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4,10 Stern(e) 10 Bewertungen

arle

Mitglied
Nichts wird vom Menschen bleiben als seine Widersprüchlichkeit.
– F. Nietzsche -


Bevor sie zu ihm fuhr, lackierte sie sich die Nägel, ging zum Friseur, kaufte sich neue Unterwäsche, gab viel mehr Geld aus als sie gedurft hätte. Aber er hatte gesagt, er freue sich auf sie; das rechtfertigte jede Ausgabe. Um sechs Uhr früh ging der Zug. Sie war seit vier Uhr wach, fühlte sich ein bisschen wie unter Glas vor Müdigkeit. Sie hatte ein Abteil ganz für sich alleine, in dem sie sich ungestört ausbreiten konnte und vor sich hin grinsen durfte, wann immer sie wollte. Sie bekam das Grinsen gar nicht mehr aus ihrem Gesicht, so froh war sie.

Um sieben Uhr kam die erste Nachricht von ihm: Er war besorgt, dass sie vielleicht den Wecker überhört oder sich in den falschen Zug gesetzt haben könnte – schusslig, wie sie manchmal war. Um acht Uhr rief er sie zum ersten Mal an. Die Sonne brach durch die Wolken; es würde ein wunderschöner Tag werden.

Nach fünf Stunden lief der Zug in der Hauptstadt ein. Jetzt noch einmal umsteigen, noch vierzig Minuten Fahrt. Um elf Uhr fünfundvierzig rief er sie zum letzten Mal an. Wo bist du jetzt, fragte er.

Um zwölf Uhr zwölf stieg sie aus dem Zug. Sie ging auf ihn zu und umarmte ihn. Er umarmte sie auch, machte sich aber gleich wieder von ihr los, wie das eben seine Art war. Sie versuchte, die in ihr aufsteigende Unsicherheit zu ignorieren. Ihre neue Frisur erwähnte er mit keinem Wort.

Sie machten Zwischenstation in einem Gartenlokal. Viel hatten sie sich nicht zu sagen; alles war bereits besprochen worden, in Telefonaten, die oft bis zu vier Stunden gedauert hatten. Sie erzählte ihm, was sie unterwegs auf einem Plakat gelesen hatte: „Wenn wir uns sehen, reden wir nicht viel. Das machen wir, wenn wir uns nicht sehen“. Irgendwie fand sie das lustig und auf sie beide zutreffend. Er stimmte ihr zu.

Um dreizehn Uhr zehn waren sie in seiner Wohnung. Um dreizehn Uhr zwanzig führte er sie in sein Schlafzimmer. Um vierzehn Uhr dreißig saßen sie zusammen in seiner Küche, redeten, lachten, aßen. Gegen siebzehn Uhr verließen sie das Haus Hand in Hand. Er zeigte ihr eine der schönsten Städte der Welt, und sie war glücklich.

Um zweiundzwanzig Uhr lernte sie seinen besten Freund kennen. Dem Freund gefiel sie nicht, trotz neuer Frisur; das machte er vom ersten Augenblick an deutlich. Sie trank zwei Gläser Wein gegen die in ihr aufsteigende Unsicherheit. Um null Uhr zehn fragte ihn ein Bekannter: Ist das deine Frau? Er antwortete nicht, wie üblich, sie sei nur eine gute Freundin. Ja, sagte er und nahm ihre Hand. Zum ersten Mal fühlte sie sich wirklich geborgen.

Um zwei Uhr dreißig waren sie bei ihm zu hause. Er schlief mit ihr, als sei das eine lästige Pflicht. Wortlos, emotionslos. Im Schlaf legte er dann den Arm um sie; sie drehte sich weg.

Um zehn Uhr wachte sie auf, kochte sich einen Kaffee, duschte, schwieg. Um zwölf Uhr wachte er auf, kochte sich einen Kaffee, duschte, schwieg. Um vierzehn Uhr gingen sie aus dem Haus. Auf der Straße achtete er peinlich genau darauf, dass zwischen ihnen immer mindestens ein Meter Abstand blieb. Sie fühlte sich allein.

Die nächsten Stunden vergingen irgendwie. Um zwei Uhr saßen sie wieder in seiner Küche. Als er ihr endlich beigebracht hatte, dass er sie nicht wollte, wurde es draußen schon hell, und die Vögel begannen zu zwitschern. Sie weinte. Und er weinte auch.

Um siebzehn Uhr stieg sie in den Zug. Um dreiundzwanzig Uhr rief sie ihn noch einmal an. Um null Uhr fiel sie in einen tiefen Schlaf.

Heute ist der erste von vielen Tagen, an denen sie sich nicht sehen werden. Heute ist der erste von vielen Tagen, an denen sie trotzdem nicht reden werden.
 

Gandl

Mitglied
JesusMaria&Josef, Arle!
Was ist dir da gelungen !
Schrecklich dieses Protokoll einer sinnlosen Liebe (ach, ist sie wirklich sinnlos? Was aber macht denn wirklich Sinn?)
So saugut geschrieben ... (sorry für das „sau“ aber was anderes fiel mir so fix nicht ein, sollte aber auf alle Fälle eine Steigerungsform von „gut“ sein ...)
Gruß
Gandl
 

arle

Mitglied
Gandl!!!!!!

JesusMaria!!!!

Solch ein Lob! Von meinem Lieblingsschreiber!!!!! Fast wär ich ohnmächtig vom Schreibtischstuhl gesunken.....

Ob sie sinnlos ist/war, weiß ich auch nicht so recht. Wenn die Geschichte, so wie sie geschrieben wurde, Sinn macht, freu ich mich.

Tausend Dank!
 
K

Kasoma

Gast
Hallo, liebe Arle

so weit so gut und saugut geschrieben, da hat Gandl recht! Nur, warum der Sinneswandel des Liebhabers? Erst stand er zu ihr, dann wollte er sie nicht mehr? So plötzlich? Sein Freund mochte sie nicht,o.K, aber das liess ihn doch kalt!?
Das ergibt für mich keinen Sinn! Hätte das gern im Text erklärt bekommen!

Deshalb kleiner Punktabzug von einer sonst gern vollen Bewertung...lieber Gruß von Kasoma
 

arle

Mitglied
Eben, Kasoma.....

... genau darum geht es. Genau um diese Widersprüchlichkeit. Genau das ist es, was sie so traurig, hilflos und unsicher zurück lässt. Es lässt sich einfach nicht erklären, warum die beiden sich so und nicht anders verhalten. Drum hab ich’s gar nicht erst versucht.

Vielen lieben Dank für dein Interesse und die gute Bewertung.
 

Gabriele

Mitglied
Hallo arle,
ein - trotz der Distanziertheit, mit der er geschrieben ist - sehr eindringlicher Text, großes Kompliment!
Ein wenig gestört haben mich persönlich die vielen genauen Zeitangaben. Ich weiß schon, die haben ihren Sinn, aber trotzdem ist mir das gegen Ende des Textes etwas zuviel geworden.
Liebe Grüße
Gabriele
 

arle

Mitglied
Vielen Dank,

liebe Gabriele. Es erstaunt und freut mich wirklich, dass der "Besuch" wohl beim einen oder anderen Leser einen Nerv getroffen hat. Wahrscheinlich haben schon mehr Leute als vermutet eine solche Situation miterleben müssen.

Deine Kritik mit den Uhrzeiten habe ich ernst genommen. Beim nochmaligen Lesen finde ich allerdings, dass sie sein müssen - auch und gerade in ihrer Aufdringlichkeit. Ich wüsste nicht, wie man den Text sonst zu einem schlüssigen und quälenden Ende hätte bringen können. Sollte mir noch was einfallen, werde ich aber sicher noch mal an die Arbeit gehen.

Im Moment bin ich eigentlich nur froh und erleichtert, dass der Text endlich aus mir raus ist. Er hat schon arg gedrückt....

Danke noch mal!
 
H

Heidi Hof

Gast
Hallo arle,

mir hat`s auch saugut gefallen. ;)

Besonders die Form bringt das ganze Thema gut raus.


LG Heidi
 

arle

Mitglied
Liebe Heidi,

danke für das Lob und die Bestätigung, dass die Form richtig gewählt war.

Einen schönen Tag wünscht: Silvia
 

arle

Mitglied
Hallo Montgelas,

auch dir herzlichen Dank. Die Protokollform war nicht von Anfang an beabsichtigt; sie hat sich aber mit jedem Satz mehr durchgesetzt und verselbständigt. Also blieb mir eigentlich nichts anderes übrig als sie bis zum bitteren Ende beizubehalten. Schön, dass Ihr mich darin bestätigt habt.
 
B

bonanza

Gast
Gut gemacht. Diese Leere, diese Sprachlosigkeit kommt rüber.
Irgendwie scheint der Wurm drin zu sein. Mir kommt der
Verdacht auf, daß sie ihn liebt, er aber nur
halbherzig bei der Sache ist. Solange nichts besseres
in Aussicht ist. Natürlich würde er sich das nie
eingestehen. Schon gar nicht ihr.
Ich finde diese Zeitansagen als Stilmittel gelungen.
Die Begrenztheit wird deutlich: Zeitlich wie emotional.
Auch der Schlußsatz kommt vielsagend und unterstreicht
die Ohnmacht und Angst, die die Protagonistin bei
dieser Fernbeziehung hat. Sie will doch geliebt werden!
Nicht nur für einen Tag.

Ansonsten sprachlich kein Meisterwerk - doch sehr
authentisch und vor allem nicht zu lang.
Wirklich nicht übel der Dübel.

bon.
 

Hannah Rieth

Mitglied
Hallo arle,

auch von mir: Ein klasse Text! :) Kurz, knapp, aufs Wesentliche beschränkt. Das gefällt mir richtig gut.

Eine Frage hätte ich aber noch... ;-)
Der vorletzte Satz erscheint mir irgendwie nicht so ganz schlüssig.

Heute ist der erste von vielen Tagen, an denen sie sich nicht sehen werden.
Wenn ich dich richtig verstehe, haben sie sich ja recht selten, auf jeden Fall nicht täglich gesehen. "Der erste von vielen Tagen" impliziert, dass sie sich sonst jeden Tag gesehen haben. Klingt vielleicht korinthenk..., aber für mich passt das nicht so richtig. Ich nehme an, dass du den Satz einfach anders betonst, dass du einen anderen Schwerpunkt setzt. Und ich scheine auch die einzige zu sein, der das "komisch" vorkommt. Wollt ich trotzdem mal loswerden... ;-)

Lieben Gruß, Hannah
 

arle

Mitglied
Liebe Hanna,

ja ja, der letzte Satz... Wie hab ich an dem rumgebastelt. Und bin doch zu keinem befriedigenden Ergebnis gekommen.

Ich wollte mich damit noch einmal beziehen auf den Slogan dieser Telefongesellschaft: Wenn wir uns sehen, reden wir nicht viel. Das machen wir, wenn wir uns nicht sehen.
Aber bis heute ist mir noch nix Griffiges eingefallen. Drum das etwas holprige "der erste von vielen Tagen". Insofern war also gar nichts korinthenk....isches an deinem Kommentar.

Vielen Dank für die positive Kritik!
 

arle

Mitglied
Nichts wird vom Menschen bleiben als seine Widersprüchlichkeit.
– F. Nietzsche -


Bevor sie zu ihm fuhr, lackierte sie sich die Nägel, ging zum Friseur, kaufte sich neue Unterwäsche, gab viel mehr Geld aus als sie gedurft hätte. Aber er hatte gesagt, er freue sich auf sie; das rechtfertigte jede Ausgabe. Um sechs Uhr früh ging der Zug. Sie war seit vier Uhr wach, fühlte sich ein bisschen wie unter Glas vor Müdigkeit. Sie hatte ein Abteil ganz für sich alleine, in dem sie sich ungestört ausbreiten konnte und vor sich hin grinsen durfte, wann immer sie wollte. Sie bekam das Grinsen gar nicht mehr aus ihrem Gesicht, so froh war sie.

Um sieben Uhr kam die erste Nachricht von ihm: Er war besorgt, dass sie vielleicht den Wecker überhört oder sich in den falschen Zug gesetzt haben könnte – schusslig, wie sie manchmal war. Um acht Uhr rief er sie zum ersten Mal an. Die Sonne brach durch die Wolken; es würde ein wunderschöner Tag werden.

Nach fünf Stunden lief der Zug in der Hauptstadt ein. Jetzt noch einmal umsteigen, noch vierzig Minuten Fahrt. Um elf Uhr fünfundvierzig rief er sie zum letzten Mal an. Wo bist du jetzt, fragte er.

Um zwölf Uhr zwölf stieg sie aus dem Zug. Sie ging auf ihn zu und umarmte ihn. Er umarmte sie auch, machte sich aber gleich wieder von ihr los, wie das eben seine Art war. Sie versuchte, die in ihr aufsteigende Unsicherheit zu ignorieren. Ihre neue Frisur erwähnte er mit keinem Wort.

Sie machten Zwischenstation in einem Gartenlokal. Viel hatten sie sich nicht zu sagen; alles war bereits besprochen worden, in Telefonaten, die oft bis zu vier Stunden gedauert hatten. Sie erzählte ihm, was sie unterwegs auf einem Plakat gelesen hatte: „Wenn wir uns sehen, reden wir nicht viel. Das machen wir, wenn wir uns nicht sehen“. Irgendwie fand sie das lustig und auf sie beide zutreffend. Er stimmte ihr zu.

Um dreizehn Uhr zehn waren sie in seiner Wohnung. Um dreizehn Uhr zwanzig führte er sie in sein Schlafzimmer. Um vierzehn Uhr dreißig saßen sie zusammen in seiner Küche, redeten, lachten, aßen. Gegen siebzehn Uhr verließen sie das Haus Hand in Hand. Er zeigte ihr eine der schönsten Städte der Welt, und sie war glücklich.

Um zweiundzwanzig Uhr lernte sie seinen besten Freund kennen. Dem Freund gefiel sie nicht, trotz neuer Frisur; das machte er vom ersten Augenblick an deutlich. Sie trank zwei Gläser Wein gegen die in ihr aufsteigende Unsicherheit. Um null Uhr zehn fragte ihn ein Bekannter: Ist das deine Frau? Er antwortete nicht, wie üblich, sie sei nur eine gute Freundin. Ja, sagte er und nahm ihre Hand. Zum ersten Mal fühlte sie sich wirklich geborgen.

Um zwei Uhr dreißig waren sie bei ihm zu hause. Er schlief mit ihr, als sei das eine lästige Pflicht. Wortlos, emotionslos. Im Schlaf legte er dann den Arm um sie; sie drehte sich weg.

Um zehn Uhr wachte sie auf, kochte sich einen Kaffee, duschte, schwieg. Um zwölf Uhr wachte er auf, kochte sich einen Kaffee, duschte, schwieg. Um vierzehn Uhr gingen sie aus dem Haus. Auf der Straße achtete er peinlich genau darauf, dass zwischen ihnen immer mindestens ein Meter Abstand blieb. Sie fühlte sich allein.

Die nächsten Stunden vergingen irgendwie. Um zwei Uhr saßen sie wieder in seiner Küche. Als er ihr endlich beigebracht hatte, dass er sie nicht wollte, wurde es draußen schon hell, und die Vögel begannen zu zwitschern. Sie weinte. Und er weinte auch.

Um siebzehn Uhr stieg sie in den Zug. Um dreiundzwanzig Uhr rief sie ihn noch einmal an. Um null Uhr fiel sie in einen tiefen Schlaf.
 



 
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