Bedauernswerte Kreatur

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Inge Anna

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Bedauernswerte Kreatur

"Augenblick, Rolf; ich bringe mal eben diese bedauernswerte Kreatur - die blinde Person da vor'm Kiosk - rüber auf die andere Seite." Und da war sie auch schon, die Passantin mit der durchdringenden Stimme. Kräftige Finger umkrallten meinen linken Arm, bohrten sich mir äußerst unangenehm ins Fleisch. Fast hätte ich aufgeschrien. Meine Lage erschwerte das Dennoch Freundlichbleiben. Ich versuchte, ihr klarzumachen, dass ich hier, genau hier auf jemanden warten wolle und sie sich nicht zu mühen brauche, mir über die Straße zu helfen. Sie verstand nicht, wollte nicht verstehen. "Auch noch undankbar sein, das hab' ich gern. Dann warte doch, bis du schwarz wirst!"

Und plötzlich zitterten meine Knie so heftig, dass ich glaubte, den Halt zu verlieren. Jetzt reiß' dich aber mal zusammen! Alltagssteine - ein geübter Stolperer fällt nicht so leicht. Ich hielt meinen weißen Stock wie im Krampf. "Bedauernswerte Kreatur". Mich schauderte. Nicht nachgeben - um Himmels Willen; es hätte gerade noch gefehlt, dass ich hier losgreinte.

Eine vertraute Hand berührte meine Schulter. "Entschuldige, ich wurde aufgehalten. Heute ist ein so schöner Tag; komm', gehen wir ins nächste Eiscafé und lassen's uns so richtig gut gehn." Mein langjähriger Arbeitskollege Rudi, so herrlich unkompliziert und für mich im Zustaub der Resignation der Kehr-Aus trüber Gedanken.

Pfeifend schnappte er sich meinen weißen Gefährten. "Der kommt jetzt erst mal zu seinem Mittagsschläfchen." Wieder lächelnd hakte ich mich bei Rudi unter. Ich verbot mir, ihm die "bedauernswerte Kreatur" zu präsentieren.
 

Haremsdame

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Hallo Inge Anna,

so eine Geschichte kommt wahrscheinlich häufiger vor, als wir uns vorstellen können. In der Eile des Alltags fällt es vielen schwer, sich in andere hinein zu versetzen. Gut beobachet! Gefällt mir.
 

Inge Anna

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Das hier Niedergeschriebene - selbst erlebt - also eigene Erfahrung.
Danke für Lesen und Reaktion.
Lieben Gruß
Inge Anna
 

ENachtigall

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Herlfersyndrom

Liebe Inge Anna,

durch den direkten Einstieg in den Text mittels des Spruchs der durchdringenden Stimme gelingt Dir ein spannender Aufbau des Textes.

Hier stellst Du sehr anschaulich die egozentrische, als eine beispielhafte Art des Helfersyndroms heraus. Hauptsache alle anderen hören und sehen, wie einsatzfreudig diese "aufopferungsfreudige" Person sich in Szene setzt. Die Darstellung der groben Handhabung ihres Anliegens betont den Tatbestand, dass es ihr nur um die Sebstdarstellung geht und keinesfalls um die Befindlichkeit der von ihr so demütigend Titulierten. Da besteht null Einfühlungsvermögen.

Hut ab, auch vor dem Ende, wo die Stärke der Protagonistin zum Tragen kommt, da sie den Vorfall nicht wiedergibt.

Gut umgesetzt, das Thema.

Liebe Grüße von

Elke
 

Inge Anna

Mitglied
Und langsam, ganz langsam verlor sich schließlich der bittere Nachgeschmack des Erlebten.
Danke fürs Lesen und Antworten.
LG
Inge Anna
 



 
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