Besetzt!

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„Guten Morgen!“
„Guten Morgen!“
„Könnte ich bitte mal den Toilettenschlüssel haben?“
„Ja klar.“ Ich reichte den Schlüssel über den Tresen. Als Anhänger fungierte ein großer Rinderbeinknochen, damit kein Autofahrer auf die Idee kam, den Schlüssel versehentlich einzustecken.
Auf der anderen Seite des Tresens stand ein Mann, der offenbar keine eigene Toilette zu hatte. Er entsprach komplett dem Bild, das ich schon seit meiner Kindheit unter der Überschrift „Penner“ im Kopf abgespeichert hatte. Der lange, dunkelgraue und etwas muffige Mantel. Eine dick gefütterte sogenannte „Russenmütze“, deren Ohrklappen allerdings gerade nach oben zeigten. Handschuhe mit abgeschnittenen Fingern, darunter lugten schmutzige Fingerkuppen mit schmutzigen Nägeln hervor. Eine schmutzige Hose, deren Säume in große, vielleicht sogar zu große Halbstiefel gestopft waren. Ein ungepflegter Bart, unter dem die eigentlich weiße Haut nicht so richtig hervorschimmern wollte. Und dann natürlich die vielen Tüten. Schon als Kind war ich immer neugierig, was sich wohl so in den Tüten der Penner befindet. Ein Haufen Tüten gehörten für mich einfach zu einem Penner dazu. Später erklärte mir dann einer von ihnen, dass das die Schränke der Obdachlosen sind. Dort sei alles drin, was aufbewahrt werden muss.
In den Tüten meines morgendlichen Kunden klimperte es etwas und sofort erschien vor meinem inneren Auge eine 2-Liter-Flasche Lambrusco. Gehörte eben dazu, also war es auch so.
Er nahm den Schlüssel, drehte sich um und ging aus der Eingangstür über den Hof auf die Rückseite des Gebäudes. „Hoffentlich bleibt das da sauber!“, dachte ich noch.
Dann wendete ich mich wieder meiner morgendlichen Lektüre zu.

Morgens um halb sechs, und dazu auch noch an einem Sonntag, lese ich eigentlich nicht freiwillig „Wild & Hund“. Oder „Yacht“, oder „Meine schönste Liebesgeschichte“.
Doch wenn ich die Freitagsnachtschicht auf der Tankstelle schon hinter mir habe und die Samstagsnachtschicht fast um ist, bleibt nicht mehr viel aus dem Zeitungsständer übrig. Dann liest man alles. Fast. Das Heft mit den Bekanntschaftsanzeigen rühre ich nicht an, das lasse ich mir nicht ankommen. Dann lasse ich mich lieber mit einem Liebesroman erwischen.

Als ich genug hatte, sortierte ich die Zeitschriften wieder ein, wischte den Tresen sauber und füllte die Regale auf. Das musste ich zwischendurch immer wieder machen, denn unsere Tankstelle glich am Wochenende einem 24-Stunden-Kiosk. Von den obligatorischen Getränke- und Zigarettenkäufern abgesehen konnten wir auch alle die versorgen, denen sich unerwarteter Besuch angesagt hatte, die etwas beim Einkaufen vergessen hatten, die unerwartet eingeladen wurden oder zuhause rausgeflogen waren. Ach ja, ab und zu betankte auch mal jemand sein Auto.

Ich hatte mir fest vorgenommen, während meiner Schichten, wenn mal wenig zu tun war, für mein Studium zu lernen. Das bot sich doch geradezu an. Wenn der Laden in Ordnung war, und kein Kunde in Sicht, konnte ich mir doch locker das Eisen-Kohlenstoff-Diagramm reinziehen. Dann hätte ich die Zeit doppelt genutzt. Der gute Wille hielt auch lange vor, zu jeder Schicht schleppte ich meinen Werkstoffkundeordner mit. Doch irgendwann wurde der Geist schwach. Richtig konzentrieren konnte ich mich eh nicht, da ja nun mal auch Kundenverkehr herrschte. Und dann fordert so eine durchwachte Nacht für Ungeübte auch seinen Tribut. Irgendwie hatte ich so überhaupt keinen Bock auf Konzentrieren. Also ließ ich es bleiben und wandte mich der seichteren Unterhaltung zu. Für das ruhige Gewissen nahm ich jedoch weiterhin schön meinen Ordner mit und legte ihn neben die Kasse.

Nachdem ich die Wasserkannen und –eimer auf dem Hof neu befüllt und die Mülleimer geleert hatte, sah ich auf die Uhr. Viertel nach sechs. Klasse, noch eineinhalb Stunden, dann würde meine Ablösung eintreffen.
Doch dann durchzuckte es mich! Mensch, der Penner! Der war immer noch auf dem Klo. Oder vielleicht nicht? Hatte er vielleicht den Schlüssel unbemerkt auf den Tresen gelegt, als ich hier draußen war? Dann hätte ich ihn aber sehen müssen. Nein, nicht unbedingt. Hoffte ich. Ich hoffte, dass der Schlüssel da war und der Penner weg. Weil das Alles schon viel zu lange dauerte. So lange brauchte man nicht auf der Toilette. Nicht, wenn alles in Ordnung war.
Was sollte denn nicht in Ordnung sein? Ich erinnerte mich an verschiedene Hinterlassenschaften, die wir auf unserer Toilette schon vorgefunden hatten. Vergebliche Zielversuche der Benutzer und mutwillige Beschädigungen kamen öfter vor. Und wer musste alles saubermachen und in Ordnung bringen, bevor das normale Tagesgeschäft losging? Die Nachtschicht. Nicht schön.
Irgendjemand hat vor ein paar Monaten sogar die Klobrille abgebaut und mitgenommen. Unglaublich, jetzt hat der zuhause ein von Reinigungsmitteln angefressenes, schwarzes Plastikteil in seinem Bad, wo schon zigtausende draufgesessen haben.
Doch das Schlimmste habe tatsächlich ich an einem Wochenende im Winter entdecken müssen
.
Er muss zusammen mit einer Gruppe Jugendlicher auf die Tankstelle gekommen sein. Sie waren zu siebt oder zu acht. Alle waren betrunken, aber gut betrunken. Gut drauf, sehr nett, und alle hatten einen Mordshunger. Sie kauften Gläser mit Würstchen, Sandwichs und Schokoriegel. Sie blieben eine Weile auf dem Hof stehen und schlugen sich den Bauch voll. In dieser Zeit habe ich bestimmt auch den Toilettenschlüssel herausgegeben. Ich weiß allerdings nicht mehr, an wen. Nebenbei hatte ich noch viele weitere Kunden.
Gegen Morgen bereitete ich wie immer den Hof für den neuen Tag vor. Wasser auffüllen, Mülleimer leeren. Und in der Toilette nachsehen, ob alles in Ordnung ist.

Er lag in einer Pfütze aus Wasser und Erbrochenem. Seine weiße Jacke war total verschmiert, die Hose hing sozusagen auf halb acht. Die Augen geschlossen, den Mund weit offen lag er halb auf dem Rücken und sein Atem rasselte laut. Dieses Bild habe ich heute noch vor Augen.
Ohne ihn anzusprechen rannte ich zurück in den Shop und rief einen Krankenwagen. Ich traute mich fast nicht, zu dem Jungen zurückzugehen. Ich wusste nicht, ob er dann noch lebte. Aber ich musste ja was tun bis die Sanitäter kamen. Mir schlug das Herz bis zum Hals und ich drohte, hektisch zu werden. Schließlich zog ich mir ein paar Arbeitshandschuhe an, ging zurück zur Toilette und kniete mich neben ihn. Er war sehr bleich. Ich fasste ihn am Kopf an. Keine Reaktion. Ich zupfte einen Haufen Papier aus dem Spender und wischte ihm durch das Gesicht. Ich war ziemlich hilflos.

Es hieß später, er hätte eine üble Alkoholvergiftung gehabt. 3,3 Promille.
Wieso ist er mir nicht aufgefallen? Der hätte doch außerordentlich dicht sein müssen!
Er wurde wieder gesund.


Aber was ist mit dem Penner? Besäuft er sich dort oder schläft er nur? Was, wenn er noch schlimmere Dinge tut? Was, wenn er ein Problem hat?
Obwohl ich mich eigentlich nicht traute und mir das Herz bis zum Hals schlug, schlich ich um das Gebäude herum und näherte mich der Toilettentür. Sie war geschlossen. Nach ein paar weiteren Schritten hörte ich plötzlich etwas. Tütengeknister. Raus aus der Tüte, rein in die Tüte. Papierrascheln.
Ich war erleichtert. Da war noch Leben drin. Aber was zum Teufel macht der da? Hörte sich an, als wenn er sich häuslich einrichten will. Das fehlte noch! Ich beschloss, dort nicht anzuklopfen. Irgendwie hatte ich Muffe.
Allerdings nahm ich mir vor, da mal jemanden hineingucken zu lassen.
Sonntags morgens, so gegen sieben, kommt nach ihrer Nachtschicht noch oft eine Polizeistreife auf den Hof. Die beiden Polizisten zogen sich meistens einen Kaffe und rauchten an einem unserer Stehtische eine Zigarette. Die würde ich bitten, sich die Sache mal anzusehen. Ich hoffte nur, dass bis dahin kein anderer Kunde auf unsere Toilette wollte.
Kurz nach halb sieben fuhr tatsächlich ein Streifenwagen auf den Hof. Die beiden Polizisten stiegen aus und steuerten den Kaffeeautomaten an.
„Entschuldigung, darf ich Sie um etwas bitten?“ Bevor sie das Geld einwerfen konnten sprach ich sie an. Ich schilderte die Situation und sagte auch, dass mir der Penner nicht ganz geheuer war. Dass ich Angst hätte, er würde dort jetzt hackedicht auf dem Boden liegen und alles, was man ausscheiden kann, daneben.

Da ich nun keinen Schlüssel mehr hatte überlegten die Beamten, wie sie die Tür aufbekommen wenn von innen nicht geöffnet würde. Auftreten, das sei das Einfachste. Wenn jetzt wirklich Gefahr in Verzug sei, müsse es auch schnell gehen. Sie sollten vielleicht auch einen Krankenwagen anfordern.
Einer der Polizisten ging zum Wagen um die Zentrale anzurufen. Langsam wurde es echt aufregend und mir ganz schön mulmig. Ich bekam richtig Angst, dass etwas Schlimmes passiert sei.
Kunden, die währenddessen zur Tankstelle kamen, guckten irritiert. Ob hier etwas los sei? Nein, nein, es sei nur Schichtwechsel und die Beamten gönnten sich einen Kaffee. Ach so.
Als ein zweiter Streifenwagen eintraf, gingen die ersten beiden Polizisten hinaus und erklärten den Kollegen den Sachverhalt. Ich starrte aufgeregt hinaus, als die Ladentür aufging.
„Tschuldigung, hat was länger gedauert. Was bekommse?“ Der Penner! Und wie er aussah!
Er hatte seine Mütze nicht auf und war gekämmt, ganz glatt und ordentlich, das Haar noch feucht. Der Bart war weg, das Gesicht wirkte frisch und wie eingecremt. Die Finger waren geschrubbt und die Nägel sauber. So wie wahrscheinlich auch der Rest seines Körpers, denn er verbreitete einen gar lieblichen Duft, nach irgendeiner Blümchenseife und Zahnpasta.
Ich war wie vom Donner gerührt und bekam nur ein „Nix“ raus. Ich glaube, mir stand sogar der Mund offen.
Er bedankte sich, sammelte seine Sachen zusammen und warf nebenbei einen Blick auf meinen Ordner.
„Ah, Werkstoffkunde. Dieses Eisen-Kohlenstoff-Diagramm kann einen wahnsinnig machen, nech?“
 

Ralf Langer

Mitglied
hallo lattenknaller,
eine durchaus gelungene geschichte,
in der du es schaffst den spannungsbogen aufrecht zu erhalten.
und das obschon recht wenig passiert.
in diesem sinne eine alltagsgeschichte
die von der eingangssituation ihre spannung zieht.
ein paar dinge:
die geschichte in der geschichte hats m.e. nicht noetig. sie bringt keine neuen erkenntnisse und ich wuerde darueber nachdenken sie wegzulassen.
der plot koennte etwas mehr wuerze gebrauchen.
irgendetwas was die sicht des prot
dauerhaft veraendert.
habe aber im moment keine konkrete idee.
gerne gelesen
ralf
 
Hallo Ralf,

danke für Deine Anmerkungen.

Durch die Geschichte in der Geschichte hatte ich gehofft ausdrücken zu können, wie groß das Unbehagen, ja vielleicht sogar die Angst der Kassiererin war.
Über die Würze muss auch ich erst einmal etwas grübeln :)

Schönen Tag noch,

Lattenknaller
 

Ralf Langer

Mitglied
hallo lattenknaller,

vielleicht könne man den "penner" und die aushilfe in bezug setzen.
der penner könnte ein student sein der vielleicht soziologie studiert und eine spezielle milieustudie betreibt.

obwohl das schon sehr konstruiert wäre

lg
ralf
 

HelenaSofie

Mitglied
Hallo lattenknaller,

ich habe deinen Text mit Interesse gelesen. Die Geschichte in der Geschichte würde ich auch weglassen. Sie lenkt etwas ab. Der Schluss gefällt mir so wie er ist gut. Ich kann mir überlegen oder ausdenken, was der Mann in seinem anderen Leben macht oder gemacht hat.

Liebe Grüße
HelenaSofie
 



 
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