Berliner Ecken

4,50 Stern(e) 4 Bewertungen
BERLINER ECKEN

„Kornecken 49 Cent“ – es lebe der Wohlstand! Eine Mark für ein Brötchen. Hat früher, ganz früher, in einem anderen Leben, fünf Pfennige gekostet. Ich kann dem Bettler auf der Straße kein Wechselgeld in seine Bockwurstpappe werfen, denn ich habe nichts gekauft. Schon gar nicht eine Kornecke für einen halben Euro. (Wie ist eigentlich das Kürzel für Cent? Kenne ich nicht. Kennt wahrscheinlich niemand. Wer gibt sich schon mit Kleingeld ab!) Der Bettler, zum Beispiel, dem ich jetzt in die Hocke gehend zuflüstere: „Du sitzt an der falschen Ecke, mein Freund. Hier wird dir niemand was geben, weil die da drinnen schon alles abzocken.“ Er nickt und lächelt und streichelt seinen dreibeinigen Hund.
Was ist das für eine Stadt? Man kann leben, man kann sterben. Langsam sterben geht schneller. Und überall diese Nostalgie. In Ost und West. Bahnhof Friedrichstraße von links und von rechts. Fotos in schwarz-weiß. Früher war alles besser, auch ohne Farbe. Neue Ideen sind willkommen, solange sie Theorien bleiben. Praxis ist anstrengend. Solange du schüchtern, unbedarft und unauffällig durch die Welt schlurfst, bist du willkommen, belächelt, geduldet. Sage nie: da bin ich! Zeige nie: ich kann was! Verlange nie - um Gottes Willen -: ich will was von dir, Welt!
Verloren!!

Ich, heulend, wütend, schimpfend, stapfe vor mich hin. Auf der Straße. Leise. Frierend. Und dann halte ich es nicht mehr aus. Schwenke nach rechts, alles egal, bin jeden Tag hier vorbei gelaufen, ohne je Verlangen gehabt zu haben einzukehren, nie gedacht, dass ich es je verspüren könnte, keinen Gedanken daran verschwendet - und biege ab. Alles egal. Hauptsache warm. Kleineres Übel, kürzester Weg.
Ich betrete also eine Kneipe, gesenkten Blickes, ohne jede Anmutung, ohne Geziertheit, Frausein ganz hinten. Ich bin sauer, empört, fassungslos ob der 49 Cent. Ob der Kälte. Hass auf alles und jeden. Ich öffne die erste Tür, weg von der Straße; die zweite, rein in die gute Stube. Wenigstens warm ist es hier. Eine exotische Oase im Berliner Winter. Ein verwunschenes Hexenhäuschen im sibirisch anmutenden Traumzauberwald. Kennen Sie die Märchen von Wasja und jeder Menge verzauberter Marien? Nein? Stellen Sie sich vor: überall Schnee, knirschend und persilweiß, Tannen, so ebenmäßig weiß gefroren, wie sie nur in russischen Märchenwäldern vorkommen. Spitzen bis in den perlmutfarbenen Himmel hinein. Und eine Stille ist’s, das es in den Ohren klingelt. Und plötzlich springt ein munteres Zicklein durch den Wald und meckert in Mark und Bein erschütternden Silben: Wa-a-a-s-s-s-ja-a-a! Spätestens an dieser Stelle befällt Sie eine knisternde Gänsehaut. Sie denken, diese Kälte hört niemals auf. Sie denken, dass überlebt man nicht.

Der Mensch hat von Natur aus einen Rechtsdrall. Die Deutschen besonders. Hauptsache warm. Kürzester Weg, ich gehe nach rechts. Erst viel später bemerke ich: links der Tür ist es viel gemütlicher. Rechts sitze ich an einem wackeligen Vierertisch, praktisch, stramm, züchtig. Assoziiere: Fußvolk. Links der Tür steht eine gepolsterte Sitzbank, mit gemütlichen Kissen ausgelegt. Da passen wenigstens sechs muntere Trinker hin. An meinem Holztisch bleibe ich allein. Für den Rest des Abends. Ich glaube nicht wirklich, dass der Wirt bewusst diese Möblierungsanordnung gewählt hat. Es ist etwas intuitives. Aber warum? Warum will man uns weiß machen, dass rechts immer schäbiger als links ist? Ich halte diese irreführenden Parolen nicht mehr aus. Warum ist diese Stadt so zwittrig? Unselbständig? So wenig selbstbewusst, dass sie es nötig hat, mit jedem billigen Trick zu arbeiten.



Warum läuft über mir der Fernseher mit sportlichen Hinguckern, dass alle männlichen Gäste zwangsläufig in meine Richtung glotzen? Erst jetzt bemerke ich, dass ich überhaupt die einzige Frau hier bin. Aber niemand behelligt mich. Der Wirt winkt jeden zurück, der auch nur eine Zehe in meine Richtung dreht.


Die Bedienung frage ich nach Rotwein. Sie ist den ersten Tag hier, sagt sie, und sie müsse mal fragen. Ich schreibe mit klammen Fingern und taue langsam auf, denke nicht mehr ans trinken. Dann ist sie wieder da, vierunddreißig Jahre, im Ledermini, und stellt mir ein Glas hin. Später erzählt sie mir, sie ist neununddreißig Jahre alt, kam vor zwei Monaten zwecks Kindheitstraumerfüllung aus Kiel angereist, studiert nun Theaterwissenschaften. Die Kneipe ernährt sie derweil. Sie stützt sich mit beiden Armen auf meinen Wackeltisch und streckt das Gesäß in Richtung Männertheke. „Und Sie schreiben?“ Ich nicke. „Journalistin.“ Was weiß sie schon. Oder vielleicht doch ? Ihr Lächeln ist milde.
Beinahe vierzig Jahre alt, das Gesicht verlebt (glaube nicht, dass es je ein schönes Gesicht war), schwammig, ausgeleiert, lange, unmögliche Haare, Ringelpulli, Lederrock, schwarze Strümpfe. Meine Gute, das ganze Leben ist ein einziges Theater. Und eine Wissenschaft für sich, wie wahr! Sie hüpft davon, und ihre vierzigjährigen Hüften erinnern mich an das Märchen „Der dicke Brei“ (oder so ähnlich).
Ich schaue aus dem Fenster. Es reicht bis zum Fußboden. Es ist geputzt. Ich sehe die Leute vorüber hasten, die roten Nasen wahlweise in den Wind haltend oder in ihre dicken Schals gesenkt. Hände in den Taschen, in Handschuhen, in Jackenärmeln, nackt, beharrt, rot, braun, schwarz. Mein Handy klingelt. SMS: „Bin auf Mallorca. Komisches Leben hier. Auf keinen Verlass. Zucht und Ordnung fehlen. Aber Sonne scheint. P.“ Ich schreibe zurück: „Bin auch auf ner Insel. Ebenfalls komisches Leben hier. Sonne scheint nicht. Kalt. Kennst du die Abkürzung für Cent? K.“ Antwort: „Was soll das sein?“
 
A

Arno1808

Gast
Liebe Katrin,

ich muss gestehen, nach dem ersten Lesen deiner Geschichte fragte ich mich - ja, was fragte ich mich eigentlich? Es war gar keine wirkliche Frage, sondern eher eine Feststellung: Du musst es nochmal lesen!
Nach dem zweiten Lesen des Textes denke ich:
Sehr schön!
Die kurzen, prägnanten Feststellungen, die gedanklichen Sprünge - nicht für ein oberflächliches 'mal-eben-drüberlesen' gedacht, aber auch nichts Zufälliges.
Liebe Katrin, es hat sehr viel spaß gemacht, deinen Text zwei Mal zu lesen.

Lieben Gruß

Arno
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ja,

auch mich hat deine geschichte sehr bewegt. besonders die stelle mit dr geldumrechnung. ich war gestern bei "Holiday on Eis" und da kostet ein programmheft 5 euro, also 40 ddr-mark. das muss man sich mal auf der zunge zergehen lassen: 40 Mark! ich fürchte, meine insel ist von der deinen nicht weit weg . . .
ganz lieb grüßt
 



 
Oben Unten