Bergengrün

Bergengrün

Eine Geschichte von Stefan Seifert



Bergengrün ist schon etwas Besonderes. Wenn einer beiläufig erwähnt, daß er in Harvard studiert hat, in Stanford oder Cambridge, dann sind natürlich alle erst einmal vor Ehrfurcht erstarrt und kommen sich poplig vor. Aber wenn du dann sagst, du warst in Bergengrün, dann kriegt der aus Harvard plötzlich ganz runde Augen. Bergengrün ist der Exot unter den Unis. Klein, fein und vornehm. Absolut exklusiv und unabhängig. Mit einem interessanten Hauch von Verruchtheit.

Für einen Absolventen von Bergengrün ist eine steile Karriere vorprogrammiert. Die von Bergengrün haben überall ihre Verbindungen. Wo auch immer Entscheidungen getroffen werden, ob im Business, in der Politik, in der Kultur oder sogar bei den Kirchen, haben welche aus Bergengrün ihre Finger im Spiel. Egal was du machst, stets wird man dir den Weg ebnen, wenn du in Bergengrün warst. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, daß es eigentlich eine kleine Uni ist.

Natürlich glauben alle, daß man als normaler Sterblicher niemals da hin kommt. Nur wenn man reiche Eltern mit Beziehungen hat. Ja, denkste. Der Witz ist, daß die meisten es gar nicht erst versuchen, sich dort zu bewerben. Viele wissen gar nicht, daß es Bergengrün überhaupt gibt, und wenn, dann winken sie ab und sagen, ja, eine teure Privatuniversität, vielleicht passend für Rockefeller Junior.

Ich hätte vielleicht genauso gedacht, aber Lucie war da anders. Lucie und ich, wir waren dicke Freundinnen schon seit ewigen Zeiten. Seit der fünften Klasse oder so. Sie mußte immer alles ausprobieren und alles genau wissen. Vor nichts hatte sie Respekt. Sie hatte also hingeschrieben nach Bergengrün und angefragt und einen Haufen Material geschickt bekommen. Und einen sehr netten Brief, unterschrieben vom Rektor persönlich, Professor Tiufal Moriander. Und siehe da, es stellte sich heraus, daß es durchaus nicht unmöglich war, in Bergengrün zu studieren, auch wenn man keine schwerreichen Eltern hatte. Es gab zum Beispiel Stipendien für besonders Begabte. Na ja, als besonders begabt konnte man Lucie und mich nicht bezeichnen, wir waren froh, wenn wir das Abi schafften. Ich jedenfalls. Lucie war eigentlich ziemlich klug, aber sie hatte keine Lust, irgendwelchen Schwachsinn zu büffeln. Also, mit den Stipendien war das nicht so einfach.

Aber hoppla, da gab es noch andere Möglichkeiten. Ein großer Pharmakonzern war mit Bergengrün eng liiert. Er führte eine groß angelegte Langzeituntersuchung mit leistungsstimulierenden Präparaten durch. Sie sollten später in der Raumfahrt, im Leistungssport und Gott weiß wo zur Anwendung kommen. Studentinnen und Studenten, die sich während der Dauer ihres Studiums für diese Tests zur Verfügung stellten und die bestimmte Voraussetzungen erfüllten – welche, wurde nicht gesagt – bekamen das Studium bezahlt, freie Kost und Unterkunft und, haltet Euch fest, Cash, jeden Monat ein hübsches Sümmchen.

Lucie und ich hatten uns für dieses Programm beworben und bald bekamen wir Post, jede einen dicken Umschlag per Einschreiben. Darin waren endlose Fragebögen zum Ausfüllen. Wir setzten uns eines schönen Nachmittags zusammen hin und begannen, alles zu beantworten. Es war extrem, was die alles wissen wollten, angefangen von der Geburt. Eine Frage war, ob wir schon geschlechtlichen Verkehr gehabt hätten. Das war nun wirklich ein heikler Punkt. Die Wahrheit war nämlich, wir hatten beide noch nicht, weder Lucie noch ich. Das durfte natürlich niemand wissen. Es war das am strengsten gehütete Geheimnis der westlichen Hemisphäre. Ich schlug deshalb vor, zu schummeln und die Frage mit Ja zu beantworten. Die Wahrheit war zu peinlich.

Lucie war aber anderer Meinung. Zum einen wurde versichert, daß die Angaben hundertprozentig vertraulich behandelt wurden. Zum anderen warnten sie, daß man alle Fragen unbedingt wahrheitsgetreu beantworten sollte, da sonst Risiken für den Verlauf der Tests entstehen könnten.

„Wir wollen lieber ehrlich sein, Ännchen,“ sagte Lucie (Ich heiße in Wirklichkeit Anne, aber Lucie neckte mich immer und nannte mich „Ännchen“, wie Ännchen von Tharau). „Du weißt nicht, was alles davon abhängt. Und wenn sie irgendwie doch die Wahrheit herauskriegen ...“

Na gut, ich machte also wahrheitsgemäß mein Kreuz an der entsprechenden Stelle. Aber in dem Moment schwor ich mir, daß ich nicht als Jungfer zur Uni gehen würde. Lucie war da anders, aber ich – nein.

Ich wußte auch schon, wer der Glückliche sein würde. Norbert. Norbert war mir sehr sympathisch. Er war nicht so wie die anderen. Er war ruhig, zurückhaltend und interessierte sich für Bücher und Musik. Und er sah gut aus. Außerdem würde er garantiert nicht tratschen. Das war nicht seine Art. Ich machte also ein Date mit ihm aus, bei ihm zu Hause, als seine Eltern nicht da waren. Um es gleich vorweg zu sagen, es war eine Enttäuschung. Ich kam, er legte sein Buch zur Seite, wir quatschten ein bißchen, küßten uns und dann fing ich an, mich auszuziehen. Er machte überhaupt nichts. Ich mußte ihn auch noch halb ausziehen und setzte mich auf ihn. Danach hatte ich das Gefühl, daß er mich wieder los werden wollte. Es klingelte auch bald und ein Kumpel von ihm kam. Ich möchte wetten, daß das abgesprochen war. Sie redeten ununterbrochen über Science Fiction und Fantasy-Bücher und mir blieb nur noch, mich zu verziehen. Na ja, aber jedenfalls hatte ich erreicht, was ich wollte. Ich war keine Jungfrau mehr. Die Fragebögen für Bergengrün hatten wir allerdings inzwischen schon abgeschickt.

Es gingen so zwei Monate ins Land. Die anderen wußten schon größtenteils, wo sie studieren würden. Bloß Lucie und ich drucksten herum, wenn uns jemand fragte. Wir dachten schon, daß es ein Fehler gewesen war, sich in Bergengrün zu bewerben und sahen uns nach Alternativen um. Da kam der Knaller. Wir kriegten beide am gleichen Tag die Benachrichtigung, daß wir in Bergengrün angenommen waren. Wir waren in das Programm des Pharmakonzerns aufgenommen worden. Keine Studiengebühren und ein hübsches monatliches Taschengeld. Das war wie ein Hauptgewinn im Lotto. Jetzt waren Lucie und ich natürlich die Größten, gegen einen Studienplatz in Bergengrün kam so schnell nichts an. Neid ist eine häßliche Sache. Aber es ist herrlich, wenn man ihn auf den Gesichtern der anderen sieht.

Der Sommer ging ins Land mit Urlaub und Grillpartys und als es Herbst wurde, waren Lucie und ich in meinem alten VW-Käfer unterwegs nach Bergengrün. Es lag im Mittelgebirge und die asphaltierte Straße wand sich zwischen hohen Nadelbaumwäldern dahin. Mein Käfer gab sein Bestes und brummte, was das Zeug hielt. Schließlich kam eine Abzweigung mit einem Schild: Bergengrün Dorf. Ich wollte schon abbiegen aber Lucie, die die Karte vor sich hatte, sagte:

„Nein, hier noch nicht. Die nächste.“

Wir fuhren weiter bergauf, immer in Kurven, dann kam ein Schild: Bergengrün Universität. Hier bog ich ab. Wir fuhren eine ganze Weile durch dichten Wald. Ich dachte schon, wir hätten uns verfahren. Dann erblickten wir eine Steinmauer. Nach einer Biegung standen wir vor einer Toreinfahrt. Auf einer Parkfläche standen einige Autos, aber es war kein Platz mehr frei und ich fuhr einfach durch das Tor hindurch. Dahinter war ein ausgedehnter Komplex, der eigentliche Campus. Sein Zentrum bildete ein Schloß, das, zumindest in seinem Kern, schon sehr alt sein mußte. Direkt daneben und mit dem Schloß verbunden war eine Kapelle, ebenfalls schon ziemlich alt. Unweit des Schlosses befanden sich weitere alte Gebäude, die die Bibliothek, Büros und die Wohnungen der Dozenten enthielten. Dahinter befanden sich die Küche, der Speisesaal und die Häuser, in denen die Studenten wohnten. Vor dem Schloß war ein großer Platz, in dessen Mitte eine mächtige Eiche stand. Auf der anderen Seite, dem Schloß gegenüber, war ein von Mauern umgebener Park. An der Innenseite der Mauern befanden sich Nischen mit Büsten ehemaliger Schloßbewohner und Gräber.

Wir gingen zum Verwaltungsgebäude und meldeten uns an. Von einer etwas säuerlich dreinblickenden älteren Frau bekamen wir gegen Quittung unsere Zimmerschlüssel, Studienpläne und Vorlesungsverzeichnisse. Lucie und ich hatten natürlich ein Zimmer zusammen. Wir schafften sofort unsere Sachen hin und richteten uns häuslich ein. Wir fühlten und großartig. Dann stromerten wir noch ein wenig auf dem Campus herum, meldeten uns in der Bibliothek an und entdeckten eine kleine Cafeteria, wo wir Kaffee tranken und einen Toast aßen. Es war noch nicht viel Betrieb, die anderen Studenten reisten wahrscheinlich erst gegen Abend oder am nächsten Morgen an.

Ich wollte dann das Auto auf den eigentlichen Parkplatz bringen, der hinter der Mauer war, an der wir zuerst vorbei gefahren waren. Man konnte ihn mit dem Fahrzeug nur von der Straße her erreichen. Da machte Lucie den Vorschlag, nach Bergengrün Dorf zu fahren und sich dort ein wenig umzusehen. Gesagt, getan, schon waren wir wieder mit meinem willig brummenden Käfer unterwegs.

Wir fuhren auf die Fernverkehrsstraße zurück, die wir heraufgekommen waren. Dann fuhren wir hinunter, bis zur nächsten Abfahrt, auf der „Bergengrün Dorf“ stand. Wir bogen ab und kamen an einigen Wiesenhängen vorbei, auf denen Kühe weideten. Schließlich erreichten wir den Ortseingang. Was mir als erstes auffiel, war, daß überall große Steine oder Felsbrocken auf den Gehwegen lagen, offenbar um zu verhindern, daß jemand dort sein Auto parkte. Der gesamte Eindruck des Dorfes wurde dadurch bestimmt: abweisend und feindselig. Es gab nirgendwo eine Parkmöglichkeit und ich hielt schließlich auf dem Marktplatz, direkt vor dem Gasthof. Wir stiegen aus und blickten uns um. Es war kein Mensch zu sehen, dennoch hatten wir das Gefühl, aus den Fenstern der Häuser heraus beobachtet zu werden. Unser Urteil stand schnell fest: Absolut trostlos, das Nest.

Da wir nun einmal da waren, beschlossen wir, in den Gasthof zu gehen. Die Gaststube war fast leer. Nur ein alter Mann saß in einer Ecke vor seinem Bier. Es war schummrig und roch nach abgestandenem Tabakrauch. Ein großer Kachelofen ragte in den Raum. Wir setzten uns an einen Tisch und bestellten bei der mürrischen Wirtin zwei Schoppen Weißwein.

„Seid ihr von der Universität?“ fragte der alte Mann aus seiner Ecke. Als wir bejahten nahm er sein Bier und kam an unseren Tisch.

„Darf ich mich zu euch setzen?“ fragte er. Wir nickten zaghaft und er setzte sich. Er lächelte, doch die kleinen Augen in seinem runzligen Gesicht blickten kalt und wachsam.

„Die vom Schloß, ich meine, von der Universität, kommen normalerweise nicht ins Dorf,“ begann er.

„Wir sind heute erst angekommen,“ sagte Lucie. „Entschuldigen Sie, wenn wir die Gepflogenheiten hier noch nicht kennen.“

„Das merkt man schon, daß ihr noch neu seid,“ sagte der Alte und nippte an seinem Bier. „Aber bald werdet ihr so sein, wie alle dort.“

„Wie sind die denn dort?“ fragte ich.

„Na, eben anders,“ erwiderte der Alte. „Die gucken durch einen durch. Als wärst du Luft. Aber hier ins Dorf kommen sie erst gar nicht. Die Leute hier mögen sie nicht. Jeder hat hier einen Knüppel hinter der Tür stehen. Oder eine Axt.“

„Es gibt da alte Geschichten,“ fuhr er nach einer Spanne ungemütlichen Schweigens fort. „Ihr müßt wissen, das Dorf gehörte früher einmal zum Schloß. Die Schloßherren haben es schlimm getrieben mit denen aus dem Dorf. Habt ihr schon mal was vom Recht der ersten Nacht gehört?"

Die Schweinsäuglein des Alten funkelten, als er flink zwischen uns hin und her blickte.

„Wenn eine aus dem Dorf heiratete, durfte der Schloßherr als erster mit ihr schlafen. Aber auch sonst trieben sie es wüst auf dem Schloß. Man munkelte von Orgien und schwarzen Messen. Einmal ließen sie zwei junge Mädchen kommen, zwei Jungfrauen. Die eine wurde nie wieder gesehen. Die andere kam nach zwei Tagen zurück. Sie war nicht mehr richtig im Kopf. Sie hat nie erzählt, was dort passiert ist. Sie konnte es auch gar nicht. Sie hatten ihr die Zunge abgeschnitten.“

„Komm, wir gehen,“ sagte ich zu Lucie. Doch die schien irgendwie fasziniert zu sein, von dem, was der Alte erzählte.

„Die Zeiten haben sich geändert,“ sagte der alte Mann. „Aus dem Schloß wurde eine Universität. Aber für uns aus dem Dorf sind das immer noch die vom Schloß, und von dort kommt nichts Gutes. Dort haust das Böse.“

Ich winkte die Wirtin herbei und zahlte. Als wir aufstanden, um zu gehen, fragte der Alte grinsend:

„Seid ihr zwei eigentlich noch Jungfrauen?“

Wir würdigten ihn natürlich keiner Antwort und gingen zur Tür.

„Paßt nur auf, daß euch nicht etwas ganz Ungeheuerliches widerfährt,“ rief uns der Alte hämisch lachend hinterher. „Und hütet eure Zunge. Ha ha, das ist gut. Hütet eure Zunge!“

Wir gingen direkt zum Auto und stiegen ein. Hinter dem Fenster des Gasthofes sahen wir das grinsende Gesicht des Alten.

„Das war garantiert das erste und letzte Mal, daß ich hierher gekommen bin,“ sagte ich voll Abscheu und startete den Motor. „Das ist kein Dorf, das ist ein Alptraum.“

Als wir auf den Campus zurückkehrten, war dort schon etwas mehr Betrieb. Wir hingen noch ein bißchen in dem Aufenthaltsraum von unserem Haus herum und guckten, wer so kam, dann gingen wir in unser Zimmer. Wir lasen bis wir müde wurden und löschten bald das Licht.

Am nächsten Tag mußten wir uns wegen der Testreihe melden, für die wir freies Studium und unsere Mäuse bekamen. Wir wurden gewogen und gemessen, sie machten Sehtests und Hörtests und am Ende nahmen sie uns noch Blut ab. Na schön, was tut man nicht alles für Geld. Schließlich gaben sie jeder von uns ein Glas mit Kapseln. Davon sollten wir jeden Tag nach dem Frühstück eine nehmen.

Als ich später einmal allein in unserem Zimmer war, nahm ich eine Kapsel heraus und sah sie mir an. Sie bestand aus zwei zusammengesteckten Plastikhälften. Sie ließen sich auseinanderziehen. Ich schüttete den Inhalt der Kapsel auf die Handfläche. Es war ein braunes, glitzerndes Pulver. Ich roch daran und kostete ein wenig. Es schmeckte merkwürdig. Bitter und unangenehm klebrig. Ich schüttete das Pulver in das Waschbecken. Das gleiche machte ich mit dem Inhalt der übrigen Kapseln. Es bereitete mir eine diebische Freude, das Zeug wegzuspülen. Als Laborratte war ich mir zu schade. Lucie sagte ich nichts davon. Sie hätte bestimmt wieder Einwände gehabt.

Wir trafen jetzt auch andere Studenten, die schon eine Weile hier waren. Sie schienen ganz nett zu sein, aber richtig warm konnte man mit ihnen nicht werden. Der alte Mann in dem Dorfgasthaus hatte nicht ganz unrecht gehabt. Sie waren wirklich irgendwie komisch. Sie sahen durch einen hindurch. Sie lächelten dich an, aber irgendwie hattest du das Gefühl, daß sie dich gar nicht richtig mitkriegten. Na ja, vielleicht brachte das das Studium so mit sich.

Der Studienbetrieb begann für uns mit einer Eröffnungsvorlesung von Professor Tiufal Moriander, dem Rektor. Die Vorlesung fand im Auditorium Maximum statt, das sich im Schloß befand und wohl früher einmal ein Rittersaal war. Das Licht fiel durch farbige Bleiglasfenster herein, was eine Atmosphäre wie zu Weihnachten erzeugte. Auf einem Wandbild war eine Jagdszene dargestellt. Ein erlegter Hirsch lag am Boden. Seine Augen waren weit aufgerissen. Aus einer Wunde an seiner Seite kam ein Blutstrahl, der in einem Bogen genau in einen Kelch traf, den ein prächtig gekleideter Edelmann emporhielt.

Der Saal war krachend voll. Es waren nicht nur die Studenten des ersten Studienjahres, sondern auch die älteren Semester erschienen. Professor Moriander schien sich einer gewissen Beliebtheit zu erfreuen. Als er hereinkam, ertönte Beifall. Er war ein gutaussehender schlanker Herr in mittleren Jahren, nicht allzu groß, mit schwarzen, sorgfältig frisierten Haaren und markanten, scharfen Gesichtszügen. Seine Augen funkelten angriffslustig oder ironisch, je nach Anlaß. Er trug einen hocheleganten gestreiften Anzug und eine dunkelrote Krawatte. Nachdem er an ein Pult, das auf einem Podest stand, getreten war, klopfte er an das Mikrophon, um zu prüfen, ob es eingeschaltet war. Dann sagte er:

„Ich freue mich, daß die Gemeinde so zahlreich erschienen ist. Wo sonst findet man heute noch so volle Kirchen.“

Gelächter erscholl. Der Professor wußte, wie er sein Publikum zu nehmen hatte.

„Zu welchem Zweck studiert man in Bergengrün?“ rief er mit spöttisch glitzernden Augen ins Auditorium.

„Um Reichtum und Macht zu erlangen? Warum nicht. Bergengrün vermittelt Ihnen die besten nur denkbaren Voraussetzungen für eine glänzende Karriere, egal welchen Wissenszweig Sie als Hauptfach gewählt haben. Doch nach Reichtum und Macht streben andere auch. Welches soll aber das besondere Fundament unseres Strebens sein? Wollen wir blind dem Glück hinterher jagen wie die Vielen, Allzuvielen?“

Er lachte wieder spöttisch. Es war klar, daß er nur zum Schein fragte und sich selber darüber lustig machte.

„Nein,“ rief er mit leicht übertriebenem Pathos. „Wir haben anderes im Sinn. Ganz anderes. Wir wollen der Welt unseren Stempel aufdrücken. Mehr noch. Wir wollen eine eigene Welt erschaffen. Eine neue Welt, deren Entwürfe hier bei uns, in Bergengrün, entstehen.“

Beifall brandete auf. Der Professor hob lächelnd die Hände.

„Danke,“ rief er. „Mir geht das Herz auf, wenn ich so viele junge Menschen in diesem frischen Geist versammelt sehe.“

Man wußte wirklich nicht, ob er das ernst oder ironisch meinte. Ich glaube, er machte sich über uns lustig. Aber gerade das verlieh ihm seinen besonderen, etwas boshaften Charme.

„Doch bis zur Verwirklichung unserer Pläne müssen wir noch einen beschwerlichen Weg gehen,“ fuhr der Professor, ernster geworden, fort.

„Wir müssen nicht nur die Wissenschaften studieren und anwenden, sondern die Grundsubstanzen erforschen. Wir müssen Erkenntnisse über ihre Nutzbarkeit und Formbarkeit erlangen und uns die schöpferischen Kräfte des Kosmos untertan machen. Dabei werden Sie Entscheidungen treffen müssen, die nicht immer einfach sein werden. Sie werden Grenzen überschreiten und Tabus brechen. Sie werden genötigt sein, sich in Uneigennützigkeit, Konsequenz und Disziplin zu üben. Lassen Sie mich an dieser Stelle eine Warnung aussprechen: Wer auf diesem Weg stehenbleibt und ihn nicht zu Ende geht, wird furchtbar scheitern. Für einen solchen Menschen wäre es besser, er hätte Bergengrün nie betreten.“

Ich fand, daß er reichlich dick auftrug. Aber so waren solche Typen nun mal: Sie hielten sich für den Nabel der Welt. Sie glaubten, sie wären der liebe Gott und hätten das Universum in der Hosentasche. Nur, daß sich draußen, im wirklichen Leben, niemand um sie kümmerte. Der hier war auch so ein aufgeblasener Spinner.

Ich wollte darüber gerade etwas zu Lucie sagen. Doch als ich sie ansah, stutzte ich. Ihr Gesicht leuchtete vor Hingabe. Sie schien diesen Professor Moriander regelrecht anzuhimmeln. Die hat es erwischt, dachte ich, und verkniff mir die boshafte Bemerkung, die ich auf der Zunge hatte.

Es war nicht zu übersehen, daß mit Lucie eine Veränderung vorgegangen war. Sie wirkte wie schlafwandlerisch und ich konnte mich kaum noch vernünftig mit ihr unterhalten. Sie ließ keine Vorlesung von Professor Moriander aus, der Religionsgeschichte und Alchimie unterrichtete. Ja, Alchimie. Es gehörte zu den Besonderheiten von Bergengrün, daß dort auch solche Fächer wie Alchimie und Medizin des Mittelalters gelehrt wurden.

Ich hatte also praktisch Lucie an Professor Moriander verloren. Ich konnte aber auch keine neuen Freunde finden. An die anderen Studenten kam man irgendwie nicht ran. Sie waren zwar nach außen hin nett und freundlich, aber unter dieser Oberfläche waren sie unnahbar und abweisend. Sie kamen mir vor wie Komparsen, die in einem Stück die Rollen der „netten Studenten“ übernommen hatten. Die eigentliche Geschichte aber vollzog sich im Verborgenen. Ich hegte den Verdacht, daß es sich dabei um ein ziemlich übles Spiel handelte.

Um mich von meinen trüben Gedanken abzulenken, ging ich eines Nachmittags im Schloßpark spazieren. In die Mauer, die ihn umgab, waren Nischen eingelassen, in denen die Büsten ehemaliger Schloßherren standen, der Grafen und Barone von Bergengrün und ihrer Frauen oder Mätressen. Ich kann nicht sagen, daß sie einen besonders sympathischen Eindruck auf mich machten. Sie hatten alle etwas Grausames oder Wollüstiges im Ausdruck. Es war wie ein Familienmerkmal. Irgendwie ähnelten sie dem Professor Moriander. Aber das bildete ich mir wahrscheinlich nur ein.

Ich kam in einen Bereich des Parks, in dem neben alten Grabsteinen auch neuere Gräber waren. Eines, direkt an der Mauer, war gerade ausgehoben worden. Neugierig ging ich näher. Das Grab war noch leer. Dahinter steckte ein hölzernes Kreuz verkehrt herum in der Erde. Irgendein gehirnkranker Witzbold hatte daran, ebenfalls verkehrt herum, in einer blasphemischen Kreuzigung eine Katze genagelt. Ihre Seite war aufgeschlitzt und das ausgelaufene Blut klumpig angetrocknet. Das Maul des armen Tieres war wie im Schrei aufgerissen, die Augen blickten starr. Mit Schaudern wandte ich mich ab und verließ den Park so schnell ich konnte.

Als ich in unser Zimmer zurückkehrte, war Lucie nicht da. Das überraschte mich, denn eigentlich wollte sie sich auf ein Seminar von Professor Moriander vorbereiten. Ich ging in die Bibliothek, aber dort war sie auch nicht. Im Lesesaal herrschte gähnende Leere. Ich verdrückte mich wieder und schaute in der Cafeteria vorbei. Auch dort war von Lucie keine Spur. Ich trank einen Orangensaft, kaufte mir eine Tafel Schokolade und ging wieder in unser Zimmer zurück. Resigniert legte ich mich mit einem Buch und der Tafel Schokolade auf mein Bett und las, bis ich müde wurde und einschlief.

Als ich aufwachte, war es mitten in der Nacht. Ich lag völlig angekleidet auf dem Bett. Das Buch lag neben mir und meine Leselampe brannte noch. Lucie mußte inzwischen da gewesen sein. Auf dem Tisch lag ein Zettel.

„Komme später, mach Dir keine Sorgen. Habe heute abend ein Date mit Professor Moriander in der Schloßkapelle! Schlaf schön. Lucie.“

Ein Date in der Schloßkapelle! Ich blickte auf meine Armbanduhr. Es war halb zwei. Ich konnte mir nicht vorstellen, was Lucie und der Professor so lange in der Schloßkapelle machten. War sie mit zu ihm gegangen? Ich fand das unerhört. Und ich machte mir Sorgen um Lucie.

Ich zog mir eine Jacke an, steckte eine kleine Taschenlampe ein und verließ das Haus. Der Campus war menschenleer. Die Umrisse des Schlosses zeichneten sich schwarz gegen den Nachthimmel ab. Im Turm brannte noch Licht. Die Schloßkapelle daneben schien verlassen zu sein. Um diese Zeit war sie zugeschlossen. Aber ich kannte noch einen Nebeneingang. Er führte über die Sakristei. Ich mußte einmal zusammen mit anderen Studenten Stühle aus einem daneben gelegenen Raum holen. Die Tür zu dem Gang, der zur Sakristei führte, war nicht verschlossen. Ich knipste meine Taschenlampe an und schlich hinein. Auch die Tür zur Sakristei war unverschlossen. Von dort führte ein weiterer Gang direkt zum Altarraum.

Ich überlegte, was ich machen würde, wenn ich Lucie und Professor Moriander überraschen sollte. Ich wußte es nicht. Aber ich würde dem sauberen Professor die Suppe schon versalzen.

Als ich die Tür zum Kircheninneren öffnete, spürte ich einen seltsamen Geruch. Es roch modrig, nach Weihrauch und irgendetwas Widerlichem, Süßlichem, Übelkeit erregendem. Ich befand mich auf einem Podest, auf dem ein mit einem dunklen Tuch bedeckter Altartisch stand. Im Licht meiner Lampe erkannte ich darauf einen Kelch und einen Hostienteller. In dem Kelch befanden sich Reste einer dunkelroten Flüssigkeit. Dunkelrote Flecken waren auch auf dem Hostienteller. Es sah aus, als hätte ein blutiges Stück Fleisch darauf gelegen. Wieder fiel mir dieser eigenartige, widerliche Geruch auf. Die Kapelle schien ansonsten leer zu sein. Es war ganz schön dumm von mir, daß ich hergekommen war. Mir blieb nichts übrig, als wieder zu gehen. Aber da war noch irgend etwas.

Ich drehte mich um und richtete den Strahl meiner Lampe ins Dunkel. Da sah ich ein großes Holzkreuz. Es stand verkehrt herum. Daran war, mit dem Kopf nach unten, eine bleiche Gestalt genagelt. Es war eine nackte weibliche Person. Ihre Seite war aufgeschlitzt. Unter ihr stand ein metallenes Becken, das mit etwas Dunklem gefüllt war. Ich leuchtete in ihr Gesicht. Streifen von geronnenem Blut zogen sich darüber hin. Die Augen waren starr und weit aufgerissen, der Mund geöffnet und wie im Schrei erstarrt. Es war Lucie.

Ich schrie und preßte im gleichen Augenblick die Hand auf den Mund, um den Schrei zu ersticken. Übelkeit würgte mich, mir war als wollte sich mein Inneres nach außen kehren. Ich drehte mich um und rannte los, ich wollte nur weg von hier. Ich fragte mich ernsthaft, ob ich schon den Verstand verloren hatte. Ich stieß gegen den Altartisch. Der Kelch fiel polternd auf den Boden. Als ich in den Gang zur Sakristei stürzte, fiel ich eine Treppenstufe hinunter und schlug schmerzhaft mit dem Knie und dem Ellenbogen auf. Die Taschenlampe ließ ich fallen. Ich raffte mich wieder auf und rannte weiter. Ich weiß nicht wie ich es schaffte, aber schließlich war ich draußen und rannte so schnell ich konnte. Ich lief zum Parkplatz. Ich mußte hier weg, so schnell und so weit wie möglich.

Irgendwie gelang es mir, mit fliegenden und zitternden Händen, meinen VW-Käfer aufzuschließen und zu starten. Es war völlig dunkel und ich mußte die Scheinwerfer einschalten. Ich fuhr auf die schmale Allee, die zur Fernverkehrsstraße führte. Links und rechts standen alte, große Bäume, die ihre Äste ausstreckten. Es war, als beobachteten sie mich und tuschelten miteinander.

Schließlich kam ich auf die Straße, die hinab führte, in die sichere Welt der anderen, normalen Menschen. Ich fuhr, so schnell ich konnte. Die Straße war kurvenreich und feucht. Es hatte am Abend leicht geregnet. Plötzlich tauchten in einer Kurve zwei grelle Scheinwerfer vor mir auf und blendeten mich. Sie kamen direkt auf mich zu. Ich schrie.
O mein Gott! Warum hast du mich verlassen.


Der LKW-Fahrer konnte nicht mehr ausweichen, als ich auf ihn zu raste. Er trat auf die Bremsen und dann krachte es furchtbar. Ich war in meinem Käfer eingequetscht und bewußtlos. Der LKW-Fahrer rief über Funk Hilfe herbei. Ich wurde in ein Krankenhaus gebracht und sofort operiert. Ich habe es überlebt. Jetzt geht es mir wieder verhältnismäßig gut. Aber ich kann nicht sprechen. Durch das Schädeltrauma ist offenbar mein Sprachzentrum beschädigt worden. Ich bin in einer exklusiven Rehabilitationsklinik. Die Behandlung ist für mich kostenlos. Der Professor, der die Klinik leitet, hat früher in Bergengrün studiert und ist ein Freund von Professor Moriander.

Das Netzwerk von Bergengrün funktioniert und ich bin ein Teil von ihm. Ich wehre mich nicht mehr dagegen. Es ist größer und stärker als ich. So habe ich wenigstens meinen Seelenfrieden gefunden. Mehr kann und will ich nicht haben. Würde ich mich auflehnen, würde es mich zerstören. Ich selber würde mich zerstören, denn ich könnte das alles nicht ertragen.

Ich werde voll Demut den Platz einnehmen, den man mir zuweist. Wie Lucie.
 
Starke Story

Hallo Stefan,

die Story ist wirklich originell. Was mir etwas seltsam erscheint ist die Umgangssprache zu Beginn die dann in den Erzählstil wechselt, denn damit habe ich mir schwergetan ?!?

Ansonsten echt gelungen

Peter
 



 
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