Blinder Alarm.

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pleistoneun

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Wukk lag wie immer im Bett und sein starrer Blick markierte die Zimmerdecke. Aufgrund seiner Gebrechlichkeit war er ein liegender Patient, dem aber selbst nach Jahren der Bettlägrigkeit der Anblick des Blafonts nicht vertraut war. Er kannte weder nicht die braunen Flecken, nicht die feinen Haarrisse im Mauerwerk, noch den Kleiderschrank, das Waschbecken, das Personal. Wukk war blind, Altenheiminsasse und hasste das gesamte Krankenpersonal.

Er drehte sich im Bett zur Seite, es war ihm die letzten Tage auf dem Rücken ungemütlich geworden. Nun starrte der alte Wukk zum Fenster hinüber, und spürte die Wärme des späten Lichts vom Tag. Er roch den verbrauchten Sessel, auf dem sorgfältig alte Socken hingen, er erahnte die Heizrohre, die zu den Nachbarzimmern führten und er stellte sich die Tablettenschachtel auf seinem Nachttisch vor. "Morgens und abends 2x", würde in unleserlicher Arztschrift darauf notiert sein. "Zum Kotzen", äußerte sich Wukk laut. Über Mikrofone drang das Gesagte ins Ambulanzzimmer, woraufhin sofort zwei Pflegerinnen mit der Schüssel herbei eilten. Blinder Alarm! Wukk liebte dieses Spiel, er spielte den Sterbenskranken, die Schwestern stürmten herbei und fanden Wukk grinsend im Bett liegen. Sie spielten das Spiel seit seiner Ankunft 1967 - zum Ärgernis des gesamten Pflegepersonals. Der Kleinkrieg eines Senilen.

Wukk gedachte zu schlafen und erinnerte sich im Dämmerzustand an das Abkommen, das er mit sich selbst einmal in späten Tagen seines Lebens getroffen hatte. Da wollte er, wenn er stürbe, in den Himmel schauen. "Daraus wird wohl nichts", dachte er und schöpfte zugleich Hoffnung bei dem Gedanken, dass vielleicht da oben, im Himmel, im Paradies die Sonne so stark scheint, dass ein Schatten Helligkeit durch seine blinden Linsen dringen könnte und sich vielleicht irgendwo auf der Netzhaut ein Fleckchen erregen ließe, das diesen Lichtstrahl empfangen könnte und ..... Wukk öffnete seine Augen. Aber.... was war das? Er hätte gerne gesagt: "Ich traue meinen Augen nicht, aber ich kann sehen", doch es verschlug ihm vor Schönheit und unvorstellbarer Pracht die Sprache. Er sah das wunderschönste Strahlen, das er je vernommen hatte, doch es tat nicht weh in seinen müden Augen, stattdessen bereitete ihm das Licht eine wohltuende Behaglichkeit und ein Gefühl der Schwerelosigkeit, wie er es noch nie erlebt hatte.

Wukk war gestorben. Aber nur solange, bis die Reanimationsmaschinen ihn ins Leben zurück geholt hatten. Das Licht vor Wukks Augen erlosch, die Schwerelosigkeit wich den alten Sorgen und nie war er widerwilliger zu Bewusstsein gekommen als dieses Mal, jetzt, wo er gesehen hatte, dass es irgendwo da draußen sogar Licht für Blinde gibt. "Zum Kotzen", waren seine neuen Worte im alten Leben. Die Schüssel stand bereit und es sprudelte unkontrolliert aus Wukks Magen heraus. Eine dickliche, mit beiden Händen in die Hüften gestützte Krankenpflegerin stand daneben und meinte "kein falscher Alarm diesmal, was?". "Blinder Alarm, meine Liebe, blinder!", verbesserte Wukk mit letzten Kräften, ehe er endgültig ins Reich des ewigen Lichts abging. Er hatte es seinen Schwestern noch einmal gegeben und sogar das letzte Wort behalten. Angehörige meinten, sie hätten ihren Wukk zeitlebens nicht mit einem solch zufriedenen Ausdruck im Gesicht gesehen. Schön, wenn das Krankenpersonal weiß, wie man richtig mit Patienten umgeht. Wukk war von allen Sorgen erlöst und erahnt nun nicht mehr die Dinge aus Betthöhe, sondern sieht nun alles von sehr viel weiter oben. Alles Gute, Wukk!
 



 
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