Begegnung ohne Zukunft

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Immer wieder durch all die Jahre hindurch hab ich mir ausgemalt, wie es sein müsste, wenn ich ihn wieder sehe. In meinen Gedanken konstruierte ich jede Menge zufälliger Begegnungen, nach den Geburten, bei der Einschulung, bei einem Umzug oder auch bei einer festlichen Veranstaltung. An Ideen mangelte es mir nicht.
Als ich ihm dann schließlich wirklich begegnete, erwischte mich das trotz dieser jahrelangen Vorbereitungen völlig überraschend bei irgendeiner unwichtigen Gelegenheit an einer Schule meiner Kinder.

Ich hockte neben dem Fahrrad meines jüngeren Sohnes und versuchte zu ergründen, was nun gerade klemmte, und sah lediglich aus der Situation des Nachdenkens hoch. Und da stand er, ca. 50 Meter von mir entfernt. Ich erkannte ihn nach all den Jahren sofort. Diese aristokratische Haltung, die Größe, die Bewegung von Armen und Händen. Seine Kleidung und seine Frisur vervollständigten das Bild, wie ich es in Erinnerung hatte. Wie elektrisiert sah ich ihn an, er sah mich an. Wir waren beide überrascht. Was tun? Ich stand langsam auf und beschirmte meine Augen mit einer Hand. All die Jahre des Wartens und Hoffens waren wie weggewischt, doch die Angst kletterte in mir hoch.
Ich sah ihn an. Und auch bei ihm erkannte ich das Zögern. Ich lächelte versuchsweise und auch er lächelte und kam mir entgegen. Ich ging auf ihn zu, meine Schritte wurden schneller. Zehn Schritte auseinander blieben wir stehen. Wenn ich mich hätte vorbereiten können, dann hätte ich nach kleinen Miniaturausgaben von ihm Ausschau gehalten, dann hätte ich auch nach einer Frau gesucht, die beständig einen Blick auf ihn warf, so wie eine Spinne ihr Netz beständig prüfte. Er blieb stehen.
Zwischen uns lag das fein gesponnene Band unserer Zuneigung. Ich war unsicher. So unsicher wie vor meinem ersten Kuss von ihm. Ich suchte in seinem Gesicht nach einem Zeichen. Und da ging ein kleiner Impuls von seinen Armen aus, oder war ich es gewesen. Ich fiel in seine Arme, spürte seinen festen starken Arm und fühlte in mir diese Wärme und die Geborgenheit als flammender Strudel hochsteigen, der alle Angst aus den Ecken heraussaugte. Ich spürte sein Herzschlag in meinem aufgehen, und ich fühlte seinen warmen Puls an meinen Lippen, als ich meine Nase gegen seinen Hals drückte. Ich roch diesen angenehm schweren holzigen Geruch, die Symphonie seines Körpergeruchs mit dem Deo. Die Vertrautheit gurgelte durch mich hindurch wie ein angenehm kühler Bach, an dem ich mich laben wollte. Kein einziges Wort kam über unsere Lippen und wir sagten uns in diesem Moment alles, was wir wissen mussten. Kein Zweifel lag in mir, dass es nur mir so gehen könnte. Ganz klar hatten mein Gefühl und mein Verstand den Code dechiffriert. Mir tropfte eine Träne der Freude aus dem Auge, die ich nicht aufhalten konnte. Ich fühlte mich weit und groß und mächtig. Alles hätten wir tun können. Jetzt und Hier waren wir zusammen.

Dann schob er mich sanft von sich, meine Hände hielten noch kurz die seinen. Er drückte sie, sah mich liebevoll an. Sein Blick wurde traurig und schwer. Ich schluckte.
Er drückt meine Hände so fest, als wolle er sie behalten.

"Meine Frau, da vorn und das ist mein Sohn."
"Ja, mein Jüngster und da mein Mann."
"War schön, dich wieder zu sehen. Mach es gut!"
"Du auch!"

Ich sehe ihm nach. In mir schreit es laut, doch ich lass ihn gehen. Lass ihn gehen. Lass ihn gehen.
 

Gandl

Mitglied
Hi ScarlettMirro,
manchmal ist es nicht so ganz leicht, einen schnellen, leichtfüßigen Kommentar zu schreiben. So erging es mir. Ich las die Geschichte vor einigen Tage, nahm sie im Kopf mit auf eine Reise, jetzt liegt sie da wieder, du fragst ...
Und ich antworte: Es ist eine scheißverdammtgute Geschichte ... Ich bin zwar nur ein Mann, kann mich aber so unendlich gut in die Frau hineinversetzen, die ewige Sehnsucht, die zarte Hoffnung, dass doch vielleicht alles anders werden könnte, wenn ... ja, was – wenn ... Und dann das Loslassen ... – das hast du sehr schöntragisch beschrieben. Keine dramatische „jetzt-treffen-wir-uns-und-ficken-und-alles-wird-super-Geschichte“. Das wäre Kitsch. Du hast Das Leben aufgeschrieben. So isses ... Ja. Scheiße.
Ganz lieben Gruß
Gandl
 
Hi Gandl,

schön wieder mal von dir zu lesen... :)

Danke für deinen Kommentar. Ich frag mich einfach manchmal, ob überhaupt jemand meine Texte liest, wenn man so gar kein Echo hört.

Schön auch, dass es dir gefallen hat.

Irgendwie kennt jeder diese Sehnsucht, glaub ich, mal haben wir Sehnsucht nach der Vergangenheit (wie in diesem Beispiel), mal nach der Zukunft, weil wir dort auf den besondern Menschen hoffen. Meist sehen wir den Wald vor lauter Bäume nicht ... gell. Mit der Gegenwart zufrieden zu sein und in Frieden zu leben ist auch für mich die größte Herausforderung. :)

Grüsse u Danke
Scarlett
 

Anygirl

Mitglied
Hallo,

am schönsten finde ich das Ende, der Einstieg ist etwas holprig, aber den letzten Absatz find ich ganz groß!

Gruß Anygirl
 
Danke für euer Lob, tut mir gut ...

Zur Zeit schreib ich nur selten noch Kurzgeschichten, arbeite an einem längeren text ... *ächtz
Vielleicht hat das dann ein Happy End...

Ich fand die Vorstellung auch grausam ... und diese Geschichte ist das genaue Gegenteil zu einer anderen Wiederbegnungsgeschichte ... die ist dann Happy ... werd sie mal einstellen ... so als Kontrast ...

Ist aber länger ... sie heißt SINNESRAUSCHEN.

Grüsse
Scarlett
 



 
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