Blitz

Chrissie

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Blitz

Sie kamen in der Berghütte an, endlich. Gabi war erledigt von der rüttelnden Zugfahrt, vom Schleppen der Taschen zur Seilbahn – in diesem dämlichen Kaff kannten die so etwas wie Taxis nur vom Hörensagen – dieses ganze Gezeter um das Asthma der Kleinen, das zu dieser tollen Reise geführt hatte, all das wuchs sich aus zu einer unerträglichen Last, die ihr ihrerseits den Atem abschnürte. Aber wen interessierte das schon? „Mama hat seit der Geburt nur noch Augen, Ohren und Gefühle für dieses Balg“, dachte sie, was für einen ihrer Sinne ließ sie noch für Gabi übrig? Keinen. Erwachsen sollte sie sein mit ihren neunzehn Jahren, erwachsen und nicht so egoistisch, wo die Kleine sich doch nicht wehren könne gegen so eine Große wie sie. „Nicht so egoistisch, pah! Das hab ich mir schon anhören müssen, als ich Mama damals gebeichtet hab, dass ich meine Regel bereits zum zweiten Mal nicht bekommen hab, danach hat sie mich zum Frauenarzt geschleift und im Anschluß daran haben mich alle aus der Familie fertig gemacht, als ich es wegmachen lassen wollte.“ Sie wollte dieses Ding in ihrem Bauch nicht, das sie sich übergeben und ihr Leben nur noch komplizierter machte. „Ich hab in der Schule sowieso Schwierigkeiten genug gehabt, keinen Plan, was ich später im Leben machen will, schlechte Noten und jeder Erwachsene hat auf mir `rumgehackt ich soll doch endlich mal Verantwortung für meine Zukunft übernehmen – wie mich das angekotzt hat, wenn sie mich doch endlich einfach mal in Ruhe gelassen hätten! Und dann das. Der Kerl, der mich wahrscheinlich dick gemacht hat, der war ein Player, aber das habe ich dumme Pute erst hinterher mitbekommen, der wollte mich nur ficken und dann war er schon wieder verschwunden, nicht mal `nen Nachnamen wusste ich von dem, nicht einmal seinen richtigen Vornamen, nur seinen Nickname. Weder Mama Frau Allwissend noch der doofe Frauenarzt haben mir gesagt, dass die Pille nicht wirkt, wenn man Dünnschiss hatte und wer verdammt noch mal liest wirklich diese verdammten Waschzettel? Klar, hinterher sind immer alle klüger. Und ich doofe Nuss, ich hab ja sowieso kein Recht auf `ne eigne Meinung gehabt.“ Solche Gedanken wälzten sich durch ihren Geist, während sie auf die beschlagenen Scheiben der Seilbahn starrte, ohne dahinter etwas zu sehen. Drei Jahre war die Kleine jetzt alt und Gabi immer noch ohne Schulabschluss und Ausbildung, hatte nach der Geburt: „So eine schmerzhafte Scheiß-Aktion!“, den Anschluss endgültig nicht mehr geschafft, hing immer nur zu Hause herum und sog gierig sämtliche Talkshows in sich auf, die das Privatfernsehen ihr tagtäglich lieferte – hatte sie schon kein eigenes Leben, dann doch wenigstens den Drang, etwas am Leben anderer zu partizipieren, wenn auch nur als Illusion - während ihre Mutter ständig um das Kind herumgluckte. Dann das Asthma der Kleinen, der Kinderarzt sagte, die Umweltverschmutzung in der Stadt sei schuld und das Kind müsse unbedingt eine Zeit lang an einen Luftkurort, weg von den Abgasen, am besten in die Berge. „Ja verdammt, aber doch nicht ausgerechnet im Winter!“, ihr Einwand wie immer unausgesprochen: „Ja, Mama, Du weißt wie immer alles besser (sich dagegen wehren bringt sowieso nix), man hat da auf keinen Fall warten dürfen, bis etwa die Krankenkasse sowas bezahlt (der Arzt hat doch irgendwie was in der Richtung gesagt, ich bin doch auch nicht total blöd), hast ja Recht, Mama.“, nein, ihre Mutter musste sofort handeln, wie immer. Da Geld nicht gerade reichlich vorhanden war, wie auch, nie hatte sie anderes erlebt, suchte man natürlich etwas Günstiges, ein Sonderangebot, so kam die Idee mit diesem Bergbauernhof, der Zimmer an Feriengäste vermietete. „Bauernhof! Eine elende Hütte!“, war das, was sich nach der Schlepperei von der Seilbahnstation zu der jämmerlichen Ansammlung verrotteter alter Häuser als ihr Reiseziel entpuppte.
Sie kamen also an. Die Mutter klopfte und eine alte verschrumpelte Frau öffnete die Tür. Was für eine Tür – zusammengenagelte alte modrige Bretter mit dicken rostigen Eisenbeschlägen, die schief aufschwangen. Genauso schief wie der Blick der Alten, die sie musterte und nach Mamas Erklärung, sie seien die angemeldeten Feriengäste, in einem Nicken mündete, in dessen Anschluss der dürre alte Leib die Türöffnung freigab und somit den Blick in einen dunklen Flur, an dessen Ende eine weitere offen stehende Tür Einsicht in eine Stube mit Kachelofen gewährte. Gegen das Wesen, das auf der Bank vor dem Kachelofen saß, war die Alte an der Tür noch als ausgesprochen jugendfrisch zu bezeichnen. Ein Wust aus über einander getragenen Strickjacken und Röcken, fast leer wirkend, hängte nicht darüber ein seltsam bräunlich gegerbter Lederapfel von Kopf, dessen zugehörigen Körper man vergeblich unter den Stoff- und Wollschichten zu erahnen suchte. Das einzig lebendige waren zwei eifrig sich bewegende Augen inmitten dieser unergründlichen Fläche aus Runzeln. Und der Gestank in der Hütte! Es stank nach aufgewärmtem Sauerkraut und ungewaschenen Haaren, dem Geruch alter Frauen eben. Gabi unterdrückte ein Seufzen. Sie hatte zwar nie so recht gewusst, was sie wollte, aber was sie nicht wollte, das wusste sie immer. Auf jeden Fall nicht mitten im Schnee auf einem einsamen Berg in der Kälte mit zwei müffelnden Greisinnen, ihrer Mutter und der ewig greinenden Kleinen eingesperrt sein! Mama verwöhnte das Kind zu sehr, das arme kranke Kind, den ungewollten Spross einer gar nicht mal so erfüllenden Liebesnacht, hektisch und voller männlicher Gier. Gabi hatte seine Küsse und seine zu hart zupackenden Hände über sich ergehen lassen, weil sie es nicht anders kannte und weil sie auch mit niemandem wirklich darüber reden konnte, wie es denn sein könnte, wenn es wirklich schön wäre. „Ich hab doch bloß gemacht, was alle tun, weil Jungfrauen sind genauso mega-out wie Schlampen, die es mit jedem treiben. Bin ich `ne Schlampe? Nein, ich konnte ja nicht wissen, dass der Kerl bloß zwei Wochen lang nett zu mir war, weil er mich ins Bett kriegen wollte. Das fiese Schwein hat mir sogar erzählt, dass ich das erste Mädchen bin, das er wirklich liebt und ich dämliche naive Kuh hab es natürlich geglaubt, einfach nur weil es so gut getan hat, dieses Gefühl, jemand Besonderes zu sein.“ Heute war sie nichts mehr, nicht mehr als ein benutzter Brutkasten für dieses Kind, das ihre Mutter mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit überschüttete, mehr Aufmerksamkeit, als Gabi erinnerte, je erhalten zu haben. Da waren sie nun also, sie in der Funktion eines Packesels, ihre Mutter und die Kleine und Mama fragte die Alte an der Tür, wo denn ihre Zimmer seien. Die Greisin deutete mit ihrem Kopf eine steile Stiege hinauf, während das Dörrobst auf der Ofenbank den Hals lang machte, um nichts zu verpassen. Die alten Weiber sagten die ganze Zeit kein Wort, Gabi dachte sich: „Vielleicht schämen die sich wegen ihres Dialekts oder die denken, die Preußen verstehen ja sowieso nichts, was wir sagen. Oder die Eingeborenen hier sparen einfach bloß Wörter, um bei der Kälte nicht zu viel warme Luft abzulassen, egal. Ich will nur noch in ein Bett fallen und tot sein, vielleicht hole ich mir später noch einen runter zum Einschlafen.“, andere Freuden erhoffte sie sich nicht von diesem grauenhaften Ort. Also schleppte sie die Taschen in die Kammern im ersten Stock, die für die nächsten vier Wochen ihr Zuhause sein sollten.

Anderntags mochte die Kleine Schlitten fahren und ihre Mutter überließ Gabi die Aufgabe, mit ihr zu gehen. „Ist schon komisch, immer wenn es wahrscheinlich anstrengend wird, dann kommt Mama mit den doofen Sprüchen über Mutterpflicht und dass ich mir die Kleine nicht entfremden darf und es ist doch mein eigen Fleisch und Blut und all solcher gequirlter Kacke!“, wütend und es nicht zeigend, damit es nicht wieder Ärger gäbe, zog sie der Kleinen den Schneeoverall an und die neuen Winterstiefel, den Schal, die Mütze, Handschuhe nicht vergessen und auf keinen Fall das Gesichtchen einzucremen: „Sonst zetert Mama wieder tagelang über meine Verantwortungslosigkeit...“. Der Rodelhang war ziemlich hoch und steil und das asthmatische Kind durfte natürlich nicht da hinauf laufen, sondern musste unbedingt auf dem Schlitten sitzend gezogen werden. Gabi keuchte diesen verdammten Berg hinauf, der Wind blies von vorn und trug Schnee in ihr Gesicht. Die Kleine plapperte die ganze Zeit irgendwelchen Kleinkindersabbel und Gabi wünschte sich weit weg an einen warmen Ort: „Florida müsste jetzt Klasse sein, da ist es warm im Winter hab ich in der Glotze gesehen in irgend so einem Reisemagazin. Aber das kann ich mir abschminken, jede übrige Mark wird in das Balg gesteckt.“; der Wind wurde stärker und brachte nun kleine Eisnadeln mit sich, die glühend in die Haut stachen: „Komisch, sind doch eigentlich kalt aber fühlen sich heiß an, die Dinger. Noch beschissener kann es nicht mehr werden“, dachte Gabi, da fing die Kleine an zu heulen: „Aua aua“, die Eisdinger pieksten die zarte babycreme-gefettete Haut: „Gabi, mach das weg“, „Mach was, sonst plärrt das Balg noch, wenn wir zurück kommen und Mama hält wieder einen Vortrag darüber, dass man mich nicht alleine lassen kann mit dem Kind, weil ich die kleinsten Kleinigkeiten nicht geregelt bekomme...“, also ließ sie sich auf alle Viere nieder und krabbelte, den Schlitten hinter sich her zerrend, nun als lebender Windbrecher den Berg hinauf, ihren Rücken vor dem Gesicht der Kleinen: „Gib bloß Ruhe. Bitte.“.

Es knallt. Ein Schlag reißt sie zu Boden, ein brennend heißer Schmerz fährt in ihren Nacken, in die Mulde rechts neben der Halswirbelsäule, bohrt sich von dort lähmend in all ihre Knochen. Sie hat das Zugseil losgelassen, die Kleine ist vom Schlitten gefallen und wühlt sich schrill kreischend aus dem Schnee. Der Schlitten liegt neben Gabis linker Hand und von dieser springen blaue Funken und kleine Blitze auf die eisernen Kufen über, geheimnisvoll knisternd wie Seidenpapier an Heilig Abend, und hüllen das Gefährt und sie in einen Schimmer aus morbidem Licht. Die Kleine schreit immer noch, sie klingt so weit entfernt. Gabi liegt flach auf dem Bauch und die Erkenntnis trifft sie wie ein zweiter Schlag: Ein Blitz hat sie getroffen! Sie spürt den Strom in ihrem Körper kreisen und weiß nur noch eines, sie will nicht sterben, warum hat es nicht das Kind erwischt, die Wurzel all ihres Unglücks, nein, sie will nicht sterben. Halb gelähmt, schafft sie es irgendwie und erinnert sich an den Physikunterricht, sie muss sich erden, Millimeter für Millimeter trotzt sie dem rasenden Schmerz in ihren Muskelfasern die Bewegung ab und steckt ihre nackte rechte Hand in den Schnee. Die Ladung strömt aus ihr wie Wasser aus einer geborstenen Steigleitung und gleichzeitig ihr Schrei, der wilde Schrei eines verwundeten Tiers.

Todesangst. Zugeschnürte Kehle, ihre Brust in einen immer enger werdenden Panzer gepresst, sie bekommt keine Luft, sie erstickt...

Gabi schüttelt sich und tastet im dunklen Bett nach dem vertrauten Körper neben ihr. So heftig hat sie schon lange nicht mehr geträumt. Im Halbschlaf nimmt er sie in seine Arme. Kein Trost. Zuviel Adrenalin. Die Stelle, an der im Traum der Blitz sie traf, schmerzt höllisch. Sie befreit sich aus der schlaftrunkenen Umarmung, schlüpft aus dem Schlafzimmer und hinaus auf den Balkon. Es ist fünf Uhr morgens, ein wundervoller Sommermorgen. Es hat nachts wieder geregnet, die Luft ist klar und frisch. Aus einer Wohnung des Nachbarhauses dringt laute Radiomusik. Sie saugt die Morgenluft in ihre Lungen wie eine vom Ertrinken Gerettete, dehnt und streckt sich. Der verrutschte Halswirbel springt mit lautem Krachen wieder an seinen Platz.

Nein, sie bereut es nicht, damals abgetrieben zu haben.

CMvM 2001
 



 
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