Auszeit

Salamin

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Es war ein trauriger Anblick. Max klammerte sich mit letzter Verzweiflung an die Vergangenheit in Form einer halbleeren Bierflasche, die ihm Christine wohl zu entreißen versucht hatte, aber bei dem Versuch eingeschlafen war, ihre Finger nur wenige Zentimeter von dem, mittlerweile lauwarmen, rettenden Nass entfernt.
Paul hatte sich in einem Anflug von Kreativität noch zwei Sofas zusammengeschoben, über die er nun langgestreckt schlief. Die Tragik dieser Idee war, das die beiden Sofas bei jeder seiner Bewegungen ein kleines Stück weiter auseinandergerückt wurden - seine momentane Lage machte jegliches fehlende Bauchmuskeltraining wett.
Wie es schien, war er aber nicht mehr dazu in der Lage gewesen seiner Freundin einen geeigneten Schlafplatz zu suchen, den die lag, wie achtlos weggeworfen, quer über Pauls bestem Kumpel Martin - seine Hand ruhte auf ihrer Linken, hielt sie sanft, wie einen überreifen Pfirsich.
Maja hatte von allen die Vorteilhafteste Position von allen. Sie lag in einem gläsernen Sarg, die Hände über dem orangefarbenen H&M-Top gefaltet. Sie würde sich unweigerlich den Kopf an der Tischplatte des kleinen gläsernen Couchtisches stoßen, sollte sie jemals wieder aufwachen.

Ich zückte mein Notizbuch und tat so, als ob ich mir etwas notieren würde. Kritisch betrachtete ich das Strichmännchen, das ich gezeichnet hatte, lies ihm noch ein paar Haare wachsen und steckte es dann in die Innentasche meines stilecht zerknautschten Mantels. In Gedanken musste ich über mich selbst lachen, zog es aber dann doch vor lieber eine zu rauchen. Ich angelte mit Zeige- und Mittelfinger in meiner Manteltasche nach Tabak und Papers, fand beides und zog es heraus. Den billigen Tabak verteilte ich gleichmäßig auf dem Paper, das ich mit drei Fingern hielt. Langsam, fast zärtlich rollte ich das Paper zwischen den Fingern und strich dann sanft mit der Zunge darüber um es mit Speichel zu benetzen. Das Feuerzeug fand sich in der linken Gesäßtasche meiner Jean. Nach einigen Versuchen gelang es mir das letzte bisschen Feuerzeugbenzin zu entflammen und meine Zigarette anzuzünden. Ich rauchte damals nur noch ohne Filter. Ich war der Meinung wer schon tot ist, muss auch nicht auf seine Gesundheit achten. Genüsslich sog ich den Rauch ein, lies ihn über meine Lunge gleiten und stieß ihn dann durch die Nase aus, was in etwa so aussah als würde ein wütendes Nashorn bei minusgraden Dampf ablassen. Die Asche lies ich einfach auf den Boden fallen. Mit einer dramatischen Geste setzte ich an etwas zu sagen, zögerte dann einen Moment um etwas Spannung aufzubauen und sagte dann mit fester Stimme, die keinen Widerspruch zu dulden vermochte. \"Es wird alles gut werden, aber ich benötige ihre Hilfe.\"
Die Mutter der Kleinen nickte so heftig, das ich schon fürchtete ihr würde der Kopf vom Rumpf fallen und ihr Mann räusperte sich, doch noch ehe er etwas erwidern konnte, hatte ich sie schon aus dem Raum geschoben und erklärt das ich Ruhe bräuchte und ihnen dann bescheid geben würde. Während ich die Tür schloss, murmelte ich ein paar lateinische Wörter mit griechischen Anleihen vor mich hin. Man bezahlte mich ja schließlich dafür.

Es war nicht schwer zu erraten was vorgefallen war und so macht ich mich daran einige Vorkehrungen zu treffen. Zuerst rief ich Michael an, er war Spezialist für solche Angelegenheiten. Er versprach mir kurz nach Dienstschluss vorbeizusehen. Bis dahin hatte ich nicht viel mehr zu tun, als meine Auftraggeber glaubend zu machen, ich würde alles in meiner Macht stehende tun um ihnen zu helfen, aber zuerst drehte ich mir noch eine Kippe und steckte sie, nach einem kurzen Kampf mit meinem Feuerzeug, an. Gedankenverloren lies ich meinen Blick über die armseligen Gestallten wandern. Ich lies etwas Asche in Pauls Nabel rieseln und zückte erneut mein Notizbuch. Aus dem Strichmännchen wurde mit ein paar schwungvollen Strichen eine dralle Schnalle. Ich riss das Blatt heraus, zerknüllte es, zielte und warf. Es traf, nicht weit von meinen Ascheresten auf Pauls Bauch und rollte auf den Boden. Ich zog noch einmal kräftig an meiner Selbstgedrehten, lies den Stummel auf den Boden fallen und sah zu wie er ein kleines Loch in den Teppichboden brannte. Irgendwie hatte ich Lust auf Rindsrouladen, deshalb kritzelte ich die Zutaten die ich dafür benötigte auf meinen Notizblock. Ans Ende dieser Liste setzte ich noch ein Feuerzeug und eine Flasche Jack Daniels. Um das ganze noch etwas aufzulockern und ihm einen mystischen Touch zu geben, fügte ich noch Räucherstäbchen, 6 Kerzen und eine hölzerne Schale hinzu. Irgendwie fragte ich mich, ob sie sich wohl darüber wundern würden, dass ich Essiggurken benötigte. Bevor ich aus dem Zimmer trat, malte ich noch schnell mit einem schwarzen Marker ein Pentagramm auf die Tür. Es war ein wenig schief geraten und wirkte auch nicht sehr gleichmäßig, aber für meine Zwecke würde es genügen.

Als ich ins Wohnzimmer trat, sprangen die beiden auf, als hätte sie etwas in den Allerwertesten gestochen. Ich hob beschwichtigend die Hände und erklärte, dass ich noch einige Dinge benötigte, die sie für mich besorgen müssten. Außerdem bat ich sie, so sie alles besorgt hatten, nicht mehr in die Wohnung zu kommen, sondern einfach alles vor die Tür zu stellen. Die Tatsache, das ich ihnen nicht verriet, was noch zu tun gedachte, bestärkte sie scheinbar in dem Glauben, dass ich ihnen helfen würde und so waren sie, wie ich es erwartet hatte, sofort damit einverstanden. Ich könne sie ja jederzeit über ihr Mobiltelefon erreichen, sofern sich etwas an der Situation änderte. Ohne etwaige Fragen abzuwarten, gebot ich ihnen sich zu beeilen und entfernte sie mit sanftem Nachdruck aus der Wohnung.

Kaum hatten sie die Tür hinter sich geschlossen, machte ich mich daran die Hausbar zu plündern. Ich fand einen ganz brauchbaren schottischen Whisky, von dem ich auch gleich gebrauch machte. Dann begab ich mich auf die ewige Suche nach der Fernbedienung. Der Flimmerkasten war zwar nicht gerade der größte, vor dem ich je gesessen bin, aber ich hoffte, dass sie zumindest einen Kabelanschluss hatten. Nach einigen Minuten verzweifelter Suche, bei der ich das ordentliche, gutbürgerliche eingerichtete Zimmer ein wenig durcheinanderwirbelte, fand ich das Objekt meiner Begierde unter dem Sportteil einer Zeitung. Dem Datum nach war sie keine 2 Tage alt. Ich lies mich in den bequemen Fernsehsessel fallen und überantwortete meiner linken Hand die Aufgabe für eine anständige, gleichmäßige Berieselung zu sorgen. Meiner Rechten überlies ich es, mich oral zu befriedigen, was sie mit der Hilfe des gefundenen Whiskys auch bravourös meisterte. Leider war es noch zu früh für anständiges Fernsehen und so schlug ich mich durch Kindersendungen, Wetterpanorama, diverse Werbe- und Gewinnspielsendungen. Irgendwann, ich war schon fast soweit einen Beton mixenden Entsafter mit den Rotorblättern eines Helikopters aus der Raumfahrtforschung zu kaufen, als ich bemerkte, dass die von mir bestellten Einkäufe vor der Tür standen.
Ich schaffte es, mich aus dem Sessel zu erheben und zur Tür zu gelangen. Ich lauschte kurz, ob sich noch jemand im Stiegenhaus befand, öffnete dann rasch die Tür, schnappte mir die Einkäufe und schloss sie schnell wieder. Ich hasse es bei solch banalen Dingen beobachtet zu werden. Es zerstört einfach die Erhabenheit der Sache an sich. Ich trug die Einkaufstüte in die Küche und packte alles auf den Küchentisch. Es war herzerwärmend. Sie hatten tatsächlich alles besorgt und peinlichst genau darauf geachtet auch wirklich genau das zu kaufen, was ich ihnen aufgetragen hatte. Hätte ich Marken dazu geschrieben, hätten sie vermutlich alle möglichen und unmöglichen Geschäfte danach abgeklappert. Solche Gedanken schlichen durch mein Gehirn und ich musste unwillkürlich grinsen, während ich nach einer passenden Pfanne suchte.
Ich briet mir Speck, dazu ein paar Eier und röstete mir ein paar Scheiben Toast, lud das alles auf einen Teller und begab mich wieder vor die alte Flimmerkiste. Das Programm begann sich zu bessern. Auf Disneys Große Pause, folgten zwei oder drei Folgen Simpsons, die von Malcom mitten drin abgelöst wurden. Malcom übergab den Ball schließlich an den King of Queens, der Sabrina daran erinnerte, das ich mich langsam ans kochen machen sollte. Als dann Salems letzter zynischer Kommentar verklungen war, stemmte ich mich langsam aus dem Sessel und begann damit alle meine Gliedmaßen ordentlich zu strecken.
Nach ein paar Minuten war ich soweit mich wieder in die Küche zu bewegen. Ich würzte die Rinderfilets, schnitt den Schinken in feine Streifen, die Essiggurken in kleine Stückchen, rollte das ganze ein und befestigte es mit Zahnstochern. Dann wendete ich mich den Kartoffeln zu, schälte und viertelte sie. In der Pfanne, in der ich auch schon die Eier gebrutzelt hatte, erhitzte ich etwas Öl, lies die Rouladen anbraten. Als diese Farbe annahmen, goss ich das ganze mit Wasser auf, würzte das ganze kräftig und warf die Kartoffeln hinein, auf das sie im Bratensaft mitgekocht wurden und sich damit voll saugen konnten. Als Dessert hatte ich einen einfachen Schokoladepudding geplant, der in einem zweiten Topf friedlich vor sich hin köchelte.

Ich war gerade dabei nach geeigneten Tellern zu suchen, als Michael am Fenster klopfte. Ich öffnete ihm und er zwängte sich und seine Flügel hindurch. \"Du alter Schmarotzer\", begrüßte er mich lachend, ich grinste ihn an und sagte ihm, er solle nicht schwätzen sondern den Wein aufmachen und Gläser besorgen. Ich deckte den Tisch, während Michael in verschiedenen Laden nach einem Korkenzieher fahndete. Ich wollte gerade die Pfanne auf den Tisch stellen, als Michael mit einem triumphierenden lächeln und einem Korkenzieher in die Hand auf die Weinflasche losging. In einer Vitrine im Wohnzimmer fand ich dann auch die geeigneten Gläser. Michael hatte inzwischen Rouladen und Kartoffel ziemlich fair auf zwei Teller verteilt. Ich füllte die Gläser mit einem wunderbaren Bordeaux. Die Flasche gluckste traurig, als sie das edle Gesöff freigeben musste.
Wir unterhielten uns über dies und jenes, seine Arbeit, Frauen, die Naivität der Menschen waren nur einige unserer Themen. Michael lobte meine Rouladen, worauf ich meinte, dass ich wohl schon genug Zeit zum Üben gehabt hätte. Als wir uns an dem Mahl gütlich getan hatten, fragte er mich ob er mir beim Abwasch helfen sollte, aber ich winkte nur ab und meinte das würden schon unsere Gastgeber erledigen. Ich schnappte mir die Flasche Daniels, holte zwei Gläser und durchsuchte den Kühlschrank erfolgreich nach Eiswürfeln. Auf dem Weg ins Wohnzimmer, sahen wir noch schnell im Zimmer der kleinen vorbei. Er lachte, als er mein schiefes Pentagramm an der Tür entdeckte und meinte ich hätte mir ruhig etwas mehr Mühe geben können. Ich antwortete ihm, ich würde dann später vielleicht noch etwas Feenstaub versprühen, schloss die Tür und lies die Kleinen in ihrer ewigen Ruhe zurück.

Im Wohnzimmer ließen wir uns auf die Couch sinken. Ich schraubte sanft die Flasche auf und ließ leise glucksend und gurgelnd das flüssige Gold in die Gläser plätschern. Eine Weile saßen wir still da, nippten nur hin und wieder an dem herrlichen Whiskey.
\"Ich will aussteigen\", sagte Michael mit einer Stimme die mich aufhorchen ließ.
\"Was sagt dein Vater dazu?\"
\"Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen, aber ich kann mir denken, was er zu sagen hat.\"
Ich nickte bedächtig.
\"Wieso willst du aussteigen?\"
\"Meine Aufgabe erfüllt mich nicht mehr. Früher, da bin ich selbst noch hin und wieder auf einem Einsatz gewesen, aber heute geht das nicht mehr. Wir haben viel zu wenig Geschwister um uns um alles zu kümmern und meine Aufgabe beschränkt sich nur noch auf die Organisation des Ganzen.\" Er hatte seinen Kopf auf die Hände gestützt und stierte auf den Eiswürfel in seinem Glas, der sich langsam auflöste und mit dem Whiskey vermischte. Ich wusste nicht ob es mir bestimmt war, den Anführer der himmlischen Heerscharen umzustimmen oder sonst irgendwie zu beeinflussen, deshalb beschloss ich einfach nur das zu tun, was ich immer in solchen Fällen tat. Ich nahm mein Whiskeyglas in die Hand und einen tiefen Schluck daraus.
\"Was willst den sonst tun?\"
\"Ich möchte leben.\"
Ich musste lachen.
\"Wollen wir das nicht alle?\"
\"Du hast gut reden, du hast das Leben gekostet.\"
\"Deshalb bin ich tot.\"
\"Ich weiß, entschuldige.\"
\"Kein Problem, ich hab mich daran gewöhnt, aber wie willst du das anstellen?\"
\"Ich werde IHN einfach fragen.\"
Ich stutzte. Die Idee wäre mir nicht im entferntesten gekommen, aber sie war gut, sehr gut sogar. Seine Güte ist ohne Ende, also wieso auch nicht.
\"Ich weiß nicht.\"
\"Ich auch nicht, aber es gibt wohl keine andere Möglichkeit.\"
Ich nickte nur stumm. Er erhob sein Glas und blickte mich an. Für einen Moment befand ich mich in der fremdartigen Gedankenwelt eines Engels. Ich konnte seinen Schmerz fühlen, sein Verlangen danach zu leben, zu lieben und zu sterben. Er blinzelte. Mit der Linken griff ich zu meinem Glas und prostete ihm zu. \"Auf das Leben,\" flüsterte ich ihm zu, \"auf den Hoffnungsschimmer am Horizont der unendlichen Herrlichkeit.\"
Wir tranken aus. Seine Schultern straften sich und er stand langsam auf. Ich gab ihm die Hand. Es gab nichts mehr zu sagen. Er öffnete stumm das Fenster. Es quietschte. Ich weiß nicht wie lange ich am Fenster stand und in den neonbeleuchteten Nachthimmel blickte.

Irgendwann kam die Erinnerung zurück und mit ihr auch der Grund meiner Anwesenheit in diesem Gebäude. Seufzend begab ich mich in die Küche, rollte mir eine Zigarette und entzündete sie mit dem neuen Feuerzeug. Ich nahm die Einkaufstüte und ging damit ins Zimmer der Kleinen. Sie träumten immer noch ihren ewigen Traum. Ob es wohl angenehm Träume waren? Mit dem schwarzen Marker, der mir schon einmal gute Dienste erwiesen hatte, malte ich mit ein paar schnellen Strichen ein Pentagramm auf den Glastisch. An jedes Eck stellte ich eine Kerze. Die Kerzen waren blau! Blau! Wie sollte ich mit derartigem Equipment bloß anständigen Feenstaub versprühen. Ich schüttelte in Gedanken den Kopf und zündete die Kerzen an. Dann ging ich ins Wohnzimmer und holte den schottischen Whisky. Der Daniels war eindeutig zu schade um ihn an den Kleinen zu verschwenden, deshalb ließ ich ihn in einer Manteltasche verschwinden. Zurück im Zimmer flößte ich einem nach dem Anderen ein paar Schluck von dem Gesöff ein und bedachte sie mit jeweils einer Ohrfeige. Es gibt eben nichts besseres als die guten alten Hausmittelchen. Langsam wachten sie auf: Max nahm einen Schluck aus seiner Bierflasche, Paul klappte einfach zusammen und blieb hilflos zwischen den Sofas stecken. Seine Freundin gab Martin die verdiente zweite Ohrfeige und Maja knallte mit dem Kopf gegen den Glastisch, sodass die Kerzen bedrohlich schwankten. Ich wollte mich nicht näher mit ihnen beschäftigen, deshalb verließ ich rasch das Zimmer, rief die Eltern an und erklärte ihnen das es den Kleinen gut ginge. Die Rechnung legte ich auf den Küchentisch und machte mich dann eiligst aus dem Staub.

Seitdem sind jetzt zehn Jahre vergangen und ich habe nie wieder etwas von Michael gehört.
 



 
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