Besiegt (wieder überarbeitet)
Ich stehe vor dieser Wand und weiß nicht, wie ich hinauf kommen soll. In den Büchern wurde der Via ferrata delle Trincee als schwieriger Klettersteig beschrieben. Obwohl ich schon einige Klettersteige in den Dolomiten absolviert hatte, sehe ich hier keine Chance. Die senkrechte, trittarme Wand, bestehend aus Lavagestein, welches eher untypisch für diese Gegend ist, zeigt mir meine Grenzen auf.
Den steilen Weg bis zum Einstieg für diesen Klettersteig habe ich noch gut gemeistert. Es waren nicht viele Höhenmeter zu bewältigen. Mein Freund hatte mich zeitig geweckt, um früh am Klettersteig zu sein. Mit vielen anderen Wanderern sind wir hinauf zum Einstieg gelaufen.
Während sich alle umziehen und die Klettersteigausrüstung anlegen, stehe ich wie erstarrt vor der Wand.
Furchteinflößend ragt der glatte Fels senkrecht vor mir auf. Schwarz wie die Nacht im Schatten der aufgehenden Sonne.
Meine spontane Reaktion bei diesem Anblick: Nein, das mach ich nicht! Das Herz schlägt mir plötzlich bis zum Hals und peitscht mein Blut durch die Adern. Ein dumpfer Druck legt sich auf meinen Kopf und bereitet mir Schmerzen. Ich schwitze aus allen Poren trotz der morgendlichen Kühle. Meine Haare kleben bereits nass an meinem Kopf und da habe ich noch nicht einmal den Helm aufgesetzt.
Sirko, mein Freund, beginnt bereits damit, die Ausrüstung aus dem Rucksack zu holen. Er hat offensichtlich keine Probleme mit dem Trincee Klettersteig. Er schaut kurz hoch und sieht mich mit weit aufgerissenen Augen stehen.
„Was ist los?“, will er wissen.
„Ich glaube, ich schaff das nicht!“, antworte ich ihm leise.
Er schaut mich weiter an, blickt dann zum Klettersteig. „Komm, versuch es wenigstens.“
Mein Herz schlägt immer noch in einem hektischen Takt. Ich beobachte, wie sich die anderen Wanderer umziehen und die ersten zum Drahtseil gehen. Es ist ein junges Pärchen, das sich mit den Karabinern zur Sicherung in das Drahtseil einklinkt. Die Frau geht vor mit schnellen und sicheren Schritten.
Vielleicht ist der Klettersteig gar nicht so schwierig, keimt ein wenig Hoffnung in mir auf.
Ich versuche ruhig durchzuatmen und meinen Puls zu normalisieren. Alles halb so schlimm, rede ich mir ein.
Die Finger der Kletterin finden auf der glatten Wand nicht immer den nötigen Halt. Suchend fährt sie mit der Hand über das Lavagestein, bis sie eine griffige Stelle gefunden hat. Ihre Augen suchen nun eine günstige Stelle für ihren Fuß. Ein kleiner Vorsprung bietet genügend Platz. Sie holt etwas Schwung, zieht sich mit dem linken Arm vor und legt ihren Fuß auf dem Vorsprung ab. Der rechte Fuß baumelt ziellos vor der Wand. Mit der freien Hand holt sie ihre Karabiner nach und hängt sie einen nach dem anderen um. Mit einem Karabiner ist sie immer am Drahtseil gesichert, sofern dieses in der Verankerung ist.
Routiniert geht sie Schritt für Schritt weiter bis sie zu einer besonders schwierigen Stelle kommt. Sie hält kurz inne um eine Lösung zu finden. Der nächste kleine Vorsprung ist nicht weit entfernt, doch ist genau darüber ein Bolzen in den Felsen eingebracht. Das kann Probleme geben. Als sie den nächsten Schritt macht, bewahrheitet sich meine Befürchtung. Der Bolzen ist so ungünstig angebracht, dass ihr Knie keinen Platz findet. So kann sie sich nicht aufrichten und muss diesen Schritt wieder rückgängig machen. Mit ihren Augen sucht sie die Wand nach weiteren Möglichkeiten ab.
Der Bolzen liegt sehr weit oben, doch sieht die Frau keinen anderen Weg. Sie beugt sich sehr weit vor und hängt die Karabiner mit ausgestrecktem Arm bereits um. So können diese sie nicht hindern und sie muss sie nicht umständlich nachholen.
Mit einem Kreuzschritt hebt sie ihr linkes Bein und positioniert ihren anderen Fuß auf den kleinen Vorsprung. Nun hängt sie mit der linken Körperhälfte in der Luft und beginnt ihr Bein hin und her zu schwingen. Sie beugt sich nach hinten, holt viel Schwung, lässt das Drahtseil los und springt.
Für kurze Zeit ist sie schwerelos und fliegt durch die Luft. In diesem Moment hängt ihr Leben hängt an einem einzigen Seil. Trifft sie ihr Ziel nicht, wird sie abstürzen und muss dann auf die Stabilität ihres Gurtes vertrauen.
Voller Anspannung beobachte ich ihren Flug. Wird sie es schaffen oder stürzt sie ab und fällt in die Seile? Wird der Gurt halten oder wird er reißen, wie es schon einmal bei einem Kletterer passiert ist? Mein Herz scheint stehen zubleiben. Die Sekunden dehnen sich zu einer Ewigkeit.
Mit ihrer Hand bekommt sie das Drahtseil wieder zu fassen, kann ihren Flug stabilisieren. Ihr Fuß trifft den Bolzen, sie zieht sich am Seil hoch und hat wieder sicheren Halt. Mit der freien Hand wischt sie sich den Schweiß von der Stirn und atmet tief durch. Geschafft!
Aber nicht nur sie kann wieder atmen. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich die Luft angehalten hatte. Nun atme ich erleichtert wieder aus und lege die Hand auf mein Herz. Ja, es schlägt noch. Die anderen Wanderer haben das Schauspiel ebenfalls gebannt verfolgt und unterhalten sich jetzt erleichtert über dieses riskante Manöver. Ob ich das so gut meistern kann, wage ich doch sehr zu bezweifeln.
Die Schlüsselstelle ist also geschafft. Hier wird eindeutig die Spreu vom Weizen getrennt.
Als die junge Frau dieses hinter sich gebracht hat, folgt ihr der Mann. Er hat weit mehr Schwierigkeiten mit dem Klettersteig. Bereits am Anfang klettert er nicht so elegant an der Wand entlang wie seine Frau. Sehr langsam kommt er voran und steht schließlich vor der Schlüsselstelle. Zuerst versucht er dem Beispiel der Frau zu folgen. Viele Minuten vergehen, in denen er immer wieder Schwung holt und dann doch den Versuch abbricht. Er setzt seinen Fuß auf den winzigen Vorsprung unterhalb des Bolzens und zieht sich hoch. Wahrscheinlich würde ich diesem Beispiel eher folgen, da es weniger riskant ist.
Wie seine Frau vor ihm kann er sich nicht aufrichten. In gebückter Stellung sucht er mit dem anderen Fuß den nächsten Halt und kann schließlich seiner Fußspitze etwas Stütze bieten. Wäre die Situation nicht so gefährlich, könnte ich mich köstlich über diesen Anblick amüsieren. Im halben Spagat versucht er das Drahtseil zu umschließen. Die Fingerspitzen erreichen es immer wieder, doch er braucht lange, bis er es endlich umfassen kann. Der Bolzen blockiert sein Knie und muss sich bereits schmerzhaft hineinbohren. Ich habe das Gefühl, als ob auch mein Knie schmerzen würde und reibe es unbewusst.
Mit einem Arm will er sich aus der misslichen Lage ziehen, doch wird er daran gehindert. Jetzt zeigt sich, warum seine Frau die Karabiner vorher umgehangen hat. Das Seil ist schließlich nicht meterlang und so hängt es vor der Verankerung fest und zerrt an ihm.
Er muss sich nun tief hinab beugen und verliert beinahe den Halt.
Ein Schreckensschrei entfährt mir und ich halte mir die Hand vor den Mund. Ich hatte ihn bereits stürzen sehen. Zittrig hängt er einen Karabiner nach dem anderen um. Erst jetzt kann er sich mit einem Arm und reiner Muskelkraft hinauf ziehen. Unbeholfen sucht er den nächsten Halt. Mit einem Bein stehend schmiegt er sich eng an die Felswand. Viele Minuten verstreichen, bevor er dem Klettersteig weiter folgt.
Seine Frau ist währenddessen auf einem grasbewachsenen Plateau angelangt und blickt kurz zu ihm herunter. Sehr zittrig kann er zu ihr aufschließen. Doch ist sie bereits weiter unterwegs, er folgt im langsamen Tempo.
Zweifelnd blicke ich Sirko an. Dieser hat aufgehört, seine Ausrüstung anzuziehen. Er merkt, dass ich nicht gewillt bin.
„Setz dich hin, wir beobachten einfach die Leute. Vielleicht gewinnst du dann mehr Mut“, will er mich beruhigen. Noch rechnet er damit, dass ich den Steig begehen werde. Bisher habe ich auch vor nichts zurück geschreckt.
Ein großer Stein, wo unsere Rucksäcke angelehnt sind, bietet uns genügend Platz. Kurz nehme ich den Blick von der Kletterwand und schaue mich um.
Die Aussicht auf die Dolomiten ist überwältigend. Die aufgehende Sonne streichelt sanft die Bergspitzen. Der morgendliche Dunst steigt langsam auf. Doch kann ich dieses Panorama nicht genießen. Die Angst sitzt mir mit ihrer kalten Hand im Nacken. Ich kann mir nicht erklären, woher dieses Gefühl kommt. Ich habe noch nicht einmal den Felsen berührt.
Sirko redet ruhig auf mich ein. Doch seine Worte finden kein Gehör bei mir.
Mein Blick wird immer wieder zum Klettersteig gelenkt, obwohl ich eigentlich das Panorama der Dolomiten genießen möchte um so wieder zur Ruhe zu kommen. Bisher ist nichts passiert am Klettersteig, keiner ist abgestürzt.
Angespannt beobachte ich ein weiteres Paar, das geduldig auf seine Chance wartet. Oberstes Gebot bei Klettersteige ist immer, genügend Abstand zum Vordermann zu lassen. Denn wenn dieser stürzt reißt er bei zu geringen Zwischenraum den Nachfolger mit.
Dieses Mal steigt der Mann zuerst auf. Er kämpft sich bis zur Schlüsselstelle vor. Offensichtlich hat er sich das Pärchen vor ihm genau angeschaut. Er geht die Schlüsselstelle genauso wie die Frau an und springt kurzerhand auf den Bolzen.
Für ihn scheint es weniger Probleme zu geben. Sehr gut für meine Nerven, mein Herzschlag beruhigt sich ein wenig.
Etwas wackelig bleibt er auf dem Bolzen stehen und ruft seiner Partnerin etwas zu. Ich stehe zu weit weg, um es verstehen zu können. Die Frau folgt ihm nach einigem Zögern. Sie hat bereits mit den ersten Schritten ihre Probleme. Die kleinen Felsvorsprünge, gerade so groß dass die Fußspitze des Schuhs Platz hat, bieten ihr nicht genug Raum. Fahrig versucht sie, die Karabiner umzuhängen. Aber die Verschlüsse wollen in ihren zittrigen Händen nicht recht aufgehen.
„Bleib ruhig, Mädchen“, flüstere ich leise und schreibe in Gedanken auch mir diese Anweisung zu.
Sie steht seit einer Minute auf derselben ungünstigen Stelle, die sehr kraftraubend ist. Sie hätte sich vorher umhängen sollen, ein Fehler, den viele Klettersteiggeher machen. So kostet es sie viel Kraft und Nerven, die Karabiner vor die Verankerung zu bringen. Ich frage mich, wie sie die schwierige Schlüsselstelle schaffen will.
Als sie nach mehreren Versuchen einen Halt am glatten Gestein findet, will sie sich ungelenk hinauf ziehen, aber ihr Fuß rutscht ab. Durch die Wucht des Sturzes kann sie das Drahtseil nicht mehr halten und fällt in die Seile. Sie schlägt gegen den Felsen und taumelt am Seil. Wäre sie nicht so gut gesichert gewesen, hätte ihr das bereits das Leben kosten können.
Mir bleibt der Schreckensschrei in der Kehle stecken und ich springe auf. Mein Herz macht einen gewaltigen Sprung, bleibt kurz stehen und schlägt dann hart und schnell gegen meinen Brustkorb. Mit der Hand halte ich mir vor Schrecken den Mund zu. Mein Blut scheint mit Lichtgeschwindigkeit durch meine Adern zu rasen. Mir ist heiß und kalt zu gleich. Die Beine werden wackelig, die Hände beginnen zu schwitzen und ich bekomme überall Gänsehaut. Sirko sagt etwas zu mir, doch nehme ich meine Umwelt nicht mehr wahr. Ich sehe nur noch die Frau an der Wand hängen und kann ihre Panik sehr gut nachvollziehen. Bereits jetzt spüre ich die aufkommende Panik in mir.
Ihr Partner hat den Sturz gesehen und beginnt gleich mit dem Abstieg. Derweil versucht sie nach dem Drahtseil zu greifen. Sie braucht mehrere Anläufe. Es ist zu sehen, dass sie in Panik gerät, leises Schluchzen ist zu hören. Als sie es endlich zu fassen bekommt, will sie sich hoch ziehen, um einen Felsvorsprung zu erreichen. Es will ihr aber nicht gelingen. Ich denke mir, warum stützt sie sich nicht mit den Beinen ab? Aber wenn man in Panik ist, denkt man nicht mehr logisch.
Diesen Hinweis gibt ihr offensichtlich ihr Partner. Nach ein paar Worten von ihm tut sie genau dies und kann sich so retten. Sie beginnt mit dem Abstieg. Der Schock sitzt so tief, dass sie die einfachsten Schritte nicht richtig macht und immer wieder ausrutscht.
Am Boden angekommen klinkt sie sich aus und entfernt sich ein paar Schritte vom Via ferrata delle Trincee. Sie setzt sich auf den Boden und nimmt den Helm ab. Ihr Gesicht vergräbt sie in den Händen und fängt an, bitterlich zu weinen. Ihr Partner kommt an ihre Seite, nimmt sie in den Arm und redet beruhigend auf sie ein.
“Um Gottes Willen, das ist ja lebensgefährlich!“, sage ich zu Sirko. Dieser zuckt nur mit den Schultern.
„Sie ist es nicht richtig angegangen, etwas unbeholfen vielleicht. Und außerdem hat ihr Gurt sie doch gehalten, oder?“
Ich kann darauf nichts antworten. Wie soll ich ihm sagen, das ich den Klettersteig nicht gehen will? Um etwas Zeit zu gewinnen beobachte ich die nächsten Klettersteiggeher.
Ein weiteres Team versucht sich am Trincee Klettersteig, doch auch hier scheitert die Frau. Das Schauspiel der vorherigen Kletterin wiederholt sich. Der Mann klettert aber weiter, während die Frau nicht den Klettersteig begeht sondern den Felsen zu Fuß umrundet.
Jetzt ist für mich eindeutig klar, dass ich es nicht versuchen werde.
Dies sage ich meinem Freund, der einfach nur nickt. „Du willst es nicht wenigstens versuchen?“, will er mich überreden. Mir ist mittlerweile nur noch schlecht und ich fühle mich ganz elendig. Ich schüttele nur den Kopf.
Sirko will das Gefühl für diesen Klettersteig bekommen und beginnt, natürlich gut gesichert, mit dem Anstieg. Mittlerweile sind neue Wanderer hinzugekommen. Sie schauen mich an, wie ich einsam auf meinem Felsen sitze. Sie werden wissen, dass ich vor lauter Angst den Steig nicht gehe. Es ist mir peinlich und ich schaue schnell wieder auf die Wand. Mir wäre lieber gewesen, Sirko wäre mit mir gleich weggegangen. Ich will diesen Ort nur noch verlassen.
Ich sitze auf meine Stein und beobachte Sirko beim Klettern. Er kommt gut voran und findet seine Trittmöglichkeiten. Doch an der Schlüsselstelle ist auch für ihn Schluss. Er kehrt wieder um und meint anschließend: „Es ist wirklich nicht einfach. Besonders an der einen Stelle wird es sehr haarig. Ich würde es aber wahrscheinlich schaffen. Doch wenn ich über die Schlüsselstelle hinaus wäre, würde ich nicht mehr umkehren und du wärst allein.“ Er schaut mich wartend an. Ich schüttle nur den Kopf.
Wir entscheiden uns, den Klettersteig nicht zu absolvieren, sondern eine Wanderung daraus zu machen. Sirko lässt sich zwar nichts anmerken, doch spüre ich, dass er enttäuscht ist. Wortlos packt er die Klettersteigausrüstung wieder zusammen. Sein Gesicht spricht Bände, er ist einfach nur enttäuscht. Aber Angst ist nun mal keine gute Voraussetzung für das Klettern.
Zwar ist mir jetzt leichter ums Herz, mein Blutdruck normalisiert sich wieder. Doch habe ich noch nie aufgegeben, egal wie weit der Weg, wie schwierig der Aufstieg oder der Klettersteig war. Aber hier bin ich gescheitert, das erste Mal besiegt worden.
Als wir dann schließlich dem Bindelweg folgen, zergrüble ich mir das Hirn über mein Versagen. Vielleicht hätte ich es doch versuchen sollen? Gut, es hatten viele Kletterer ihre Schwierigkeiten mit dem Steig und einige haben auch aufgegeben. Aber einen Versuch wäre es wert gewesen. Immer wieder schießt mir diese Frage durch den Kopf und ich kann mich gar nicht auf die Wanderung und die wunderschöne Natur der Dolomiten konzentrieren.
Nächstes Jahr, das schwör ich mir, werde ich es erneut versuchen und dann werde ich es schaffen!
Ich stehe vor dieser Wand und weiß nicht, wie ich hinauf kommen soll. In den Büchern wurde der Via ferrata delle Trincee als schwieriger Klettersteig beschrieben. Obwohl ich schon einige Klettersteige in den Dolomiten absolviert hatte, sehe ich hier keine Chance. Die senkrechte, trittarme Wand, bestehend aus Lavagestein, welches eher untypisch für diese Gegend ist, zeigt mir meine Grenzen auf.
Den steilen Weg bis zum Einstieg für diesen Klettersteig habe ich noch gut gemeistert. Es waren nicht viele Höhenmeter zu bewältigen. Mein Freund hatte mich zeitig geweckt, um früh am Klettersteig zu sein. Mit vielen anderen Wanderern sind wir hinauf zum Einstieg gelaufen.
Während sich alle umziehen und die Klettersteigausrüstung anlegen, stehe ich wie erstarrt vor der Wand.
Furchteinflößend ragt der glatte Fels senkrecht vor mir auf. Schwarz wie die Nacht im Schatten der aufgehenden Sonne.
Meine spontane Reaktion bei diesem Anblick: Nein, das mach ich nicht! Das Herz schlägt mir plötzlich bis zum Hals und peitscht mein Blut durch die Adern. Ein dumpfer Druck legt sich auf meinen Kopf und bereitet mir Schmerzen. Ich schwitze aus allen Poren trotz der morgendlichen Kühle. Meine Haare kleben bereits nass an meinem Kopf und da habe ich noch nicht einmal den Helm aufgesetzt.
Sirko, mein Freund, beginnt bereits damit, die Ausrüstung aus dem Rucksack zu holen. Er hat offensichtlich keine Probleme mit dem Trincee Klettersteig. Er schaut kurz hoch und sieht mich mit weit aufgerissenen Augen stehen.
„Was ist los?“, will er wissen.
„Ich glaube, ich schaff das nicht!“, antworte ich ihm leise.
Er schaut mich weiter an, blickt dann zum Klettersteig. „Komm, versuch es wenigstens.“
Mein Herz schlägt immer noch in einem hektischen Takt. Ich beobachte, wie sich die anderen Wanderer umziehen und die ersten zum Drahtseil gehen. Es ist ein junges Pärchen, das sich mit den Karabinern zur Sicherung in das Drahtseil einklinkt. Die Frau geht vor mit schnellen und sicheren Schritten.
Vielleicht ist der Klettersteig gar nicht so schwierig, keimt ein wenig Hoffnung in mir auf.
Ich versuche ruhig durchzuatmen und meinen Puls zu normalisieren. Alles halb so schlimm, rede ich mir ein.
Die Finger der Kletterin finden auf der glatten Wand nicht immer den nötigen Halt. Suchend fährt sie mit der Hand über das Lavagestein, bis sie eine griffige Stelle gefunden hat. Ihre Augen suchen nun eine günstige Stelle für ihren Fuß. Ein kleiner Vorsprung bietet genügend Platz. Sie holt etwas Schwung, zieht sich mit dem linken Arm vor und legt ihren Fuß auf dem Vorsprung ab. Der rechte Fuß baumelt ziellos vor der Wand. Mit der freien Hand holt sie ihre Karabiner nach und hängt sie einen nach dem anderen um. Mit einem Karabiner ist sie immer am Drahtseil gesichert, sofern dieses in der Verankerung ist.
Routiniert geht sie Schritt für Schritt weiter bis sie zu einer besonders schwierigen Stelle kommt. Sie hält kurz inne um eine Lösung zu finden. Der nächste kleine Vorsprung ist nicht weit entfernt, doch ist genau darüber ein Bolzen in den Felsen eingebracht. Das kann Probleme geben. Als sie den nächsten Schritt macht, bewahrheitet sich meine Befürchtung. Der Bolzen ist so ungünstig angebracht, dass ihr Knie keinen Platz findet. So kann sie sich nicht aufrichten und muss diesen Schritt wieder rückgängig machen. Mit ihren Augen sucht sie die Wand nach weiteren Möglichkeiten ab.
Der Bolzen liegt sehr weit oben, doch sieht die Frau keinen anderen Weg. Sie beugt sich sehr weit vor und hängt die Karabiner mit ausgestrecktem Arm bereits um. So können diese sie nicht hindern und sie muss sie nicht umständlich nachholen.
Mit einem Kreuzschritt hebt sie ihr linkes Bein und positioniert ihren anderen Fuß auf den kleinen Vorsprung. Nun hängt sie mit der linken Körperhälfte in der Luft und beginnt ihr Bein hin und her zu schwingen. Sie beugt sich nach hinten, holt viel Schwung, lässt das Drahtseil los und springt.
Für kurze Zeit ist sie schwerelos und fliegt durch die Luft. In diesem Moment hängt ihr Leben hängt an einem einzigen Seil. Trifft sie ihr Ziel nicht, wird sie abstürzen und muss dann auf die Stabilität ihres Gurtes vertrauen.
Voller Anspannung beobachte ich ihren Flug. Wird sie es schaffen oder stürzt sie ab und fällt in die Seile? Wird der Gurt halten oder wird er reißen, wie es schon einmal bei einem Kletterer passiert ist? Mein Herz scheint stehen zubleiben. Die Sekunden dehnen sich zu einer Ewigkeit.
Mit ihrer Hand bekommt sie das Drahtseil wieder zu fassen, kann ihren Flug stabilisieren. Ihr Fuß trifft den Bolzen, sie zieht sich am Seil hoch und hat wieder sicheren Halt. Mit der freien Hand wischt sie sich den Schweiß von der Stirn und atmet tief durch. Geschafft!
Aber nicht nur sie kann wieder atmen. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich die Luft angehalten hatte. Nun atme ich erleichtert wieder aus und lege die Hand auf mein Herz. Ja, es schlägt noch. Die anderen Wanderer haben das Schauspiel ebenfalls gebannt verfolgt und unterhalten sich jetzt erleichtert über dieses riskante Manöver. Ob ich das so gut meistern kann, wage ich doch sehr zu bezweifeln.
Die Schlüsselstelle ist also geschafft. Hier wird eindeutig die Spreu vom Weizen getrennt.
Als die junge Frau dieses hinter sich gebracht hat, folgt ihr der Mann. Er hat weit mehr Schwierigkeiten mit dem Klettersteig. Bereits am Anfang klettert er nicht so elegant an der Wand entlang wie seine Frau. Sehr langsam kommt er voran und steht schließlich vor der Schlüsselstelle. Zuerst versucht er dem Beispiel der Frau zu folgen. Viele Minuten vergehen, in denen er immer wieder Schwung holt und dann doch den Versuch abbricht. Er setzt seinen Fuß auf den winzigen Vorsprung unterhalb des Bolzens und zieht sich hoch. Wahrscheinlich würde ich diesem Beispiel eher folgen, da es weniger riskant ist.
Wie seine Frau vor ihm kann er sich nicht aufrichten. In gebückter Stellung sucht er mit dem anderen Fuß den nächsten Halt und kann schließlich seiner Fußspitze etwas Stütze bieten. Wäre die Situation nicht so gefährlich, könnte ich mich köstlich über diesen Anblick amüsieren. Im halben Spagat versucht er das Drahtseil zu umschließen. Die Fingerspitzen erreichen es immer wieder, doch er braucht lange, bis er es endlich umfassen kann. Der Bolzen blockiert sein Knie und muss sich bereits schmerzhaft hineinbohren. Ich habe das Gefühl, als ob auch mein Knie schmerzen würde und reibe es unbewusst.
Mit einem Arm will er sich aus der misslichen Lage ziehen, doch wird er daran gehindert. Jetzt zeigt sich, warum seine Frau die Karabiner vorher umgehangen hat. Das Seil ist schließlich nicht meterlang und so hängt es vor der Verankerung fest und zerrt an ihm.
Er muss sich nun tief hinab beugen und verliert beinahe den Halt.
Ein Schreckensschrei entfährt mir und ich halte mir die Hand vor den Mund. Ich hatte ihn bereits stürzen sehen. Zittrig hängt er einen Karabiner nach dem anderen um. Erst jetzt kann er sich mit einem Arm und reiner Muskelkraft hinauf ziehen. Unbeholfen sucht er den nächsten Halt. Mit einem Bein stehend schmiegt er sich eng an die Felswand. Viele Minuten verstreichen, bevor er dem Klettersteig weiter folgt.
Seine Frau ist währenddessen auf einem grasbewachsenen Plateau angelangt und blickt kurz zu ihm herunter. Sehr zittrig kann er zu ihr aufschließen. Doch ist sie bereits weiter unterwegs, er folgt im langsamen Tempo.
Zweifelnd blicke ich Sirko an. Dieser hat aufgehört, seine Ausrüstung anzuziehen. Er merkt, dass ich nicht gewillt bin.
„Setz dich hin, wir beobachten einfach die Leute. Vielleicht gewinnst du dann mehr Mut“, will er mich beruhigen. Noch rechnet er damit, dass ich den Steig begehen werde. Bisher habe ich auch vor nichts zurück geschreckt.
Ein großer Stein, wo unsere Rucksäcke angelehnt sind, bietet uns genügend Platz. Kurz nehme ich den Blick von der Kletterwand und schaue mich um.
Die Aussicht auf die Dolomiten ist überwältigend. Die aufgehende Sonne streichelt sanft die Bergspitzen. Der morgendliche Dunst steigt langsam auf. Doch kann ich dieses Panorama nicht genießen. Die Angst sitzt mir mit ihrer kalten Hand im Nacken. Ich kann mir nicht erklären, woher dieses Gefühl kommt. Ich habe noch nicht einmal den Felsen berührt.
Sirko redet ruhig auf mich ein. Doch seine Worte finden kein Gehör bei mir.
Mein Blick wird immer wieder zum Klettersteig gelenkt, obwohl ich eigentlich das Panorama der Dolomiten genießen möchte um so wieder zur Ruhe zu kommen. Bisher ist nichts passiert am Klettersteig, keiner ist abgestürzt.
Angespannt beobachte ich ein weiteres Paar, das geduldig auf seine Chance wartet. Oberstes Gebot bei Klettersteige ist immer, genügend Abstand zum Vordermann zu lassen. Denn wenn dieser stürzt reißt er bei zu geringen Zwischenraum den Nachfolger mit.
Dieses Mal steigt der Mann zuerst auf. Er kämpft sich bis zur Schlüsselstelle vor. Offensichtlich hat er sich das Pärchen vor ihm genau angeschaut. Er geht die Schlüsselstelle genauso wie die Frau an und springt kurzerhand auf den Bolzen.
Für ihn scheint es weniger Probleme zu geben. Sehr gut für meine Nerven, mein Herzschlag beruhigt sich ein wenig.
Etwas wackelig bleibt er auf dem Bolzen stehen und ruft seiner Partnerin etwas zu. Ich stehe zu weit weg, um es verstehen zu können. Die Frau folgt ihm nach einigem Zögern. Sie hat bereits mit den ersten Schritten ihre Probleme. Die kleinen Felsvorsprünge, gerade so groß dass die Fußspitze des Schuhs Platz hat, bieten ihr nicht genug Raum. Fahrig versucht sie, die Karabiner umzuhängen. Aber die Verschlüsse wollen in ihren zittrigen Händen nicht recht aufgehen.
„Bleib ruhig, Mädchen“, flüstere ich leise und schreibe in Gedanken auch mir diese Anweisung zu.
Sie steht seit einer Minute auf derselben ungünstigen Stelle, die sehr kraftraubend ist. Sie hätte sich vorher umhängen sollen, ein Fehler, den viele Klettersteiggeher machen. So kostet es sie viel Kraft und Nerven, die Karabiner vor die Verankerung zu bringen. Ich frage mich, wie sie die schwierige Schlüsselstelle schaffen will.
Als sie nach mehreren Versuchen einen Halt am glatten Gestein findet, will sie sich ungelenk hinauf ziehen, aber ihr Fuß rutscht ab. Durch die Wucht des Sturzes kann sie das Drahtseil nicht mehr halten und fällt in die Seile. Sie schlägt gegen den Felsen und taumelt am Seil. Wäre sie nicht so gut gesichert gewesen, hätte ihr das bereits das Leben kosten können.
Mir bleibt der Schreckensschrei in der Kehle stecken und ich springe auf. Mein Herz macht einen gewaltigen Sprung, bleibt kurz stehen und schlägt dann hart und schnell gegen meinen Brustkorb. Mit der Hand halte ich mir vor Schrecken den Mund zu. Mein Blut scheint mit Lichtgeschwindigkeit durch meine Adern zu rasen. Mir ist heiß und kalt zu gleich. Die Beine werden wackelig, die Hände beginnen zu schwitzen und ich bekomme überall Gänsehaut. Sirko sagt etwas zu mir, doch nehme ich meine Umwelt nicht mehr wahr. Ich sehe nur noch die Frau an der Wand hängen und kann ihre Panik sehr gut nachvollziehen. Bereits jetzt spüre ich die aufkommende Panik in mir.
Ihr Partner hat den Sturz gesehen und beginnt gleich mit dem Abstieg. Derweil versucht sie nach dem Drahtseil zu greifen. Sie braucht mehrere Anläufe. Es ist zu sehen, dass sie in Panik gerät, leises Schluchzen ist zu hören. Als sie es endlich zu fassen bekommt, will sie sich hoch ziehen, um einen Felsvorsprung zu erreichen. Es will ihr aber nicht gelingen. Ich denke mir, warum stützt sie sich nicht mit den Beinen ab? Aber wenn man in Panik ist, denkt man nicht mehr logisch.
Diesen Hinweis gibt ihr offensichtlich ihr Partner. Nach ein paar Worten von ihm tut sie genau dies und kann sich so retten. Sie beginnt mit dem Abstieg. Der Schock sitzt so tief, dass sie die einfachsten Schritte nicht richtig macht und immer wieder ausrutscht.
Am Boden angekommen klinkt sie sich aus und entfernt sich ein paar Schritte vom Via ferrata delle Trincee. Sie setzt sich auf den Boden und nimmt den Helm ab. Ihr Gesicht vergräbt sie in den Händen und fängt an, bitterlich zu weinen. Ihr Partner kommt an ihre Seite, nimmt sie in den Arm und redet beruhigend auf sie ein.
“Um Gottes Willen, das ist ja lebensgefährlich!“, sage ich zu Sirko. Dieser zuckt nur mit den Schultern.
„Sie ist es nicht richtig angegangen, etwas unbeholfen vielleicht. Und außerdem hat ihr Gurt sie doch gehalten, oder?“
Ich kann darauf nichts antworten. Wie soll ich ihm sagen, das ich den Klettersteig nicht gehen will? Um etwas Zeit zu gewinnen beobachte ich die nächsten Klettersteiggeher.
Ein weiteres Team versucht sich am Trincee Klettersteig, doch auch hier scheitert die Frau. Das Schauspiel der vorherigen Kletterin wiederholt sich. Der Mann klettert aber weiter, während die Frau nicht den Klettersteig begeht sondern den Felsen zu Fuß umrundet.
Jetzt ist für mich eindeutig klar, dass ich es nicht versuchen werde.
Dies sage ich meinem Freund, der einfach nur nickt. „Du willst es nicht wenigstens versuchen?“, will er mich überreden. Mir ist mittlerweile nur noch schlecht und ich fühle mich ganz elendig. Ich schüttele nur den Kopf.
Sirko will das Gefühl für diesen Klettersteig bekommen und beginnt, natürlich gut gesichert, mit dem Anstieg. Mittlerweile sind neue Wanderer hinzugekommen. Sie schauen mich an, wie ich einsam auf meinem Felsen sitze. Sie werden wissen, dass ich vor lauter Angst den Steig nicht gehe. Es ist mir peinlich und ich schaue schnell wieder auf die Wand. Mir wäre lieber gewesen, Sirko wäre mit mir gleich weggegangen. Ich will diesen Ort nur noch verlassen.
Ich sitze auf meine Stein und beobachte Sirko beim Klettern. Er kommt gut voran und findet seine Trittmöglichkeiten. Doch an der Schlüsselstelle ist auch für ihn Schluss. Er kehrt wieder um und meint anschließend: „Es ist wirklich nicht einfach. Besonders an der einen Stelle wird es sehr haarig. Ich würde es aber wahrscheinlich schaffen. Doch wenn ich über die Schlüsselstelle hinaus wäre, würde ich nicht mehr umkehren und du wärst allein.“ Er schaut mich wartend an. Ich schüttle nur den Kopf.
Wir entscheiden uns, den Klettersteig nicht zu absolvieren, sondern eine Wanderung daraus zu machen. Sirko lässt sich zwar nichts anmerken, doch spüre ich, dass er enttäuscht ist. Wortlos packt er die Klettersteigausrüstung wieder zusammen. Sein Gesicht spricht Bände, er ist einfach nur enttäuscht. Aber Angst ist nun mal keine gute Voraussetzung für das Klettern.
Zwar ist mir jetzt leichter ums Herz, mein Blutdruck normalisiert sich wieder. Doch habe ich noch nie aufgegeben, egal wie weit der Weg, wie schwierig der Aufstieg oder der Klettersteig war. Aber hier bin ich gescheitert, das erste Mal besiegt worden.
Als wir dann schließlich dem Bindelweg folgen, zergrüble ich mir das Hirn über mein Versagen. Vielleicht hätte ich es doch versuchen sollen? Gut, es hatten viele Kletterer ihre Schwierigkeiten mit dem Steig und einige haben auch aufgegeben. Aber einen Versuch wäre es wert gewesen. Immer wieder schießt mir diese Frage durch den Kopf und ich kann mich gar nicht auf die Wanderung und die wunderschöne Natur der Dolomiten konzentrieren.
Nächstes Jahr, das schwör ich mir, werde ich es erneut versuchen und dann werde ich es schaffen!