Berliner Notizen

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Ab und zu stößt der Flaneur von heute auf paradoxe Nachbarschaften - Tür an Tür Gewerbezweige, die kaum zu harmonieren scheinen. Oder doch? Da gibt es im Norden der Stadt ein Café Tortenträume, angesiedelt im Hause eines Gesundheitszentrums. Ach ja … Und in der Yorckstraße geht das Ur-Berliner Bestattungsunternehmen Grieneisen seinen Geschäften wie eh und je nach und hat zum Nachbarn, Wand an Wand, ausgerechnet eine Tabledance Bar. Manchmal entfaltet auch nur der Kontrast zwischen Firmen- und Straßennamen seine bizarre Komik. Unterwegs auf der Allee der Kosmonauten konnte so längere Zeit auf einer Plattenbauschmalseite die Riesenplakatwand von Dildoking bestaunt werden – konnte, denn das ging der Marzahn-Hellersdorfer Obrigkeit nun doch einen Fauxpas zu weit: Kosmonauten und Dildos!

Die East Side Gallery erzählt mit ihren Bildern Geschichten. Da hat 1990 der Hiddenseer Maler Willi Berger (* 1922) ein Werk von Johannes Meissel (1888 – 1969) kopiert: Soli Deo Gloria, eine abstrakt-expressionistische Umsetzung von Bachs Die Kunst der Fuge. Berger weist mit einem kleinen Text neben der Kopie auf Meissels Schicksal hin, das Ausstellungsverbot im Dritten Reich wie später das in der DDR. Und er setzt als Appell darunter: Nie wieder Zensur in der Kunst. 2009 gehört Berger zu den Künstlern, die ihr untergegangenes Werk noch einmal auf die Mauersegmente malen. Bergers Kopie von Meissels Hommage an Bach hob sich erneut vom weißen Grund ab – hob sich ab, denn schon jetzt - 2011 - geht sie wieder unter im massenhaften Krickelkrakel. Wer zählt die Tags, die von umfassender Unbegabung Zeugnis ablegen? Wer liest all die Botschaften à la Raffaela from Sao Paulo was here? Jedenfalls nicht die Touris, die gerade einem italienischen Reisebus entsteigen, nur ein Fotostopp mit dem Rücken zur Bilderwand und dann geht’s weiter. Ein Gedanke in mir: Sieht so Zensur heute aus: das Kunstwerk marginalisiert und entstellt in der Materialschlacht der Sprühdosen, Edding-Stifte und Blitzlichter, nicht weniger ätzend als Säure?

Berge besteigen auf Berliner Territorium? Da bieten sich die Trümmerberge an, allen voran der Teufelsberg im Grunewald. Man kann vom Bahnhof Heerstraße der Teufelsseechaussee folgen, die am Fuß des Berges entlangführt. Nun, so gewaltig ist er nicht, man ahnt ihn mehr als dass man ihn im Walddickicht tatsächlich wahrnimmt. Endlich scheint rechts ein Weg aufwärts abzuzweigen, der Fußgänger folgt ihm und sieht sich, oben angekommen, um die erwartete Aussicht betrogen: von hier aus kaum ein Blick auf die Stadt möglich. Und das Innere der Kuppe ist hermetisch abgezäunt, da stehen noch immer die Ruinen der US-Radarstation. Man kann im Kreis um sie herumgehen, und auf einmal öffnet sich eine Sichtachse nach Norden: dort drüben also die baumfreie Hochfläche mit dem Rundblick und auf ihr winzige Menschenfiguren. Falsch aufgestiegen … Und dann dringen Geräusche durch den Wald, ein Knallen und Knattern, ein Seufzen, Klagen und Heulen, dann wieder ein Schlagen und Klopfen, geisterhaft unheimlich. Es kommt aus dem umzäunten Areal, da ragen hoch über den Baumkronen die Betontürme mit den Kuppeln, und die sie umhüllenden Plastikplanen sind vielfach zerrissen. Unaufhörlich führt der Wind sein Zerstörungswerk fort. Es klingt wie atonale Musik und kann einem wie die Vertonung jenes Geschichtsprozesses vorkommen, dessen Zeuge man gewesen ist. Eine Gelegenheit, wieder einmal Brecht leicht variierend zu zitieren: Von diesen Stätten wird bleiben, der durch sie hindurchging: der Wind …

Ein Gang durch den Plänterwald an einem feuchtkühlen Augusttag. Es riecht nach Laubwald und nach Spreewasser zugleich. Man wandert wie zwischen dichten, grünen, lang herabwallenden Vorhängen. Sie öffnen sich, schließen sich, öffnen sich. Vor kurzem ein Schauer, bei bedecktem Himmel jetzt nur wenige Menschen unterwegs. So nah an der Stadt, so still. Nun kommt der Zaun um den stillgelegten Vergnügungspark. Was da nicht abmontiert wurde, rostet, zerfällt schon ein Jahrzehnt lang. Und dann etwas absonderlich Wundersames: Das alte Riesenrad drinnen fängt auf einmal an sich zu drehen. Es funktioniert noch immer in der gewöhnlichen Weise. Gondeln steigen auf, erreichen den Scheitelpunkt, gleiten hinab in den Baumschatten. Nur dass sie alle leer sind. Kein Mensch zu erblicken, auch nicht am Boden. Ist es ein Probelauf oder ein Mirakel? Das würde ich gern glauben: dass die Abgeschiedenen Besitz ergreifen von unseren Ruinen und sich in ihnen einrichten.
 
K

KaGeb

Gast
Hallo Arno,

wirklich ausgezeichnet beobachtend beschrieben, aber m.M.n. keine Kurzprosa. Kurzgeschichte ist es wohl auch nicht, eher Bestandsaufnahme - Beobachtung - traurige Bestandsaufnahme des Autoren - wie auch immer: jedenfalls einfach klasse!!!

LG Karsten
 
K

KaGeb

Gast
Ojeh - 2 x "Bestandsaufnahme" in einem Satz - und das am frühen Morgen. Wo sind meine Pillen ... :)
 
Danke, Karsten ...

... für die positive Aufnahme. Richtig, Kurzprosa im strengen Sinn ist der Text nicht. Er wurde dieser Rubrik zugeordnet, da alle anderen noch weniger in Frage kamen. Es sollte hier etwas wie "Reiseliteratur" geben. In diesem Fall könnte dann freilich der Einwand kommen, in der eigenen Stadt - ich bin neuerdings auch in Berlin ansässig - könne man ja keine "Reisen" unternehmen ...

Das macht mich ein bisschen verdrießlich: dass bei zwei Dritteln meiner LL-Texte moniert wird, der Text sei nicht ganz misslungen, passe aber nicht in die Abteilung, in der er veröffentlicht wurde. Liegt's an mir oder am LL-Schema?

Einen schönen Mittwoch
Arno Abendschön
 



 
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