Balthasar

ArN

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Die Stadt stank.
Er roch mit jedem Atemzug die Ausdünstungen der Menschen und Tiere dieser überforderten Metropole am Bodensee. Im Normalfall hatte die Stadt zirka sechstausend Einwohner, aber in diesen Zeiten des Konzils war der Ausnahmezustand der Normalfall und es befanden sich zehn Mal mehr Menschen in der Gemarkung.
Die Schritte des Mannes waren schnell, aber achtsam.
Trotz aller Vorsicht trat er sich immer wieder auf den Saum der Kutte, die ihn als Franziskanermönch für alle Mitmenschen erkennbar machte. Und an Mitmenschen mangelte es auch zu dieser späten Stunde nicht. Den Kopf hielt er, trotz übergezogener Kapuze, tief gesenkt, damit keiner sein Gesicht erkennen konnte. Seit ihn das Schicksal vor gut einem halben Jahr an diesen verfluchten Ort gefesselt hatte, lief einiges schief. Aber jetzt, in dieser kalten Märznacht, hatte er seit Langem endlich wieder das Gefühl sein Leben mit Gottes Hilfe in die eigenen Hände nehmen zu können.
Und dieses Leben strebte nach der Befriedigung von Bedürfnissen. Das Treffen, arrangiert von Herzog Friedrich, sollte in zwei Stunden stattfinden, also blieb ihm noch genug Zeit um den Hübscherinnen in ihrem Haus hinter dem Dom einen Besuch abzustatten.
Schon von Weitem stach dem Vorbeigehenden die gelbe Schandfarbe entgegen, die die Frauen als äußeres Zeichen tragen mussten. Die Dunkelheit der hereinbrechenden Nacht machte aus der Schandfarbe jedoch eine Signalfarbe für nächtliche Vergnügungen.
Obwohl es nicht so ungewöhnlich war, dass sich ein Mönch in dieses Haus begab, wartete er einen unbeobachteten Moment ab, um durch die Tür ins Innere zu gelangen.
„Willkommen im Haus zum süßen Winkel, Hochwürden.“
Die hagere, alte Frau hinter dem Tisch begrüßte ihren Besucher mit einem abschätzenden Blick.
„Hier seit Ihr richtig, denn ich sehe, dass Ihr euer Inkognito wahren wollt und dieses Haus ist bekannt für seine Diskretion.“
Ohne ein Wort zu verlieren, griff der Mönch in seine Kutte, holte ein Leinensäckchen heraus und warf der Alten ein paar Münzen auf den Tisch. Mit gierigem Glanz in den Augen schnappte sich das Weib die Geldstücke. Wie oft hatte er diesen Blick gesehen? Ob Bischöfe, Könige, Kaufleute oder Konkubinen, in diesem Fall waren vor Gottes Angesicht wirklich alle gleich.
„Ihr werdet natürlich sofort bedient. Folgt mir“, forderte die Frau ihren Gast auf, nachdem sie die Münzen in ihrer Rocktasche hatte verschwinden lassen. Die Alte führte ihn die Stiegen hoch bis vor eine Kammertür und öffnete sie.
„Viel Vergnügen euer Hochwohlgeboren“, sagte das alte Weib mit einem zynischen Unterton und entfernte sich.
Die Kammer wurde nur spärlich vom Schein der Kerze auf dem Tisch erhellt, an dem zwei Stühle standen. An dem Fenster beim Bett stand eine junge rothaarige Frau.
„Setzt Euch“, forderte die Frau ihren Besucher auf, ging von ihrem Fensterplatz an den Tisch und setzte sich. Auch sie trug zu ihrem Kleid einen gelben Umhang, der ihren Stand sichtbar machte.
„Nun, sagt mir erst einmal, mit welchem Namen ich Euch ansprechen soll“, sagte die Hübscherin zu ihrem Gegenüber, der nun ebenfalls Platz genommen hatte.
Eigentlich war er ja nicht zum Reden hergekommen, aber etwas an dieser jungen, rothaarigen Frau faszinierte ihn.
„Nenn mich Balthasar, wenn du mir schon unbedingt einen Namen geben willst“, antwortete der Mann mit der Franziskanerkutte, die Kapuze noch immer tief im Gesicht.
„Balthasar, ein heiliger Name, für einen heiligen Mann“, flüsterte die Frau leise. „Wollt Ihr einen Blick in die Zukunft werfen?“
Heiß durchfuhr es Balthasar. Eine Hexe; und dazu noch eine rothaarige. Aber in seiner jetzigen Situation konnte eine Vorausschau auf zukünftige Ereignisse bestimmt nicht schaden.
„Leg los!“, beantwortete er knapp den Vorschlag der schönen Rothaarigen.
Ihre Hände lagen auf dem Tisch und ihr Blick war nach unten gesenkt. Nach etwa einer Minute blickte sie wieder auf.
„Ihr seid auf der Flucht“, sagte sie unvermittelt und erhob sich.
Der Mann, der sich selbst den Namen Balthasar gegeben hatte, erschrak. War er entdeckt? War seine Flucht schon beendet, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte? Oder hatte ihn der Herzog doch verraten?
„Keine Angst, Euer Geheimnis bleibt gewahrt“, beruhigte sie ihn und schritt durch die kleine Kammer.
Diese Frau wurde dem angeblichen Mönch immer unheimlicher.
Er versuchte aufzustehen, doch sein ganzer Körper war wie gelähmt und er blieb steif auf dem Stuhl sitzen.
„Bemüht Euch nicht. Ihr könnt nur wieder aufstehen, wenn ich es will“, beantwortete die Hübscherin seine unausgesprochene Frage.
„Ich weiß vieles über Euch, was sowohl die Vergangenheit, als auch die Zukunft betrifft“, fuhr sie fort. „Schon auf dem Hinweg nach Constantia hattet Ihr Pech und euer Wagen ist am Arlbergpass verunglückt. Nur leider seid Ihr dabei nicht gestorben!“
Blankes Entsetzen spiegelte sich in den Augen des falschen Franziskaners wider. Hatte diese Hexe auch hier ihre Kräfte im Spiel? Was wollte sie von ihm?
Mittlerweile hatte sie sich ihm weiter genähert und zog mit einer raschen Bewegung ein Messer aus ihrem Umhang.
„Vielleicht wolltet Ihr lieber hier sterben?“, raunte die Hexe ihm ins Ohr, zog seine Kapuze herunter und setzte ihm das Messer an die Kehle.
„Komme ich euch nicht bekannt vor? Meine Mutter werdet Ihr gekannt haben, Baldassare Cossa.“
Er wollte schreien, um Hilfe rufen. Aber seine Stimme versagte. Jetzt hatte diese verfluchte Hexe auch noch seinen richtigen Namen genannt.
„Erinnert Ihr Euch an Bologna, die Studienzeit? Dort seid Ihr meiner Mutter begegnet, habt sie geschwängert und dann verstoßen, da sie Eurem Aufstieg im Wege war. Ihr wolltet sie sogar töten lassen, doch meine Mutter konnte mit mir fliehen. Es ist nicht leicht gewesen für eine unverheiratete Frau mit Kind. Als ich zehn Jahre alt war, starb sie an Hunger und Entkräftung. Jahre später hörte ich von dem Konzil und dass dort viele meines Standes gebraucht werden. Gottes Fügung hat uns hier in Costantia zusammengebracht, Vater.“
Das rote Haar. Natürlich, warum hatte er nicht gleich die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, seiner damaligen Geliebten, entdeckt?
Langsam nahm sie die Klinge von seinem Hals, ging wieder zu ihrem Stuhl und setzte sich.
„Ich werde Euch nicht töten, denn ich habe die mögliche Zukunft gesehen. Würdet Ihr jetzt hier durch meine Hand sterben, der Nachruf als Märtyrer wäre Euch gewiss. Doch ich denke ein Märtyrertod würde Eurem hinterhältigen Wesen nicht gerecht werden. Flieht Ihr jetzt weiter, werdet Ihr später gefangen genommen, der Titel wird Euch aberkannt und in fünf Jahren werdet Ihr sterben. Die Geschichtsschreibung wird Euch aus den Büchern streichen wollen. Aber in ferner Zukunft wird jemand Euren Amtsnamen annehmen und diesen Namen von allem Makel befreien.“
Wenn er wieder die Macht dazu hätte, würde er dieses verfluchte Weib verbrennen lassen. Aber im Moment war nur seine weitere Flucht wichtig.
„Dann lass mich jetzt gehen“, quetschte er zwischen den Zähnen hervor und merkte, dass seine Kräfte in die Glieder zurückkehrten.
„Lauf schnell, Baldassare Cossa, bevor ich es mir anders überlege“, zischte die Frau mit einem Blick, der zugleich wütend und traurig war.
Mit hastigen Schritten stürzte der falsche Mönch durch die Tür und die Treppen hinunter, ohne seine Kapuze aufzusetzen. Das Haus zum süßen Winkel spuckte den falschen Mönch wieder zurück in die bittere Wirklichkeit.
Sein überhasteter Abgang war nicht unbeobachtet geblieben. Verwundert rieb sich die Alte hinter dem Tisch im Flur die Augen. Dieser Mönch hatte ausgesehen wie Papst Johannes XXIII. Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Das konnte nicht sein, sie musste sich geirrt haben.
 



 
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