Bestimmt nicht

Alpha

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Bestimmt nicht

Schwerlich drückte sich der Abend auf die Stadt. Es war der Abend alter Tage, und er schien ihr unerträglich.

„Ich bin nicht heim gekommen“. Sie machte eine Pause, während sie die Gardine beiseite schob und hinunter auf die stark befahrene Straße blickte. Wie lange hatte sie immer an ihrem Fenster gesessen und die Autos beobachtet, hatte versucht alle Nummernschilder zu erkennen und sich gefragt, welche Stadt es sein könnte, wenn ein ihr unbekanntes darunter war. Was aber selten vorkam.
„Ich möchte nur ein paar Kleinigkeiten holen“.
„Kleinigkeiten?“
Sie ließ die Gardine vom Zeigefinger rutschen und wandte sich ihrer Mutter zu. „Ja. Nichts Besonderes.“ „Aber zum Abendessen bleibst du doch?“ „Ich weiß nicht, ich habe eigentlich keinen Hunger und ...“, sie stand regungslos und schien an irgendeinem Gedanken hängen geblieben zu sein.
„Ich weiß nicht. Nein, ich denke nicht.“
„Ach komm, wenn du schon mal hier bist. ... Wie bist du eigentlich hier? Mit dem Zug?“ „Nein, mit dem Auto.“ „Ich denke, das ist kaputt?“ „Ist es auch. Ich habe ein neues. Ist kaum besser, aber es fährt noch.“ „Welches ist es denn?“ Ihre Mutter schaute aus dem Fenster und musterte die Wagen am Straßenrand. „Der alte Ford da, der silberne.“ „Oh. Ok.“

Sie hatte nicht mit zu Abend gegessen, aber sie war geblieben. Wenn man erst mal im Sumpf der Vergangenheit stand, war ist nicht leicht, wieder hinaus zu steigen. Doch sie genoss die Unterhaltung mit ihrer Mutter, obgleich es Belangloses war, Alltägliches.
„Was hast du denn jetzt noch eingepackt?“ „Ach. Ein paar Fotoalben.“ „Ah.“ Ihre Mutter nickte und brummte wissend in sich hinein. „Du meinst das eine Bild.“ , fügte sie hinzu und sah ihre Vermutung im Schweigen ihrer Tochter bestätigt.
„Ich denke“, fuhr sie zögerlich fort und nippte am Wein, „du wolltest dieses Bild nie wieder ansehen?“ „Werde ich auch nicht. Es ist doch noch immer eingepackt.“ „Wozu brauchst du es dann?“
„Falls ich es einmal vergessen sollte.“ „Das verstehe ich nicht. Wieso solltest du es vergessen?“ „Weil ich mich immer weniger erinnere. Es wird alles immer blasser, und irgendwann werde ich nicht mehr wissen, wie es aussah.“ „Aber, wolltest du nicht genau das?“ „Ja schon, aber ... Ich möchte einfach nur wissen, dass ich es habe. Dass ich es ansehen kann, wenn ich wollte. Ich tue es bestimmt nicht.“
Nachdenklich musterte sie ihre Tochter. „Du hast dich gar nicht verändert, ich verstehe dich immer noch nicht.“ Für einen Moment war es still, bevor sie beide in Gelächter ausbrachen.

„Danke Mom, es war ein netter Abend.“ „Ach Liebling, du weißt, du bist immer willkommen.“ Sie nahm ihre Tochter in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Hast du die Äpfel auch nicht vergessen?“ „Nein Mom, ich hab sie hier“ versicherte sie und deutete bezeugend auf die Beulen ihres Rucksacks. „Ja, ok. Dann machs gut, und - meld dich mal wieder, ja?“ „Tu ich. Machs gut.“
Wehmütig blickte sie ihrer Tochter nach, bis nur noch ihre Schritte im Treppenhaus zu hören waren. Dann schloss sich die Haustür.

Es war lange her gewesen, seit ihre Tochter sie das letzte Mal besucht hatte. Es war alles so unglücklich gelaufen, wie gern hätte sie ihr geholfen, wenn es ihr möglich gewesen wäre. Noch am nächsten Morgen ließen sie die Gedanken nicht los.
Sie stellte das Radio an und begann Rührei zu machen. Wenn die Wettervorhersage vielversprechend sei, würde sie einen schönen Tag im Park verbringen.

‚ ... der LKW-Fahrer ist leicht verletzt, für die Fahrerin des Ford kam jede Hilfe zu spät. Die Ursachen sind noch ungeklärt.’
Entsetzt lies sie das Ei fallen. Das Bild.
 



 
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