Barbarisches Sonett

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nandris

Mitglied
Barbarisches Sonett

Komm, schreib mir ein barbarisches Sonett,
Ein wüstes Werk aus rätselhaften Worten –
Entführe mich zu sittenlosen Orten
Und nimm mich ohne Umschweif mit ins Bett.

Stell keine Fragen! Stütz dich auf das Nichts.
Schmier mir verruchte Verse auf den Rücken,
Lass deinen Leib mit dunkler Dichtkunst schmücken!
Leih mir die Sphären deines Angesichts.

Vergiss die Türen. Halt die Fenster offen,
Hör auf zu denken! Lass dich furchtlos fallen.
Ich fang dich auf mit frisch geschärften Krallen

Und küsse dich gefügig und besoffen.
Du machst mich irr und roh! Ich will dich haben
Und mich in deinem frischen Fleisch vergraben.


© Nandris, 03. August 2003
 

Willibald

Mitglied
barbara

Saperlott!

Sonett perfekt, gscheit auch noch

Ein bisschen rätselhaft der Perspektivenwechsel (?)
in

Lass deinen Leib mit dunkler Dichtkunst schmücken!

*auskunftheisch*

*admirativ*
 

nandris

Mitglied
Hach, als Perspektivenwechsel war dieser Vers eigentlich gar nicht gemeint; es ist halt alles ein Geben&Nehmen, nicht wahr? ;)

xxx
 

Willibald

Mitglied
geben und nehmen

ja schon

kleines aber:

Komm, schreib mir ein barbarisches Sonett,
Ein wüstes Werk aus rätselhaften Worten –
Entführe mich zu sittenlosen Orten
Und nimm mich ohne Umschweif mit ins Bett.

Stell keine Fragen! Stütz dich auf das Nichts.
Schmier mir verruchte Verse auf den Rücken,
Lass deinen Leib mit dunkler Dichtkunst schmücken!
Leih mir die Sphären deines Angesichts.

Der Sprecher der ersten sechs zeilen präsentiert sich als empfänger des verführend-wilden sonetts.
Der Sprecher der siebten Zeile ist offensichtlich der Produzent "dunkler dichtkunst".

(a)
ein neuer sprecher, bisher das angesprochene du, bittet ("lass") darum, dass das "du" sich poetisch schmücken lässt.

Wie sinnvoll ist das, wenn die reziproke bitte die ersten sechs zeilen beherrscht?

(b)
das poetisch bisher "passive" Ich der ersten sechs zeilen, wird nun poetisch aktiv.
Beide Iche verschränken sich in aktiver und passiver poesie.

welche chance hat der leser, diese lesart imaginativ oder rational in der textinternen rezeptionslenkung zu genießen? Er muss ja auch mit der ersten lesart (a) noch umgehen.

hoffentlich nicht allzu analytisch-sezierend, auf jeden fall in bewunderung für das sonett

your
 

nandris

Mitglied
Ach, weißt...

wenn's nach mir ginge, könnt' sich jeder gern entscheiden, ob er nun lieber Problem a oder Problem b hätte ;)...

xxx
Nandris und...
...welches Problem hätten S' denn gern?
 

Ralf.

Mitglied
Hallo nandris

Das gefällt mir gut. Ich frage mich, ob nicht ein anständiges Sonett inspirierend war? Wäre aber auch nicht so schlimm, weil es die Lesefreude nicht verändert.

Ralf.
 

James Blond

Mitglied
Ein schönes, kraft- und schwungvolles Sonett – auch wenn ich Willibalds Kritik, die ich ebenfalls für vorbildlich analytisch und textbezogen halte, teile: Vers 7 stellt in gewisser Hinsicht einen Bruch dar. Dem Sonett hätte es besser gestanden, wenn die beiden Quartette die Passivität des Lyrischen Ichs noch tiefer ausgereizt hätten und der Übergang zu seinen Verheißungen erst in den Terzetten erfolgt wäre.

Dennoch eine Exhumierung wert, wie ich finde.

Grüße
JB
 



 
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