Begegnung

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Cäcilie

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Begegnung

Es ist heute dieser frühe, kalte Novembermorgen, der mich frösteln lässt, der mir eine Gänsehaut nach der anderen über den Körper jagt.
Ich steige aus dem Zug. Der Bahnhof ist fast leer. Nasskalt steigen leichte Nebel auf und dämpfen die Geräusche des morgendlichen Erwachens.
Das alles passt zu meiner Stimmung. Ich fühle mich wie in Watte gepackt. Nichts dringt wirklich zu mir durch, nach innen, meine ich.
Wobei ich mich schon frage, wann überhaupt das letzte Mal etwas zu mir durchgedrungen ist.

Ich bin ein Stein geworden, ein kalter klammer Stein.

Mechanisch gehe ich den Bahnsteig entlang, dann die Treppe hinunter, durch die düstere Unterführung. Die kackbraun gekachelten Wände – feucht glänzend durch den Frühnebel – starren mich an. Es stinkt nach Pisse. Ich trete in ein aufgeweichtes Taschentuch und schleudere es angewidert mit dem Fuß beiseite. Meine Reisetasche hängt an meiner Schulter und möchte mich noch weiter nach unten ziehen. Wie ein Zementsack kommt sie mir vor.

Warum ist es so kalt? Warum kachelt man eine Bahnhofsunterführung kackbraun?
Warum bloß müssen manche Leute in Bahnhofsunterführungen pissen?
Und was, verdammt noch mal, mache ich eigentlich hier?
Warum bin ich am Leben? Warum bist Du tot? Warum bist Du nicht da, gerade jetzt, wo ich Dich bräuchte, wo sonst kein Schwein mich versteht?

Ich gehe weiter. Meine rechte Schulter schmerzt, aber es ist mir egal. Ich starre den Treppenaufgang hinauf, in die Bahnhofsvorhalle. Es ist noch so leer hier. Was eigentlich auch kein Wunder ist. Es ist schließlich noch sehr früh.

Mein Auto steht eine Strasse weiter. Hoffentlich. Wenn es nicht abgeschleppt wurde.
Jetzt gleich weiterfahren zur Arbeit? Oder erst noch nach Hause und einen Kaffee trinken?
Nach Hause – wie das klingt. Es ist nicht wirklich mein zu Hause. Es ist nur ein Notbehelf. Eine Zuflucht. Eine kleine Höhle, in die ich mich verkrochen habe. Weil nichts mehr in meinem Leben so ist, wie es noch vor einem halben Jahr war.

Ich lebe in einer Zwischenwelt. Nichts ist wirklich real. Es ist eine Halbwelt aus Ängsten und Alpträumen. Neben mir läuft das Leben weiter, aber ich bin ausgestiegen. Ich stehe am Rande, sehe was passiert, und sehe es doch nicht. Wo magst Du sein? Meine Gedanken kreisen um Dich. Würdest Du mich überhaupt finden, wenn Du noch hier wärst?
Vielleicht suchst Du mich dort, wo ich war als Du noch lebtest? Aber dort bin ich nicht mehr.

Vielleicht hast Du ja gehört, wie ich nach Dir rief. Aber Du kannst mich nicht finden.
Diese Erkenntnis breitet sich aus und würgt mich. Tränen steigen auf, aber ich schlucke sie herunter. Ich möchte schreien, und doch bleiben meine Lippen zusammengepresst. Nichts darf nach draußen dringen.
Werde ich verrückt?

Ich gehe die Strasse entlang und sehe mein Auto. Ich bin erleichtert. Ich schließe die Tür auf, schmeiße meine Tasche auf den Rücksitz und lasse mich auf den Fahrersitz fallen. Tür zu. Ruhe. Ich schließe die Augen und falle ins Nichts. Ich denke nichts, ich sehe nichts, ich bin einfach nicht da. Minutenlang.

Dann klopft es an meiner Fensterscheibe. Ich schrecke hoch. Ein Polizist steht neben meinem Auto und sieht mich fragend an. Ich kurbele die Scheibe herunter.
„Alles in Ordnung?“, fragt er mich. „Ja, alles okay“, antworte ich, und starte den Wagen.
Er geht wieder, und ich will losfahren.

Und dann beschleunigt sich mein Herzschlag.
Da! Da bist Du ja!
Ich fange an zu zittern. Das kann nicht sein, oder doch?
Doch, das warst Du! Eindeutig! Du bist gerade an meinem Auto vorbeigefahren.
Auf dem Rad.
Ich steige aus und renne hinter Dir her. Ja, Du bist es. Du bist nicht tot. Du lebst!
Du fährst vor mir, Deine Haare wehen wie immer völlig zerzaust im Wind. Du hast – wie immer – die alte Schmuddeljacke an. Du hast sie nicht einmal zugemacht. Das ist doch viel zu kalt, Mensch. Aber es macht ja nichts, es wird gerade so warm, als wäre der Sommer zurückgekehrt.
Ich mache einen kleinen Hüpfer vor Freude, jauchze vor Glück. Du lebst!
Glücklich lege ich noch einen Zahn zu und brülle laut „Kathy! Warte!“

Aber komisch, Du reagierst einfach nicht.
Noch schneller laufe ich. Und dann bin ich neben Dir.
Ich ziehe an Deinem Ärmel. „Kathy!“, rufe ich.
Endlich drehst Du Dich um.

„Ey, was soll das, lass die Finger von mir!“

Plötzlich ist es wieder eisig kalt. Ein fremdes Gesicht blickt mich zornig an. „Wohl besoffen, was?“ Ich schaffe es nicht einmal, mich zu entschuldigen. Ich drehe mich um und schleppe mich zu meinem Auto zurück.
Nichts ist mehr so, wie es noch vor einem halben Jahr war.
Ich kann meine Tränen nicht mehr zurückhalten.
Und dann fängt es an zu regnen.



Copyright: Cäcilie B., 2003
 

Buntstift

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Liebe Cäcilie, ein sehr trauriger Text, der gut zu diesem Novembertag passt. Nah am Wasser gebaut, hat er mich auch entsprechend zu Tränen gerührt. Die Verzweiflung ist greifbar nahe und der Schmerz fühlbar. Möge es kein realer Schmerz von Dir sein.
 

Cäcilie

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Lieber Buntstift,
es freut mich zu hören, dass diese Gefühle rübergekommen sind. Leider ist es ein sehr reales persönliches Erlebnis gewesen. Allerdings schon im November 1999. Ich habe es dann im letzten Jahr aufgeschrieben - auch um festzustellen, ob es mir gelingt, das zu "transportieren", was ich empfunden habe.
 

Buntstift

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Liebe Cäcilia, erstmals: sei Dir mein Beileid sicher und es ist Dir vortrefflich gelungen, die Gefühle, die damit verbunden sind zu transportieren. Liebe Grüsse Buntstift
 



 
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