Beobachtet (Ein kriminalistischer Einakter)

Beobachtet

Ein kriminalistischer Einakter

Samstagmorgen. Die Sonne scheint. Noch ein paar Stunden, dann endlich Wochenende.
Ich sehe den A6 auf den Personalparkplatz des Supermarkts rollen. Leise, nahezu geräuschlos. Vor dem Schild „Nur für die Geschäftsleitung“ bleibt er stehen.

Behände steigt ein Mann aus. Ich habe ihn erwartet, doch sein Anblick schnürt mir trotzdem die Kehle zu.
Er lässt sich Zeit, die lederne Aktentasche herauszuholen, das Handy, eine Zeitung. Er hat Zeit, ihn treibt keiner an.
Keiner erwartet, dass er pünktlich. Alle warten auf ihn.
Alle wissen, dass er entscheidet. Das wird er heute tun. Alle wissen das.
Er wird seine Macht zementieren. Und vielleicht noch viel Schlimmeres.
Ich wende den Blick vom Bürofenster ab; es würde nicht gut aussehen, wenn er mich bemerkt, wie ich ihn beim Aussteigen beobachte.

Seit neun Monaten ist er unser neuer Geschäftsführer, nein, Regionaldirektor, zuständig für mehrere Verkaufsfilialen. Er hat mich eingestellt, mein Büro eingerichtet, ich berichte direkt an ihn, nicht an den Filialleiter.
Heute, fühle ich, wird es ein unangenehmer Tag werden.

„Morgen“, wird ihn jetzt die Melanie am Empfang begrüßen. Er wird nach Nachrichten, einem Fax oder einem E-Mail fragen. Melanie wird ihm nonchalant sagen, dass nichts angekommen ist und…

Ich höre seine Schritte auf dem Gang. Er drückt die Klinke herunter.
„Hallo Marco!“
„Guten Tag, Herr Bülow“, antworte ich höflich.
Er lässt seinen Blick über die acht Bildschirme und die drei PCs schweifen, die vor mir aufgebaut sind: „Hast du sie gekriegt?“
„Jaja“, bestätige ich, lege eine Kassette ein und spiele eine aufgenommene Sequenz ab: „Kamera fünf bitte.“

Der Bildschirm mit der Nummer fünf zeigt jetzt eine Frau die sich auf einer Toilette einschließt. Die ganze Szene ist von einer Kamera gefilmt, die sich unter der Decke befindet.
Anstatt das Klo zu benutzen, legt die Frau einen Stapel an DVD auf den Klodeckel. Sie öffnet ihren weißen Kittel, den hier alle Verkäuferinnen tragen. Eine DVD nach der anderen verschwindet in den Innentaschen des Kittels und hinter dem Gürtel ihrer Hose. Die Verkäuferin verlässt die Toilette, nachdem sie den Kittel wieder geschlossen hat.
„Gut. Und beim Verlassen des Supermarkts?“ Bülow wirft sich in den freien Drehsessel neben mir, fast ein Zeichen der Anerkennung durch meinen Geschäftsführer.
„Kein Problem“, antworte ich und wechsele schnell das Band. Meine Hand zittert etwas. Warum habe ich Angst? Ich mache doch nur meinen Job.
Auf dem Bildschirm erscheint ein halbdunkler Gang, durch den ein Mann schreitet.
„Der Ausgang des Personals, fünf Minuten später“, erkläre ich.
Nun erscheint dieselbe Frau auf diesem Video. Sie durchschreitet den Gang; ihr Kittel wirkt wie aufgebläht; sie trägt eindeutig etwas darunter.
„OK“, kommentiert Bülow, „ruf Miriam herein.“
Ich nicke, hebe das interne Telefon ab, wähle, spreche: „Melanie, schickst du Miriam in den Kontrollraum?“ Ich warte die Antwort meiner Kollegin gar nicht ab, sondern hänge sofort ein.
Bülow und ich hören Melanies scheppernde Lautsprecherstimme im Supermarkt: „Frau Hellenstadt zur Zentralkasse, Frau Hellenstadt bitte.“
Eine Minute vergeht. Eine lange Minute. Bülow wippt in seinem Drehsessel hin und her und starrt Löcher in die Decke.
Eine weitere Minute.
Ich wechsele Ansichten auf meinen Kontrollkameras und tue so, als ob ich was zu tun habe.

Schritte im Gang. Frauenschritte.
Zögerndes Klopfen an meiner Bürotür.
Ich räuspere mich: „Ja bitte?“
Die Tür schwingt auf. Miriam Hellenstadt erscheint im Rahmen. Bleich. Ihre Hände krampfen sich um das Walkie-Talkie.
„Tür zu“, sagt Bülow grußlos.
Die Angestellte gehorcht.
„Ruf Timm dazu.“ Das galt mir.
Ich nehme wieder den Hörer, die Nummer, dann: „Der Filialleiter soll auch zu Bülow kommen.“
Diesmal verkündet die Lautsprecherstimme: „Herr Piehler bitte, Herr Piehler wird an der Zentralkasse verlangt.“

Bülow wendet sich Miriam zu, hebt leicht die Nase und nickt fast unmerklich Miriam zu: „Da, leg dein Talkie-Walkie ab.“
Die junge Frau spannt die Mundwinkel an und legt dann das schwarze, schweißnasse Gerät auf dem Bürotisch ab.
Bülow ignoriert sie jetzt wieder vollkommen und fragt mich: „Was ist auf der drei?“
„Das ist die letzte Kamera, die wir eingerichtet haben. Auf dem Wetterdach des weit entferntesten Abstellplatz der Einkaufswagen.“
„Und?“
„Letzte Woche haben wir eine Gruppe von Jugendlichen geschnappt, die sich hier unbeobachtet fühlte und gestohlene Rasierklingen und Deos aus den Jacken und Hosen holte.“
„Gut“, sagt der Chef tonlos.
Es tritt Schweigen ein.
Langsam, fast wie in Zeitlupe, dreht er den Kopf hoch zu der jungen Frau, die immer noch unruhig, das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagernd, vor ihm steht.
„Du weißt, warum du hier bist?“
Schweigen.
Die Frau starrt ihn mit großen Augen an.
Bülow dreht im Sessel von rechts nach links, von links nach rechts.
Seine Mundwinkel weisen nach unten. Aber eigentlich genießt er diesen Augenblick. Die erste Salve ist abgeschossen. Die zweite wird kommen. Miriam beißt sich auf die Lippen.
Ich tue so, als ob mich dass nichts anginge.
Auf Kamera vier wird ein Kleinkind in der Drehtür von seiner Mutter getrennt. Ich lasse die Drehtür langsamer laufen. Die Mutter setzt ihren Sohn in den Kindersitz des Einkaufswagens.

Jetzt höre ich schnelle, aufgeregte Männerschritte im Gang vor meinem Büro. Ein älterer Herr Mitte Fünfzig, Timm Piehler, poltert herein. Verwirrt, zwischen Verärgerung und Demut: „Herr Bülow, Sie hatten ihren Besuch gar nicht angemeldet.“
Bülow schaut auf den Fußboden vor sich, vermeidet einen direkten Sichtkontakt: „Timm, das Klopfen verlernt?“
„Äh, ich dachte…“
„Kein Problem“, würgt Bülow ihn ab.
Schweigen.
Dann dreht er sich mir zu: „Marco, Film ab.“
Bülow weist ohne weitere Erklärungen auf Kamera fünf. Miriam erscheint auf dem Klo mit den DVDs.
Bülow dreht den Kopf zu den beiden Vorgeladenen, um deren Reaktion zu beobachten. Miriams Augen weiten sich. Herr Piehler massiert sich nervös die Unterlippe. Der Filmausschnitt ist zu Ende.
Bülow fragt: „Erkannt?“ und schaut Miriam an.
„Aber… aber das waren doch Restposten, die gingen doch sonst sowieso auf den Müll“, verteidigt sich Miriam. Sie ist rot im Gesicht vor Scham und Aufregung.
Bülow grinst in sich hinein: Ein so schnelles Geständnis… das war wirklich zu einfach.
Nach außen hin bleibt er hart: „Diebstahl bliebt Diebstahl.“
Piehler ist wie erstarrt.
„Und hier sehen wir die vollbepackte Diebin, wie sie das Diebesgut in Sicherheit bringt. Film ab!“
Miriam erscheint im Personalgang auf Kamera fünf.
„Sie haben gar nicht das Recht, mit verdeckter Kamera zu filmen…“, versucht Miriam eine neue Verteidigungsstrategie.
Bülow schaut prüfend zu hier hoch: „Ach, Miriam, plötzlich kennst du dich so gut mit Gesetzen aus? Ein Tipp: ich würde es nicht drauf ankommen lassen.“
„Herr Piehler“, wendet sich die Verkäuferin jetzt an den Filialleiter, „sagen Sie doch was!“
„Miriam, auch dein Chef kann dir da nicht mehr helfen“, fährt Bülow dazwischen.
„Aber…“
„Nichts aber. Du gehst zur Telefonzentrale. Rührst dich nicht. Wartest, bis man dir deine Sachen aus dem Spind bringt.“
Miriam wird bleich. Ihr Mund öffnet sich.
Bülow weist wortlos auf die Tür.
Die junge Verkäuferin schleicht gebrochen aus dem Raum.

„Marco.“ Das galt mir.
Ich rufe Melanie am Empfang an: „Melanie?“
„Ja?“
„Miriam kommt zu dir. Jemand soll ihren Spind ausräumen.“
„Was geht da ab?“, will Melanie wissen.
Ich hänge ein.

„Timm, wusstest du das?“, will jetzt der Regionalleiter vom Filialchef wissen.
„Dass die Kameras installiert sind? Ja, das wusste ich, dass man Diebe jetzt leichter identifizieren kann.“
Bülow schüttelt den Kopf: „Das meine ich nicht.“
Timm Piehler steht immer noch. Er tut mir leid, mein Chef. Er hat den Laden immer am Laufen gehalten.
„Das mit Miriam wusste ich nicht, nein“, sagt er jetzt mit klarer Stimme.
Der Regionalleiter sitzt mit aufgesetzten Ellenbogen in seinem Sessel. Er hat seine Hände gefaltet. Fast wie bei einer Meditation. Wippt im Sessel hin und her. Meditiert er?
„Mir scheint“, fährt er jetzt langsam fort, „du wusstest einiges nicht…“ Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen.
Piehler legt seine Hände nach hinten auf den Rücken: „Was soll das heißen?“ Er sieht aus wie ein Gefesselter am Marterpfahl.
„Wie sehen die Umsatzzahlen im ersten Quartal aus?“, will Bülow wissen.

Meine Finger werden schweißnass, sie tanzen wirr auf der Tastatur meines PCs. Am liebsten würde ich hier verschwinden. Ich wuchte mich aus dem Bürostuhl.
„Sitzen bleiben, Marco“, herrscht mich Bülow an.
Ich schlucke, schaue aus dem Fenster. Da sehe ich Melanies Ehemann bei den Autos stehen? Was macht der da? Ist es schon Arbeitschluss für Melanie? Ich kann nicht mehr klar denken.

„Also? Wie sehen die Umsatzzahlen im ersten Quartal aus?“, wiederholt der Regionalleiter.
„Ich habe sie nicht im Kopf; ich muss sie kurz im Büro holen.“ Der alt gediente Filialleiter wendet sich zur Tür.
„Ich…“, sagt Bülow lang gezogen, und sein Wort klingt wie ein Befehl, nicht den Raum zu verlassen, „ich habe die Zahlen im Kopf.“
Piehler schluckt: „Und?“
„Sie sind nicht gut.“
Pause.
„Sie sind gar nicht gut.“
Pause.
Mann, der will den rausschmeißen! denke ich.

Leise, leise, fast unhörbar wiederholt der Regionaldirektor: „Gar nicht gut“.
Ich habe im Kopf das Bild von einem tollwütigen Hund, der sich festbeißt.
Stille.
Nur die Ventilatoren der PCs raunen unheilvoll.
Ich schaue zu Boden, bin nicht dabei, will nichts damit zu tun haben.
„Was schlagen Sie vor, Herr Bülow?“, versucht Piehler dann einen letzten Ausweg.
Hinter der in Falten gelegten Stirn des Regionalleiters braut sich etwas zusammen. „Weißt du, Timm“, seine Stimme wirkt jetzt vertraulich, fast warm. „Morgen treffe ich den Hauptgeschäftsführer im Golfclub. Da muss ich ihm was präsentieren. Einen Rückblick aufs vergangene Geschäftsjahr, einen Ausblick, Umsatzprognosen – Was machst du heute Nachmittag und Abend?“
Piehler schluckt. Ist das ernst gemeint? Gibt der Chef ihm noch eine Chance? Der alte Mann seufzt: „Ich schicke Ihnen das Material morgen früh per E-Mail.“
„Ja, dann noch einen schönen Abend“, meint Bülow süffisant.
Piehler zieht ab. Der Mann ist geliefert. Alles nur Maskerade. Bülow hat ihn abgeschossen.
Leise, so als ob er ein schlafendes Kind nicht wecken will, zieht der desavouierte Filialleiter die Tür zu.
Stille wie Blei legt sich über den Kontrollraum.
Wann darf ich weg?
„Na, das war was!“ Er knallt mir seine Hand auf den rechten Oberschenkel. Oh Gott, jetzt muss ich auch noch den Verschwörungs-Kumpel machen… Ich grinse unbeholfen.
„Hahar“, bricht es aus dem Sieger hervor, „und der Alte denkt, dass er mit Fleißarbeit noch seinen Kopf retten kann!“
Ich würde am liebsten kotzen.

Locker flockig erhebt sich der Regionalleiter.
„Tja, Marco, dir auch noch einen schönen Abend.“
Ich nicke, unfähig etwas Vernünftiges zu sagen.
Er nimmt seine Aktentasche, öffnet die Bürotür, geht durch den Gang.
Alles mein, denkt er. Hier bin ich der Chef.
„Auf Wiedersehen“, sagt Melanie, die Empfangsdame, höflich, aber mit deutlich kalter Stimme.
Bülow verlässt das Gebäude. Er weiß, dass seine Mitarbeiter an den Bürofenstern stehen und seine Abfahrt beobachten. Er lächelt.
Die Zentralverriegelung seines A6 schnappt schnalzend auf. Alles geht wie geschmiert.
Da klingelt sein Handy.
Er nimmt ab.
„Bülow?“
„Hans“, sagt die Stimme am anderen Ende der Leitung. „Und?“
„Gut, alles glatt abgegangen“, antwortet der Grinsemann.
„Die kleine Verkäuferin?“
„Gehört nicht mehr dazu.“
„Und Piehler?“
„Kein Problem.“ Bülow lacht: „Der wird uns sogar noch die Zahlen präsentieren. Gräbt sein eigenes Grab. Kannste abhaken.“
„Morgen, im Golfclub um 9?“
„Wie abgemacht.“
„Und… was machst du mit dem Videomaterial?“
„Müssen wir verschwinden lassen“, räumt Bülow ein. „Is ja nicht ganz astrein.“
„Räum richtig auf, da darf nichts übrig bleiben“, fordert Hans ihn auf.
„Mach dir keine Sorgen.“
„Und der Videomann?“
„Der wird auch über die Klinge springen; den brauch ich noch zwei, drei Wochen, dann kriegt der einen warmen Händedruck und tschüss.“
Hans lacht: „Bis morgen.“
„Bis morgen.“

Ich stehe am Bürofenster. Bülow hat über sein Handy telefoniert. Der grinst ja wie ein Honigkuchenpferd. Jetzt hat er aufgelegt. Schaut er noch mal rüber. Hat mich entdeckt. Nickt. Ich würde gern wissen, was er gerade am Telefon gesagt hat. Scheint ja wirklich happy zu sein, das Schwein.
Er winkt mir freundlich zu.
Ich winke verzagt zurück. Atme tief durch. Scheissjob. Miriam und Herr Piehler tun mir wirklich leid. Was soll ich tun?
Das Arsch lächelt noch mal gnädig Richtung Bürofenster.
Dann rollt der A6 gemächlich vom Parkplatz.
Doch was ist das? Er hinterlässt eine Spur, eine Ölspur.
Sie läuft vom Parkplatz bis auf die Strasse.
Was war noch mal Melanies Mann von Beruf? Automechaniker?
Wenn das mal keine Bremsflüssigkeit ist.
 



 
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