Bleibende Eindrücke

ThomasStefan

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Bleibende Eindrücke


Thomas Stefan


Zeternd versperrte sie Norbert den Weg, wie ein unüberwindbares Hindernis stand die alte Frau in der Garagenauffahrt. Sie stützte sich auf ihren Gehhilfen ab, die gerade erst mit neuen, rutschfesten Gummis ausgestattet worden waren. Immer wieder erhob sie drohend eine der Stützen, fuchtelte damit in seine Richtung. Ihr Sohn saß abfahrbereit auf seinen alten Roller, ließ ab und zu den Motor aufheulen. Er war wieder mal restlos bedient, wollte nur noch weg. Zu den Freunden, ein paar Bierchen. Das letzte Vergnügen im Leben, das ihm geblieben war.

Er könne seine alte Mutter nicht immer allein lassen, schimpfte sie. Erst vor drei Monaten sei er weg gewesen, und sehr spät und sturzbetrunken nach Hause gekommen. Dabei hatte er doch versprochen, die Volksmusiksendung heute mit ihr zu sehen. Natürlich wisse sie, dass sie diese Folge schon dreimal angeschaut hatten, aber es sei doch die mit Hansi Hintern-Schwer, und die dürfe sie auf keinen Fall verpassen. Und zum Schunkeln brauche sie jemanden. Das sei schließlich nicht zuviel verlangt!

Wütend gab Norbert immer wieder Gas, die kleine Maschine jaulte auf, gab die Antwort auf ihr Wehklagen.

Außerdem könne sie überhaupt nicht verstehen, fuhr sie unbeeindruckt fort, warum er sich mit seinen 45 Jahren abends auf der Straße herumtreiben wolle. Und immer würde er in der Kneipe zu landen, schlechte Gesellschaft sei das für ihn, einen üblen Einfluss hätten diese Leute. Komische Musik würde er danach zu Hause hören wollen, aus ihrem Radio! Das verbitte sie sich! Sie wisse schon, was gut für ihn sei. Der Papa hätte auch immer nur den Kopf geschüttelt. Und damals, kurz bevor er starb, ihm doch das Versprechen abgenommen, sich um die Mutter zu kümmern. Und zwar genau so, wie man es von einem guten Sohn erwarten könne! Das habe er wohl vergessen!!

„Verschwinde, geh mir aus dem Weg, ich habe sie Schnauze voll!“ brüllte er sie an.

Es kümmerte sie nicht, ihr Klagelied war noch nicht vorbei:
Ihm sei wohl alles egal. Wie könne er sie nur so enttäuschen! Sie warte nur darauf, dass er einmal mit einer Frau daherkäme, na, da wäre aber was los! Wer weiß, ob die mitschunkeln würde, das müsse er immer bedenken! Er solle jetzt endlich seinen Krachmacher abstellen und diese lächerlichen Lederkappe abnehmen. Sein altes Dreirad damals, dass war leise gewesen, und er hatte immer so niedlich darauf ausgesehen, mit der blauen Pudelmütze. „Und was ist heute aus dir geworden?“, bebte ihre Stimme. Widerspenstig sei er, würde ihr nichts gönnen!

Wütend riss er sich die Kopfbedeckung hinunter und warf sie ihr vor die Füße.

Sie schüttelte nur den Kopf. Dann kamen die Tränen, das war ihr letztes Mittel, Norbert kannte es zur Genüge.
Sie habe sie sich doch so sehr auf den Abend gefreut, das könne er ihr nicht antun, schluchzte sie, wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Na gut, sie sei ja nicht so, wurde sie versöhnlich, heute dürfe er auch ein bisschen länger fernsehen. Da käme doch immer dieses Homeshopping. Sie könne leider nicht mehr so gut sehen und erkennen, was man dort anböte. Es ginge wohl um arme Menschen, die kaum was anzuziehen hätten, und immer würde man Telefonnummern einblenden. Wenn er wolle, dürfe er heute ausnamsweise mal dort anrufen, und nicht heimlich wie sonst. Es wäre ja für einen guten Zweck. Aber jetzt müsse er endlich reinkommen!

Das war endgültig zuviel. Mit einem Wutgeheul drehte Norbert am Gasgriff, die kleine Maschine bäumte sich vorn auf und jagte auf die alte Frau zu. Sie erkannte sein Vorhaben, riss sie beide Gehhilfen hoch und hielt sie ihm entgegen. Mit den gummibewehrten schwarzen Enden sah es aus, als hätte sie eine doppelläufige Kanone auf ihn gerichtet. Sie gab nicht nach, und er würde bestimmt anhalten, er war doch ihr Junge. Außerdem würde die Sendung gleich beginnen.


xxx


Ungläubig schaute der Notarzt immer wieder auf das Gesicht des Verletzten. Ein Rollerfahrer und seine Mutter waren Opfer eines Verkehrsunfalls geworden. Tragischerweise hatte der Sohn sie überfahren, sie lagen nebeneinander auf den Ambulanzliegen. Ein beständiges Stöhnen erfüllte den Raum. Nein, es kam nicht von der alten Frau, obwohl ihre Verletzung viel schwerer war, immerhin ragte der abgebrochene Lenker des Motorrollers aus ihren Leib. Dennoch blickte sie ruhig, fast zufrieden an die Decke.

Das Stöhnen kam vielmehr von dem Rollerfahrer, und dessen Verletzung war außergewöhnlich. In der chirurgischen Ambulanz hatte man schon einiges gesehen, doch das hier war neu. Nicht die mehrfach gebrochenen, unnatürlich abgewinkelten Arme des Mannes waren das Besondere, sondern dieser spezielle Blick des Verletzten, den der Arzt nicht mehr vergessen würde. Beide Augenhöhlen waren von schwarzen runden Gummistoppern ausgefüllt.
 



 
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