Bittere Enttäuschung

Bittere Enttäuschung
von Willi Corsten

Als ich neun Jahre alt war, schickte Mutter mich zu der Getreidehandlung, die in der Nähe des Elternhauses lag. Ich sollte dort Mehl kaufen.
Mit klopfendem Herzen marschierte ich durch den großen Torbogen, stieg die Treppe zur Laderampe hoch und gab meine Bestellung auf. Während der Meister das Mehl abfüllte, beobachtete ich interessiert die alte Walzenmühle, deren Rohre und Schächte sich wie die Arme einer Riesenkrake ins Halbdunkel der Halle tasteten. Im Hintergrund wurde das Getreide in die automatische Waage geschüttet, lief über den Elevator in den Vorreiniger, passierte die Schälmaschine und landete im Schrotstuhl. Der hölzerne Kasten begann ohrenbetäubend zu rattern, stampfte das Getreide klein und mahlte es zu feinem Mehl aus.
Einmal in der Woche verließ ein LKW den Betriebshof, bog in die kopfsteingepflasterte Hauptstraße ein und knatterte davon. Für uns Kinder war dieser Tag ein Ereignis, denn kurz nach dem Weltkrieg gab es ja kaum Automobile. In unserer Fantasie begleiteten wir den Fahrer in unbekannte Fernen und träumten davon, einmal mitfahren zu dürfen.
Für meine Freunde Paul und Rudi erfüllte sich dieser Traum, denn ihre Mutter hatte den Fahrer überredet, die Kleinen ins fünfzehn Kilometer entfernte Dorf mitzunehmen. Die Beiden schwärmten später von dieser Reise, und da wir nun oft auf dem Betriebshof spielten, setzte ich alles daran, es ihnen gleich zu tun. Eine ganze Woche lang machte ich mich im Lager nützlich, fegte den Boden, stapelte leere Säcke und erledigte Botengänge aller Art. Am Freitag - ich erinnere mich noch genau - stand der LKW wieder einmal an der Rampe und wurde beladen. Der Meister erzählte dem Fahrer, wie fleißig ich war. Nun lag es an mir, auch ihm zu beweisen, wie gut ich schon arbeiten konnte. Umsonst wollte ich ja nicht mitfahren, sondern eine echte Hilfe für ihn sein. Entschlossen nahm ich die Karre, wuchtete einen Getreidesack darauf und balancierte die viel zu schwere Last auf die Ladefläche. Meine Arme und Beine zitterten vor Anstrengung, doch aufgeben wollte ich auf keinen Fall.
Endlich war der letzte Sack verstaut. Der Fahrer eilte ins Büro und holte die Frachtpapiere. Ich aber kletterte freudig erregt ins Führerhaus und zwängte mich neben Paul und Rudi auf die Beifahrerbank.
Was dann folgte, war schlimmer als eine ganze Woche Stubenarrest. Der Fahrer setzte sich ans Steuer, legte den Gang ein und ruckelte los. An der Ausfahrt schaute er nach rechts und bemerkte erst jetzt, dass nicht zwei Kinder neben ihm saßen, sondern drei. Abrupt brachte er den Wagen zum Stehen und fauchte mich an: „Was willst du denn hier, du Bengel? Hoffentlich bist du bald draußen, sonst mache ich dir Beine!“
Wie ein geprügelter Hund schlich ich nach Hause, verkroch mich in den dunkelsten Winkel und weinte, wie ich lange nicht mehr geweint hatte.
 
L

leonie

Gast
hallo willi

da hast du dich so abgerackert, und die belohnung dafür ist bittere enttäuschung. am Ende habe ich fast mitgeweint. Auch passen die arme einer riesenkrake sehr. Diese geschichte von dir gefällt mir sehr.
ganz liebe grüße leonie
 
Liebe leonie,

vielen Dank für dein Lob.
Ja, das Erlebnis von damals sitzt tief. Wenn ich heute mit den Kindern meiner Geschwister eine Autofahrt mache, und einer von ihnen stöhnt: "Wann sind wir endlich da?" muss ich immer noch an meine Kindheit denken. Wir wären liebend gern bis ans Ende der Welt gefahren - wenn es denn möglich gewesen wäre.
So ändern sich die Zeiten.

Es grüßt dich lieb
Willi
 
L

leonie

Gast
hallo willi

das glaube ich dir gerne. auch wenn ich sehr viel später geboren bin, so hatten wir doch lange zeit kein auto. für uns war es immer ein erlebnis einfach irgendwohin fahren zu können. ich kann es gut nachfühlen.
ganz liebe grüße leonie
 
R

Rote Socke

Gast
Lieber willi,

hab mir den Text auf die Platte gezogen und lese erstmal in Ruhe.
Bis später

RP (Der rote Plattenzieher)
 
R

Rote Socke

Gast
Lieber willi,

nun wissen wir also wo die Krakenarme herkommen. ;)

So ein Erlebnis kann prägen und wird nicht mehr vergessen. Ja heute ist einfach zuvieles selbstverständlich geworden.

Dein Text sieht mir sehr druckfertig aus. Haste schön hingekriegt.

Wann gibt es noch mehr über Deine Jugend zu lesen?????
 
Dankeschön, Rote Socke,
über meine Kindheit kommen so nach und nach neue Erlebnisse in die LL, vor allem um die Weihnachtszeit.
Natürlich stelle ich immer nur einzelne Texte in ein Forum, denn die anderen wollen ja auch Platz darin finden.

Herzliche Grüße
Willi
 
R

Rote Socke

Gast
Ja willi,

ich freu mich schon. Hängt aber auch davon ab, wie sich die LL in den nächsten Tagen entwickelt.

Haste mal Lust in die Schreibwerkstatt zu kommen? Schau mal unter der Anthologie. Wir bräuchten noch einen wie Dich, der eine Aufgabe vorgeben kann. Bitte, bitte. :)

RS
 
Lieber Rote Socke,
bin schon unterwegs in die Schreibwerkstatt.
Mensch, das wäre ja toll, wenn wir dort endlich ernsthaft arbeiten könnten.

Bis bald
Willi
 
E

ElsaLaska

Gast
hallo willi,

danke für die riesenkrakenarme!
und: schreib bitte zweiter weltkrieg, du ärmster... sonst kommt man bezüglich deines alters auf falsche gedanken.

solltest du´nicht die herzlosigkeit des fahrers durch ein kleines detail schon vor der abfahrt ankündigen?
nur so ein gedanke...
liebe grüsse
elsa
 
Liebe Elsa,

der Witz mit dem 2. Weltkrieg ist gut. Ich komme gleich mit Rollstuhl und Blindenstock vorbei, um dir zu zeigen, wie jung ich noch bin.
Du sprichst die Herzlosigkeit des Fahrers an. Das war völlig normal damals. Ein Erwachsener war ein Halbgott, ein Kind dagegen ein Nichts. Wehe, du hast jemand nicht gegrüßt. Eine Ohrfeige war oft die Strafe dafür, wohlgemerkt, nicht von den Eltern, sondern von dem Betroffenen selbst.

Danke für dein reinschauen
beste Grüße
Willi
 

La Luna

Mitglied
Lieber Willi,

auch diese Geschichte gefällt mir wieder ausgezeichnet.
Ich würde wirklich zu gern wissen, warum der Fahrer derart roh war. Hast du jemals darauf eine Antwort erhalten?
Es wäre für ihn schließlich kein Opfer gewesen einfach weiter zu fahren.
Auf jeden Fall wird man am Ende der Geschichte ganz schön wütend.


Liebe Grüße
Julia
 
Liebe Julia,
auch dir ein Dankeschön für dein Interesse.
Wut auf den Fahrer? Habe ich auch. Immer noch.
Weißt du was interessant ist. Auf meiner letzten Lesung traf ich die jetzige Eigentümerin der Getreidemühle. Wir waren damals fast im gleichen Alter. Als sie die Geschichte hörte, (allein, nicht vor Publikum) entschuldigte sie sich für den Fahrer und sagte: "Willi, warum hast du dich damals nicht bei mir gemeldet? Mein Vater hätte dem Fahrer anständig Bescheid gesagt."
Nun ja, es ist vorbei. Die Erinnerung bleibt - und diese Geschichte, die ja sonst nicht entstanden wäre.

Es grüßt dich lieb
Willi
 

gladiator

Mitglied
Hallo Willi Corsten

Ja, die Welt ist grausam und gerade Erwachsene machen sich wenig Gedanken darum, was sie mit einer ihnen unwichtigen Entscheidung anrichten können. Ich glaube, das ist noch heute so.

Meine Anmerkungen:

Mit klopfendem Herzen marschierte ich durch den großen Torbogen Warum klopfend? Entweder warst Du damals das erste Mal da, was ich nicht glaube. Oder Du hattest immer eine Scheu oder Angst, durch den großen Torbogen zu gehen. In beiden Fällen bedarf das Klopfen meiner Meinung nach der Erläuterung.

Endlich war der letzte Sack verstaut. So lang war es doch gar nicht. Eigentlich nur zwei Sätze. Ich fände, die überkindliche Anstrengung müßte noch weiter ausgeführt und weiter verstärkt werden. So finde ich sie ein bißchen oberflächlich.

Eine Begründung für das Verhalten des Fahrers ist nicht notwendig. Warum auch? Er ist der Erwachsene und muß sich Kindern gegenüber nicht rechtfertigen.

Gruß
Gladiator
 
K

Kadra

Gast
Lieber Willi!

Ein trauriges Kindheitserlebnis, spannend, mitfühlend und in wunderschönen Worten erzählt.

Erlaube mir eine Anregung oder besser gesagt Idee, die mir beim Lesen kam: Wohl durch deinen Stil und auch durch die gewählte "Ich-Form" in der Erzählweise, stellte ich mir die Frage: Wem wird dies wohl erzählt? Ich stellte mir quengelige Enkel auf einer Fahrt in den Urlaub vor. Und zum Nachdenken und zur Ablenkung erlaubt ihnen ihr Großvater diesen Einblick in seine Kindheit. Wäre nach meinem Empfinden ein schöner Rahmen für deine Geschichte.

Lieben Gruss von

Kadra
 
Hallo Gladiator,
danke für dein Interesse.
„Mit klopfendem Herzen...“ Doch, ich war damals zum 1. Mal dort und hatte natürlich eine gewisse Scheu vor all dem Neuen.
„Endlich war der letzte Sack verstaut“ Ich finde, damit ist meine Vorleistung genug erklärt, zumal vorher von einer ganzen Woche arbeiten erzählt wurde, und von Botengängen.
Ist ja nur ein kurzer Text - und zu viel erklären ist eh von Übel. Der Leser will zwar unterhalten werden, aber unbedingt auch mitdenken.

Liebe Grüße
Willi
 
Liebe Kadra,
ich freue mich über dein aufmerksames Lesen.
Deine Anregung ist gut. Die Geschichte kann ich in der vorliegenden Form zwar trefflich an Schulen vorlesen, für eine Veröffentlichung im Buch könnte sie aber ein wenig umfangreicher sein.
Die Idee mit der Fahrt in den Urlaub, mit quengeligen Kindern usw. lässt sich dafür prima verwenden.
Herzlichen Dank. Steht schon in meinem Merkheft.

Es grüßt dich lieb
Willi
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
auch

ich gratuliere zu der gelungenen und sehr anrührenden geschichte. ja, so war das damals, man wurde grundlos gekränkt und konnte sich nur in seinem bett ausweinen. ich hatte immer das gefühl, daß alle erwachsenen miteinander im bunde sind, so abweisend verhielten sie sich. ganz lieb grüßt
 
Ja, oldicke,
du verstehst genau, was ich in der Geschichte sagen wollte.
Kein Wunder, hast ja oft genug über die gleiche Zeit berichtet.

Ich danke dir ganz lieb
Willi
 

Brigitte

Mitglied
Hallo Willi,

Bittere Enttäuschung, das kann man laut sagen, besonders für ein Kind, das all seine Kräfte hergibt, um dann so behandelt zu werden.
Eine traurige Erfahrung, ich hoffe, du hattest nicht allzu viele dieser Art.

Viele Grüsse
Brigitte
 



 
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