Bis der Mensch zerbricht

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Brandner

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Bis der Mensch zerbricht

Fredrickson lebte ein ausgesprochen wohlgeordnetes Leben. Er lebte nach der Uhr. Jeden Morgen stand er um die gleiche Zeit auf, kam um die gleiche Zeit in sein Büro, aß um die gleiche Zeit zu Mittag und ging um die gleiche Zeit schlafen.
An einem Donnerstag im November verließ Fredrickson sein Büro pünktlich um 17.30 Uhr.
Der Pförtner in der Empfangshalle sagte: „Pünktlich wie immer, Herr Fredrickson.“
„Stimmt genau“, sagte Fredrickson. „Auf Wiedersehen.“
Nachdem er die üblichen drei Minuten an der Haltestelle gewartet hatte, stieg Fredrickson in einen Bus der Linie 40 – wie an jedem Abend. Beim Einsteigen sprach er ein paar Worte mit dem Busfahrer Willy Rickmers. Der fuhr schon immer diesen Bus.
„Schöner Abend heute“, sagte Fredrickson.
„Soll aber noch regnen“, gab Rickmers zurück.
„Dabei hatten wir doch in letzter Zeit eine ganze Menge Regen“, sagte Fredrickson.
„Da haben Sie Recht.“
Freundlich nickend ging Fredrickson weiter und setzte sich auf den gleichen Platz wie jeden Abend. Er las seine Zeitung, bis der Bus an seiner Haltestelle ankam. Dort stieg er aus und ging den gewohnten Weg: erst die Goethe- Straße entlang, dann links in die Nord- Allee und noch mal links in die Lindenstraße bis zu dem Haus, in dem er wohnte, Tannenstraße 22.
Wie gewöhnlich macht er sich selbst etwas zu essen. Nach dem Essen erledigte er den Abwasch, räumte auf und ging ins Wohnzimmer, wo er den Fernseher einschaltete. Regelmäßig um 11.00 Uhr macht er den Fernseher aus und ging ins Bett.
Mit der gleichen Regelmäßigkeit setzte nur Minuten später der übliche Lärm aus der Wohnung unter ihm ein, lautes Lachen und dröhnende Musik. Gewöhnlich seufzte Fredrickson dann laut, drehte sich auf die und versuchte, den Krach zu ignorieren, um dann etwa eine Stunde später einzuschlafen.
Doch an diesem Novemberabend durchbrach er seine übliche Routine. Er lag auf dem Rücken und presste seine beiden Hände gegen seine Ohren.
„Nein!“ rief er, „Nein, Nein, Nein!“
Wobei jedes „Nein“ um ein vielfaches lauter wurde, als das vorhergehende. Das letzte der Reihe hatte er heraus gebrüllt.
„Ich halte es nicht mehr aus!“ schrie Fredrickson und sprang aus seinem Bett.
Mit stetig wachsendem Zorn stampfte er auf den Fußboden seines Schlafzimmers auf.
„Ruhe, verdammt noch mal!“ brüllte er. „Ruhe! Ich will endlich meine Ruhe haben!“
Doch die lieben Nachbarn unter ihm schienen nicht die Absicht zu haben, seinem Begehren Folge zu leisten. Im Gegenteil, sie drehten die Musik noch lauter auf, begleitet von schallendem Gelächter und dumpfen Schlägen, als sie nun ihrerseits gegen ihre Zimmerdecke klopften.
„Ah!“ brüllte Fredrickson, fast außer sich vor Wut.
Er griff nach dem Stuhl, auf welchem er sonst immer akkurat die für den nächsten Tag benötigt Kleidung hergerichtet hatte, und die jetzt flatternd zu Boden stob.
Voller Wucht stieß Fredrickson die vier Beine der Sitzgelegenheit gegen die Auslegeware des Schlafzimmers.
„Seid endlich mal ruhig, ihr verdammtes, Asoziales Pack!“ kreischte er mit sich überschlagender Stimme. „Jede Nacht das gleiche Theater – ich halte das nicht mehr aus!“
Immer dröhnender und kräftiger schlug er mit dem Stuhl zu, bis dieser endlich auseinander- und in Tausend Stücke brach. Aber auch das hatte die lärmenden Nachbarn kaum beeindruckt. Immer noch drang Musik und Gelächter auf die überreizten Sinne des sonst so geordnet lebenden Mannes ein.
Schlagartig hörte dieser zu schreien auf. Dafür trat ein seltsames Funkeln in seinen Blick. Wie in Trance wandelte er durch seine Wohnung, hinüber zur Abstellkammer.
Der entnahm Fredrickson ein großes, rotes Feuerwehrbeil, welches er vor einiger Zeit auf einer Tombola der hiesigen, freiwilligen Feuerwehr gewonnen hatte.
„Gleich werdet ihr ruhig sein“, flüsterte der Mann vor sich hin, und ein irres Kichern schloss sich diesen Worten an.
„Passt nur auf liebe Nachbarn, gleich werdet ihr ruhig sein. Sehr ruhig sogar...“.
Im Flur, an der Garderobe, stellte er das Beil kurz ab und schlüpfte in seine braunen Wildlederhalbschuhe. In Seelenruhe band er sich die Schnürsenkel zu, erst den linken, anschließend den rechten, wie er es immer tat, bevor er seine Wohnung verließ. Anschließend richtete er sich wieder auf, griff das Beil, öffnete die Wohnungstür, und verschloss diese nach dem Verlassen der Wohnung sorgfältig wieder.
Gleich einem Roboter wendete er sich im dunklen Treppenhaus den abwärts führenden Stufen zu. Wieder entschlüpfte ihm ein glucksendes Kichern, während er langsam, Stufe für Stufe, in das nächst untere Stockwerk stieg. Wäre ihm jetzt jemand hier an diesem Ort begegnet, er hätte Herrn Fredrickson nicht wieder erkannt. Eine Strähne des sonst so sorgfältig gekämmten, dunkelbraunen Haares hin ihm wirr in die Stirn. Die Augen darunter glitzerten mit einem seltsamen, kalten Funkeln, die Gesichtszüge waren verzerrt, glichen mehr einer grinsenden Fratze. Aus einem Mundwinkel rann ein dünner Faden Speichel heraus und sammelte sich am Kinn zu einem stetig anschwellenden Tropfen. Den leicht geöffneten, zu einem grausamen Lächeln verzerrten Lippen, entschlüpfte wieder und wieder jenes irre, glucksend- kichernde Geräusch, das einem das Blut in den Adern erstarren lassen konnte.
Ein Stockwerk tiefer hielt er vor der Wohnungstür seiner lärmenden Peiniger kurz inne, wie um zu überlegen, was er als nächstes tun wolle. Die Hand, schon auf dem Weg zur Türglocke, sank wieder nach unten. Stattdessen setzte Fredrickson die Schneide des Feuerwehrbeils als Brecheisen zwischen Tür und Rahmen an. Es genügte nur eine kurze Anstrengung, ein fester Ruck, und die Tür sprang mit einem knirschenden und berstenden Geräusch nach Innen auf. Im Flur dahinter, der wie in seiner Wohnung parallel zum Treppenhaus verlief, brannte das Licht. Das Lachen und Lärmen mehrerer Personen drang von rechts her zu Fredericksons Standpunkt hin. Da der Grundriss aller Wohnungen auf dieser Seite des Hauses nahezu identisch war, wusste der Mann, was ihn auf dieser Seite des Flurs erwartete. Am Kopfende ging es in die Küche, links davon führte eine Tür ins Wohnzimmer. Dorthin wandte er sich jetzt, das Beil hoch erhoben mit sich führend. Fredrickson hob das Beil wieder an und trug es in schräger Haltung vor seiner Brust, das scharfe Ende natürlich oben. Langsam trat er in die Wohnung der Nachbarn und näherte sich Schritt für Schritt der Wohnzimmertür, hinter der die Quelle des Lärms lauerte, die gleichzeitig Quelle seiner nächtlichen Qual war.
Gleich würde er sein Recht einfordern, sein Recht auf Ruhe, was ihm von diesen unverschämten Menschen immer und immer wieder vorsätzlich verwehrt worden war.
Eiseskälte durchströmte ihn, füllte ihn aus bis ins letzte Glied, bis in die letzte Zelle. Die Kälte des Hasses. Und Hass verzerrte auch sein Gesicht. Seine Augen waren weit aufgerissen, und die Pupillen darin vollführten einen unruhigen Tanz. Sie sprangen von einem Punkt zum anderen, verweilten nie länger als eine Sekunde an einem Punkt, erfassten alle Einzelheiten des Flures in der fremden Wohnung. Da waren eine Kommode mit Telefon, und gleich dahinter die Tür, durch die jetzt deutlich erkennbar die Stimmen von mindestens fünf Personen zu Fredrickson heraus drangen.
Nur noch drei Schritte!
Er hob sein Feuerwehrbeil noch ein wenig näher.
Noch zwei Schritte!
Ob die Menschen dahinter wohl sehr überrascht sein würden, ihn hier zu sehen? Den stummen, fügsamen Menschen? Der idiotische Herr Fredrickson, der nie aufmuckte, alles stoisch hin nahm, immer lächelte, immer Verständnis hatte? Oh ja, sie würden überrascht sein. Und wie!
Noch einen Schritt!
Plötzlich wurde die Tür vor ihm aufgerissen. Ein Mann erschien ihm Türrahmen. Es war der Mieter dieser Wohnung, ein Herr Meerwert, der hier zusammen mit seiner Freundin wohnte. Erschrocken zuckte Herr Meerwert zurück, als er die Gestalt mit dem Beil vor sich auf dem Flur stehen sah.
„Was…was wollen Sie denn hier?“ fragte er dann Fredrickson mit vor Überraschung krächzender Stimme.
„Wie kommen Sie überhaupt in meine Wohnung?“
Sein Blick fiel auf die aufgebrochene Wohnungstür im Gang hinter Fredrickson.
„Haben Sie etwa die Tür…? Unverschämtheit! Ich werde die Polizei rufen!“
„Was ist denn los, Henrik?“ rief eine weibliche Stimme aus dem Wohnzimmer.
„Ach nichts Schatz“, gab der Gerufene über seine Schulter hinweg zur Antwort.
„Es ist offensichtlich dieser dämliche Typ aus der Wohnung über uns. Und er scheint mir ein wenig Angst einjagen zu wollen!“
Meerwert kicherte bösartig und warf Fredrickson aus seinen grauen Augen einen verächtlichen Blick zu.
„Dem wird aber das blöde Grinsen und der irre Blick vergehen, wenn ihn die Polizei aus unserer Wohnung abführt!“
Der blonde, sehr schlanke Mann langte mit seiner rechten Hand an Fredrickson vorbei zur Kommode und griff nach dem Hörer des Telefons, welches auf dieser stand.
Im gleichen Moment kam Leben in Fredricksohn, der, seit die Wohnzimmertür geöffnet worden war, in seinen Bewegungen erstarrt verharrt hatte. Mit einer einzigen, fließenden Bewegung lies er das große, rote Feuerwehrbeil einen weiten Bogen beschreiben und gleich darauf schlug es mit lautem Krachen die Deckplatte der Kommode ein. Meerwart schrie gepeinigt auf, sein Arm zuckte zurück, und der Mann blickte mit Entsetzen auf den glatten Stumpf, denn wo sich eben noch seine Hand befunden hatte, war nun nur noch eine glatte Schnittfläche, aus der im Rhythmus des Blutdruckes Schwall für Schwall das Blut herausspritzte.
„Was haben Sie getan!“ schrie er Schmerz erfüllt und Kreide bleich Fredrickson an.
Dieser stand nur da, grinste satanische Weise teilnahmslos, und wischte sich seelenruhig Blut aus dem Gesicht.
Als mit einem dumpfen Plumps die abgehackte Hand Meerwerts, welche immer noch den Telefonhörer umklammert hielt, auf dem Boden neben der Kommode aufschlug, stieß er ein meckerndes Lachen aus. Meerwert taumelte ächzend rückwärts, den Blutspritzenden Stumpf seines rechten Armes umklammernd. Nach wenigen Schritten knickten seine Beine weg, und er fiel mit einem lauten Poltern nach hinten in das Wohnzimmer hinein. Das erregte Stimmengewirr dort wurde umgehend zu einem vielstimmigen Schreien und Kreischen, als die dort Anwesenden sahen, was geschehen war.
„Ich hatte Euch doch gebeten ruhig zu sein!“ rief Fredrickson mit tadelnder Stimme in den Raum hinein.
Mit schleppendem Schritt setzte er sich in Bewegung und er betrat das Wohnzimmer.
Sein umher zuckenden Augen erfassten den stöhnenden, halb Bewusstlos an Boden liegenden Meerwert. Neben ihm kniete eine brünette, schlanke Frau, die seinen Kopf in ihren Händen hielt. Das war wohl seine Lebensgefährtin. Daneben hatte sich ein ihm unbekannter Mann über den blutenden Armstumpf gebeugt, in dem Versuch, den Blutstrom mit einem Tuch abzubinden. Einige Schritte hinter den dreien stand ein Pärchen. Sie hatte ihren Kopf mit dem Gesicht an seine Brust gedrückt, er hielt sie in schützender Umarmung. In seinen Augen stand grenzenloser Schrecken geschrieben.
Der über Meerwert stehende Mann erhob sich, als er Fredrickson erblickte.
„Sie Wahnsinniger!“ schrie er ihm entgegen und bewegte sich auf ihn zu.
„Wissen Sie eigentlich, was Sie da getan haben?“
Fredrickson kicherte irr.
„Er sollte doch nur ruhig sein, doch er wollte unbedingt telefonieren. Das konnte ich doch nicht zulassen“.
Mit einem wütenden Aufschrei wollte sich der unbekannte Mann auf Fredrickson stürzen. Doch dazu kam es nicht. Erneut beschrieb die Feuerwehraxt einen fatalen Kreis und mit einem grässlichen Knirschen und Knacken spaltete sie dem Mann mit einem Schlag den Schädel. Der Körper des Getroffenen stand noch einen Moment regungslos da. Dann knickten die Beine weg und er sackte im Zeitlupentempo zu einem grauenhaften, toten Bündel Mensch zusammen. Die Schreckensschreie der zwei Frauen und des anderen Mannes steigerten sich zu einem Stakkato der Panik.
Fredrickson Blick flackerte. Es schien nichts Menschliches mehr in ihm zu liegen, als er mit fast mechanisch erscheinenden Bewegungen Axt schwingend auf Meerwerts Lebensgefährtin zuschritt. Seine Mundwinkel zuckten, und Speichel troff daraus hervor, als er die Frau mit zwei schwungvollen Hieben zu Boden streckte. Auch das übrig gebliebene Paar hatte keine Chancen mehr. Nach wenigen Minuten erstarben auch ihr Kreischen und Flehen in einem röchelnden Gurgeln. Ruhe breitete sich in der Wohnung aus.
Als die Polizei, von besorgten Nachbarn alarmiert, die von den Schreien geweckt worden waren, etwa 15 Minuten später eintraf, bot sich ihnen ein Bild des Grauens.
Fünf schrecklich zerstümmelte Leichen lagen in ihrem Blut auf dem Boden des Wohnzimmers, dessen Einrichtung ebenfalls über und über mit Blutspritzern besudelt war. Mitten unter den leblosen Körpern kniete mit vor und zurück wiegendem Oberkörper Fredrickson. Das Haar hing ihm wirr um den Kopf, sein Blick war starr in die Ferne gerichtet. Aus dem leicht geöffneten Mund lugte die Zunge ein Stück heraus. Speichel tropfte ihm vom Kinn auf die Blut triefende Klinge der roten Feuerwehraxt, die vor dem Mann auf dem Boden lag.
Der erste Beamte, der das Wohnzimmer betrat, stieß ein ungläubiges, entsetztes Stöhnen aus. Mit einem würgenden Geräusch musste sich der Polizist übergeben.
„Mein Gott!“ rief er ächzend und wischte sich Erbrochenes vom Mund ab, „was ist denn hier passiert?“
Fredrickson hob den Kopf, als er die Frage vernahm, aber sein Blick verlor sich weiterhin in unbekannte Fernen.
„Ich habe sie nur gebeten, ruhig zu sein“, flüsterte er halblaut.
Dann ließ er seinen Kopf wieder sinken und verstummte, eine tragische Figur, in einem entsetzlichen Drama. Ein zerbrochener Geist.
 

Black

Mitglied
Hi Brandner,

der Anfang erinnert mich stark an eine Aufgabe, die mir
in einer Schreibschule gestellt wurde ;-))
Da dies hier eine gute Horror-Story ist, würde mich interessieren, wie sie beim Lektor angekommen ist.
Bißchen blutrünstig, aber gut zu lesen, finde ich..
Gruß,
B.
 

Brandner

Mitglied
Hallo B.

Erwischt! ;-)
Ja, die Ausgangssituation war tatsächlich die Aufgabe, aus einer faden, kurzen Alltagsbeschreibung etwas anderes zu machen. Der ursprüngliche Aufgabentext endete allerdings, als der Haupthandlungsträger das Beil in die Hände nahm, um seine Wohnung zu verlassen und für "Ruhe" zu sorgen.
Die Ausarbeitung des Themas an sich kam beim Kursleiter sehr gut an. Er animierte mich auch dazu, die Geschichte weiter zu entwickeln, was dann schließlich zum vorliegenden Text führte. Auch das Endergebnis fand eine gute Beurteilung, obwohl er das gar nicht hätte machen müssen, denn die Aufgabe an sich war ja abgeschlossen.
Sicher, ein wenig 'Blutrünstig' ist diese Sache ausgefallen. Wenn ich mir aber so in den Nachrichten ansehe, was alles zwischen Menschen geschieht und auch schon geschehen ist, dann jagt es mir selbst einen Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke, das die geschilderte Szene so durchaus passieren könnte.
Jedenfalls danke ich dir sehr für deine Meinung!
Gruß
Brandner
 



 
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