. So dicht beieinander konnte sie sich nun noch leiser ins Ohr flüstern.
Nach einer Weile fing wiederum Felix an: “Wenn wir beide tot sind, dann wird Papa bestimmt auf deinen Grabstein Felix schreiben und bei mir Erik.”
“Meinst du wirklich, aber ich will schon, dass auf meinem Erik Eichbaum steht, sonst ist das gemein.”
“Finde ich auch!” Sie schwiegen wieder eine Weile. “Du, ich werd' mir auf meinen linken Arm ganz klein Felix schreiben lassen, dass es Papa gar nicht sehen kann.”
“Du meinst so ein Tattoo? Ich werd’ mir besser auf die Pobacke Erik schreiben lassen, weil sie alle Gestorbenen auf den Bauch drehen, um zu gucken, ob sie von hinten erschossen worden sind.”
Das mit der Pobacke fand auch Felix prima, weil ihr Vater das niemals entdecken würde. “Aber Mama ist doch gar nicht erschossen worden.”, sagte er trotzdem.
“Mama nicht, weil sie eine Frau ist, aber Männer werden oft erschossen.”, sagte Erik.
Sie schworen beim Leben des anderen und dann noch einmal am Grab ihrer Mutter, dass sie sich so bald wie möglich ihren Namen auf den Po schreiben lassen würden.

Zwölf Jahre später lagen sie wirklich nebeneinander auf dem Bauch, die Hinterteile frei. Sie hatten sich extra ein Studio ausgesucht, in dem sie gleichzeitig behandelt werden konnten, um einen Rückzieher gegenseitig auszuschließen. Sie betrachteten ihre heute bestandenen Führerscheine, während sie die schmerzhafte Behandlung über sich ergehen ließen.
Da klingelte ihr gemeinsames Handy. Sie hatten nur eins vom Vater erhalten, nur für den heutigen Tag. Als eine seltene Belohnung für seine großen Jungs, wie er sagte, war ihnen ein super tolles neues und modernes versprochen worden.
“Egal wer jetzt dran ist”, erklang es streng wie immer aus dem Hörer “Ich muss zum Amt was klären. Die haben irgendeinen Mist verzapft, also fährst du zum Großmarkt, einkaufen. Zettel liegt auf dem Tisch, aber beeile dich und vergiss nicht wieder die Hälfte, oder habt ihr etwa nicht bestanden?” Erik steckte das Handy ein, nachdem er versichert hatte, dass sie natürlich erfolgreich gewesen waren. Jetzt im Auto sitzen? Eine Horrorvorstellung. Heute Nacht würde er auf dem Bauch schlafen müssen.
“Paps hat gesagt, dass du sofort nach Hause rennen und einkaufen fahren sollst. Du musst dich beeilen. Er hörte sich ziemlich wütend an. Warum du das allein machen sollst, hat er nicht gesagt.”
Felix widersprach nicht. Wenn Vater befahl, fragte man besser nie, warum. Keiner von beiden hatte Lust schon wieder im Kuhstall Mist zu schaufeln, nur weil der Andere wieder etwas verbockt hatte. Erik wollte mit seinen Freunden rumhängen und quatschen. Aber er freute sich schon diebisch, wenn nachher Felix mit schmerzendem Hinterteil zurückkam und er ihm dann erzählen konnte, dass eigentlich er selbst hätte fahren sollen.

„Es tut mir so leid.“ So viel Jahre hatte ihn leer weinen lassen. Er fühlte sich furchtbar schlecht, so unglaublich gemein. Die Gefühle der Schuld und Trauer waren immer gegenwärtig.
„Ich, nicht du, sollte hier liegen, niemals wollte ich, dass es so kommt. Bitte wach doch auf!.“ Er legte sich vorsichtig neben Felix ins Bett. Flüsternd erzählte er die begonnene Geschichte weiter, wie er es als Sechsjähriger auch schon getan hatte. Irgendwann schlief er ein.

Damals, als Felix eilig das Studio verlassen hatte, konnte Erik im Spiegel endlich sein Hinterteil anschauen. Bei diesem Anblick, brach sein Kreislauf zusammen. Ohnmächtig knallte er mit dem Kopf auf die Fliesen. Sofort kam er ins nächste Krankenhaus.
Auf seinem, Eriks Gluteus Maximus stand in schönster Schrift: „Felix“.

Heute kam Maria als erste ins Zimmer und öffnete die Jalousien, weil es schon hell wurde. Sie begann das Gesicht des Komapatienten zu reinigen und fragte Barbara, die geräuschvoll herein sauste: „Du hast mir doch erzählt, dass er einen Zwillingsbruder hat. Ich bin völlig durcheinander. Seit gestern frage ich mich, ob die sich vielleicht gehasst haben, weil er den Namen seines Bruders Felix auf dem Hintern hat?

Erik hatte erst nicht richtig zugehört. Er war noch schläfrig. Nur langsam erreichten ihn Marias Worte. In diesem Augenblick schrie Barbara auf. Sie hatte die erste Träne in seinen offenen Augen gesehen.
 

Chrisch

Mitglied
Verträumt

Erik erzählte seinem Bruder Felix wieder einmal eine lange Geschichte, die er sich, wie jeden Tag, ausdachte. Manchmal waren die Geschichten etwas wirr und an den Haaren herbeigezogen, aber meist tat das der Spannung keinen Abbruch.
Es war erst fünf Uhr dreißig als die Tür von Schwester Barbara geöffnet wurde. Auf dem Fuße gefolgt von Aushilfe Maria. Barbaras Stimme dröhnte: "Herr Eichbaum, wie wär’s mit waschen und mal gucken ob die offenen Stellen okay sind?"
Erik machte den beiden Platz, schaute aber aufmerksam zu. Barbara redete munter weiter, während sie dem Patienten das Hemd auszog. "Wir müssen die auf Dauer bettlägrigen Patienten nicht nur waschen sondern auch auf Druckstellen untersuchen und die Verbände erneuern. Hier, siehst du, am Ellenbogen? Hier fängt es gerade an. Du machst jetzt einen weichen Verband, nachdem ich ihn eingeölt habe." Sie drehten ihn gemeinsam auf die Seite, um auch keine Stelle zu übersehen.
Plötzlich lachte Maria: „Warum hat er sich denn dieses Tattoo auf den Hintern machen lassen?“
Sie arbeiteten zügig unter Anleitung der routinierten Schwester. Natürlich vergaßen sie nicht, ihn zu rasieren und zu kämmen.
"Ein hübscher Mann", stelle Maria fest. "wenn er nur nicht so blass wäre. Ich könnte mir vorstellen, dass er richtig sympathisch sein würde, wenn er einmal lächeln könnte."
„Aber der ist doch viel zu alt für dich.“ Barbara strich die Bettdecke glatt, kontrollierte die Anschlüsse und die Funktionstüchtigkeit der Geräte und Monitore. "So Herr Eichbaum, jetzt müssen wir sie wieder allein lassen. Ich hoffe, sie liegen angenehm. Sie sollten sich aber doch überlegen, ob sie nicht wieder aufwachen wollen. Ihr Bruder schaut jeden Tag nach ihnen und wäre sicher der Erste, der da ist, wenn sie wieder die Augen aufmachen."
Die Morgensonne erleuchtete das Krankenzimmer, als die Frauen den Raum verließen. "Wäre aber ein Wunder nach so langer Zeit, wenn er aufwachen würde. Der war schon vor fünfzehn Jahren hier, als ich noch gelernt habe. Wie ist das eigentlich mit dir? Wie lange kann ich denn mit dir rechnen? Bist du nur heute hier? Das ist nämlich ziemlich anstrengend für mich jeden Tag eine Neue einzuweisen, dabei bleibt ja doch alles an mir hängen."
Die Tür fiel ins Schloss und so konnte Erik nicht verstehen was Maria antwortete. Sein besorgter Blick musterte den Bruder. Er sah aus wie immer. Nun wieder frisch riechend lag er ausgestreckt und ruhig auf dem weißen Laken.

Keiner weiß wie sie damals darauf kamen, aber schon als sie beide ganz klein waren, hatten die Eltern sie verwechselt, später immer nur der Vater, was Mutter traurig machte. Dann kam der Tag als Vater sagte, dass sie einen Unfall gehabt habe und gerade im Krankenhaus bei der Operation gestorben sei. Das war im September, kurz nach ihrem sechsten Geburtstag.

„Wenn Papa uns immer verwechselt, dann kann auch kein Arzt wissen, wer wer ist.”, flüsterte eines Abends Felix, als sie schon eine Weile im Bett lagen und eigentlich schlafen sollten. “Wir müssen irgendwas machen, sonst weiß keiner wie wir heißen, wenn wir auch mal so einen blöden Unfall haben wie Mama.”
“So einen Unfall können wir doch gar nicht haben. Sie ist doch auf einem Frauenparkplatz überfahren worden als sie gerade ausgestiegen ist, und wir sind doch Jungs.”
Felix fand das zwar auch logisch und diese Tatsache beruhigte ihn etwas, aber dann flüsterte er doch: “Kann ja auch auf einem Männerparkplatz passieren, wenn wir erst mal groß sind und Auto fahren können.”
Obwohl beide noch nie etwas von einem Männerparkplatz gehört hatten, bekamen sie doch Angst. Felix krabbelte schnell in Eriks Bett, obwohl Papa es verboten hatte. So dicht beieinander, konnten sie sich gegenseitig noch leiser ins Ohr flüstern.
Nach einer Weile fing wiederum Felix an: “Wenn wir beide tot sind, dann wird Papa bestimmt auf deinen Grabstein Felix schreiben und bei mir Erik.”
“Meinst du wirklich, aber ich will schon, dass auf meinem Erik Eichbaum steht, sonst ist das gemein.”
“Finde ich auch!” Sie schwiegen wieder eine Weile. “Du, ich werd' mir auf meinen Arm ganz klein Felix schreiben lassen, dass es Papa gar nicht sehen kann.”
“Wenn er die Brille aufsetzt kann er 's doch sehen.“
„Aber wenn es ganz klein ist, wie ein Punkt?“
„Dann sieht es auch die Polizei nicht. Ich glaube es ist besser, wenn wir unsere Namen auf die Pobacken schreiben lassen, weil sie alle Gestorbenen auf den Bauch drehen, um zu gucken, ob sie von hinten erschossen worden sind.”
Das mit der Pobacke fand auch Felix prima, weil ihr Vater das bestimmt nicht entdecken würde. “Aber Mama ist doch gar nicht erschossen worden.”, sagte er trotzdem.
“Mama nicht, weil sie eine Frau ist, aber Männer werden oft erschossen.”, sagte Erik.
Sie schworen beim Leben des anderen und dann noch einmal am Grab ihrer Mutter, dass sie sich so bald wie möglich ihren Namen auf den Po schreiben lassen würden.

Zwölf Jahre später lagen sie wirklich nebeneinander auf dem Bauch, die Hinterteile frei. Sie hatten sich extra ein Studio ausgesucht, in dem sie gleichzeitig behandelt werden konnten, um einen Rückzieher gegenseitig auszuschließen. Sie betrachteten ihre heute bestandenen Führerscheine, während sie die schmerzhafte Behandlung über sich ergehen ließen.
Da klingelte ihr gemeinsames Handy. Vater hatte ihnen für heute sein eigenes mit gegeben und ihnen bei Bestehen der Prüfung zwei super tolle neue und moderne versprochen. Eine Zuwendung, über die sie sich, weil so ungewohnt, schon vorher riesig freuten.
Streng und mürrisch wie immer, klang es jetzt an Eriks Ohr: “Ich muss zum Amt was klären. Die haben irgendeinen Mist verzapft, also fährst du zum Großmarkt, einkaufen. Mach das allein, sonst vergesst ihr vor lauter Gequatsche noch das Wichtigste. Zettel liegt auf dem Tisch, Schlüssel für die alte Karre auch, aber beeile dich, oder habt ihr etwa nicht bestanden?” Erik steckte das Handy ein, nachdem er stolz versichert hatte, dass sie natürlich erfolgreich gewesen waren. Jetzt im Auto sitzen? Eine Horrorvorstellung! Heute Nacht würde er auf dem Bauch schlafen müssen.
“Paps hat gesagt, dass du sofort nach Hause rennen und einkaufen fahren sollst. Du musst dich beeilen. Er hörte sich ziemlich wütend an..”
Felix widersprach nicht. Wenn Vater befahl, fragte man besser nie, warum. Keiner von beiden hatte Lust schon wieder im Kuhstall Mist zu schaufeln, nur weil der Andere etwas verbockt hatte. Erik wollte mit seinen Freunden rumhängen und quatschen. Aber er freute sich schon diebisch, wenn nachher Felix mit schmerzendem Hinterteil zurückkam und er ihm dann erzählen konnte, dass eigentlich nicht Felix sondern er selbst hätte fahren sollen.
Felix sprang auf, ohne dass die Behandlung sachgerecht beendet wurde. Der Besitzer des Studios murmelte noch irgendetwas wie: „Wenn das mal gut geht.“, was Erik total albern fand. Was sollte schon passieren, nur weil Felixs Hinterteil noch nicht verbunden war?

„Es tut mir so leid.“ So viele Jahre hatten ihn leer weinen lassen. Erik fühlte sich furchtbar schlecht, so unglaublich gemein. Die Gefühle der Schuld und Trauer waren immer gegenwärtig. „Ich, nicht du, sollte hier liegen. Niemals wollte ich, dass es so kommt. Auf die paar Minuten wäre es doch nicht angekommen. Bitte wach doch auf!.“ Er legte sich vorsichtig neben Felix ins Bett. Flüsternd erzählte er die begonnene Geschichte weiter. Er war schon als Sechsjähriger der Erzähler gewesen. Irgendwann schlief er ein.

Damals, im Studio, stellte sich Erik gerade vor, wie sein Bruder halb stehend, den Hintern in der Luft haltend hinter dem Steuer hing und vielleicht doch beim Fahren nach einem Tuch im Handschuhfach hangelte, als er sich nun sein eigenes Hinterteil im Spiegel ansehen konnte. Endlich würden sie wenigstens als Tote nicht verwechselt werden können. Bei dem Anblick seiner Kehrseite aber, brach sein Kreislauf zusammen. Ohnmächtig knallte er mit dem Kopf auf die Fliesen. Sofort kam er ins nächste Krankenhaus.
Auf seinem Knackpo stand in schönster Schrift nicht Erik sondern: „Felix“.


Heute kam Maria als erste ins Zimmer und öffnete die Jalousien, weil es schon hell wurde. Sie begann das Gesicht des Komapatienten zu reinigen und fragte Barbara, die geräuschvoll herein sauste: „Du hast mir doch erzählt, dass er einen Zwillingsbruder hat. Ich bin völlig durcheinander. Seit gestern frage ich mich, ob die sich vielleicht gehasst haben, weil unser blasser Schützling hier, den Namen seines Bruders Felix auf dem Hintern hat?

Erik hatte erst nicht richtig zugehört. Er war noch schläfrig. Nur langsam erreichten ihn Marias Worte. In diesem Augenblick schrie Barbara auf. Sie hatte die erste Träne in seinen offenen Augen gesehen.
 

Krom

Mitglied
Hallo Chrisch,

sprachlich eine sehr gute Geschichte. Schlank und unaufdringlich formuliert, passend zur eher leisen Thematik.

Im letzten Abschnitt habe ich jedoch ein wenig den Überblick verloren. Wer liegt im Bett auf der Komastation? Erik oder Felix? Bei den Tätowierungen wurden die Namen vertauscht, das ist mir klar.

Aber wenn nun Erik anstatt Felix im Bett liegt, was ist dann aus dem komatösen Felix geworden? Ist er aufgestanden und weggegangen und hat seinen Bruder quasi als "Vertretung" liegengelassen. Das wäre eine sehr phantastische Wendung, die mir jedoch gut gefallen würde..

Die andere Frage ist, warum einer der Brüder überhaupt im Koma liegt. Hat er eine Infektion bekommen oder am Ende doch, wie die Mutter, einen Unfall erlitten? Andererseits ist für den Fortgang der Geschichte das Warum nicht einmal Entscheidend.

Ach ja, wenn jemand den Namen einer anderen Person auf dem Hintern stehen hat, dann ist das meistens kein Zeichen für Hass.

Zum Abschluss noch einmal: Eine gute Geschichte, wenn ich gegen Ende auch ein wenig den Faden verloren habe, aber vielleicht war das vom Autor ja so gewollt.

Viele Grüße,
Krom
 

Chrisch

Mitglied
Hallo Krom,

danke für die insgesamt anerkennenden Worte.
Das, was diese Geschichte schwierig macht, ist bestimmt die Vorstellung, dass ein Komapatient wach sein könnte und alles im Raum beobachten kann.
Ich glaube, wenn man darauf kommt, dann ist alles andere plausibel geschildert.

Herzlich Chrisch
 



 
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