Baustellen-Leo

pleistoneun

Mitglied
Stumm und mit gekreuzten Unterarmen hinter dem Rücken stand der Frührentner auf der Brücke und tat das, was er am liebsten machte: den kleinen, emsigen Bauarbeitern mit ihren putzigen, bunten Helmen bei der Arbeit zusehen. Leos außergewöhnliches Steckenpferd waren betriebsame Baustellen aller Art, am allerliebsten solche mit überdimensionalen Baggerfahrzeugen und Kränen, die quietschten und vor Belastung laut röhrten. Am Abend, nach einem anstrengenden Baustellentag, schob er gerne mal eine Videokassette in den Rekorder, um sich das sprühende, pulsierende Leben auf den weltgrößten Baustellen reinzuziehen. Die Videos "In Schutt und Asche", "Rastlos im Baggersattel" und "Projekt Betonhalde" waren Lärm- und Spannungsgaranten für professionelles Bauen.

Er ging gewöhnlich früh zu Bett, um bei Morgengrauen wieder dabeizusein, wenn der Schlüssel im Zündschloss der Bagger umgedreht wird. Leo schlüpfte heute in sein neues Nachthemd mit den kleinen farbenfrohen Baggermotiven und kuschelte sich vergnügt in sein Kissen, das selbstverständlich nur mit Straßenbauapplikationen bedruckt war.

5:30 Uhr, der lachende Baggerwecker läutete heute nicht. Misstrauisch zwinkerte Leo auf die Zeiger seines Nachttischweckers, die einen Kran mit zwei Armen darstellte. Schock durchfuhr ihn, als er bemerkte, dass es bereits 20 nach 6 war. Auf dem Weg ins Bad kickte er die ordentlich abgestellten Schaufelbaggerpantoffel in die Ecke und riss sich das Haarnetz vom Kopf, duschte blitzartig und frottierte sich im Anschluss daran mit einem in authentischem Grau gehaltenem Baustellenhandtuch seine wenigen Kopfhaare. Keine Zeit für das tägliche Kaffee-Zeitungs-Ritual, er müsste schon längst am Baugelände sein, mein Gott. Beim hastigen Verlassen seiner Wohnung hätte er sogar beinah den Sack voller Raupen vergessen, den er auf seinen Baustellenbesichtigungen immer bei sich trägt. Mit zerzaustem Haar, halboffenem Hemd und dem prallen Sack voller Raupen donnerte der Rentner mit seinem uralten Moped zum Baugelände. Uff, gerade noch rechtzeitig, er sah, wie sich gerade die rostige Tür des Bauwaggons öffnete und sich buntbehelmte Bauarbeiter zur Arbeit aufmachten. Alles gut gegangen.

Fasziniert starrte Leo stumm und wieder mit gekreuzten Unterarmen hinter dem Rücken auf der Brücke und tat das, was er auch gestern machte und bestimmt auch morgen machen wird, falls er nicht vergisst, seinen Zwei-Takt-Wecker am Abend vollzutanken. Raupenschlepper Leo liebt Baustellen, Baggerdellen und Dellen in Wattebäuschen, also auch Bauschdellen. Danke Leo.
 

Criss Jordan

Mitglied
hm

Hi P9

Irgendwie ist dein Text nicht wirklich satierisch, eher realitätsnah-herzzerreissend. Daran ändert auch der letzte Absatz nix, der versucht, alles wieder "auf Schiene" zu bringen.

Ich kann mir durchaus vorstellen, dass es Leute gibt, die arbeitslos (neudeutsch: Frührentner) sind und sich den Traum vom Arbeiten auf die von dir beschriebne Weise erfüllen. Sicher, wer heutzutage Arbeit hat, stöhnt manchmal und wünscht sich sehnlichst den Urlaub herbei. Aber abgeschoben, verfrühgerentet, arbeitslos zu sein, wünschen sich diese Leute auch nicht. Ich war zwei Jahre ohne Arbeit, ohne Aussicht auf Arbeit... es war....furchtbar. Und ich kann deshalb gar kein bisschen Lächeln über Leo.

Aber deine Schreibe ist toll.... wünsch mir mehr davon ....


CJ
 



 
Oben Unten