Blockade 1941/ 1944

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Suzie

Mitglied
Blockade 1941/ 1944
(Die Farben Totenblass und Sternenhell)


Im Eis
lebt keine Mikrobe deiner Seele mehr
*Die Bedrohung ist vorbei*

Vor drei Jahrhunderten
warst du mein angetrauter Lichtgemahl
Die Fackel aber stürzte sich
in den Ladogasee
verglühte dort

*vorüber, mein verzehrter Leningrader Prinz*

meine Würde?
Ach, welch leere Phrase
Sie müssten wissen, dass der Mensch in großer Not zu allem fähig ist.

Ich bin eine Bestie.
Das sagen sie alle.
Jawohl, ich bin ein Scheusal, ein Monstrum, ein grässliches Ungeheuer, eine ekelhafte Ausgeburt der Hölle, ein brutaler Schlächter.
Nun reden sie mir bloß nicht von Stolz.
Der Mensch, die edle Kreatur. Dass ich nicht lache. Eine Lüge, die uns da immer wieder eingeredet wird und die wir willfährig glauben.

Ich habe ihm sorgsam die Eingeweide entfernt und versucht, den Körper möglichst unversehrt zu lassen.
Er sah so wunderschön aus; selbst als er tot war, hatte er dieses eigenartige Leuchten im Gesicht. Der Mund leicht geöffnet; die Lippen waren ganz blass, fast schon bläulich verfärbt.
Ich habe ihn noch ein letztes Mal geküsst- auf seine weiße Stirn; wie zartes Elfenbein schimmerte seine Haut.

Ich habe ihn so geliebt. Mehr als sonst irgendetwas auf dieser tödlichen Welt. Deshalb wollte ich ihn auch nicht verscharren lassen, so wie man es mit allen Leuten machte. Die wurden im harten Dauerfrostboden der russischen Taiga begraben. Man hob ein flaches Loch aus, stieß ihre Leiber da hinein und warf die groben Erdklumpen auf ihre blauen Augen.

Warum sprechen wir hier eigentlich andauernd von Charaktergröße?

Aufgewachsen bin ich in einem kleinen Dorf am Meer. Nikolai lernte ich 1935 kennen, da war er 17 und ich 15. Er hat mir Libellen gezeigt; diese kleinen schillernden Flügel faszinierten mich vom ersten Tage an. Es gab eine Zeit, die war so sorglos und unbekümmert, so leicht und wolkenlos; es kommt mir vor, als läge dieses Leben lange hinter mir; als wäre es nur ein flüchtiger, angenehmer Traum gewesen, der einen manchmal kurz vor dem Erwachen noch wohlig ereilt und alle bösen Gedanken verscheucht.
Mein Geliebter war krank. Äußerlich von herrlicher Gestalt, aber innerlich zerfressen und ausgehöhlt. Er wusste um dieses Unglück und es quälte ihn unbändig.

Ich verlange nicht, dass sie mich verstehen. Aber ich bin keine Mörderin.

Sein Herz habe ich erst ganz zuletzt herausgetrennt. Dieses marode, unheilbare Stück Fleisch.
Nikolai hat oft geweint und ich wusste ihm nicht zu helfen. Können Sie sich vorstellen, wie ohnmächtig man sich fühlt, wenn sein Sternenbräutigam den Tod anfleht, er möge sich doch endlich erbarmen und Sie sitzen daneben und sehen diesem Körper zu, wie er sich windet, wie er im Fieber fast verglüht, wie er sich schindet und von Tag zu Tag kraftloser und gebrechlicher und erschöpfter wird und Sie können einfach nichts tun, um ihn zu retten, weil er sich allmählich weigert, diese Strapazen noch weiter aushalten zu müssen? Ich konnte doch gar nicht anders, was hätte ich denn tun sollen...

Stakkato. Abgehackte Wörter, abgehackte Arme.
Die Arme, seine Arme; zierliche, feingliedrige Hände, schlanke Finger- mein Spinnenkönig.
Ich musste lange seine Schultern betrachten und streicheln. Es war ein schwerer Entschluss; ich glaube im nachhinein, der schwierigste überhaupt.
Das Beil grub sich mühelos hinein, der Knochen splitterte. Ich hatte noch nie zuvor ein schrecklicheres Geräusch gehört. Als würde man mit einem Reibeisen über einen Stein fahren. Oder durch den knirschenden Schnee laufen. Oder im Frühjahr einem Krokus die Blüte herausreißen.

Verurteilen Sie mich ruhig. Tod durch den Strang. Was könnte mir denn besseres passieren?

Ich weiß, dass sie das nie begreifen werden. Ich wollte ihn mir einverleiben. Er sollte in mir zuende gehen. Was, wenn ich ihn tatsächlich irgendwo beerdigt hätte und nach wenigen Tagen über die Stelle, an der er liegt, schwere Panzer hinwegfuhren? Er wäre doch zermahlen worden; zerquetscht und das hätte ich mir nicht verzeihen können. Niemals.

Es wird wieder Frühling. Ein neuer, ein anderer. Und ich werde zum ersten Mal darin fehlen.
Wissen Sie, ich habe ein Stück von mir selbst dort an diesem öden Fleckchen Land gelassen, wo dies alles geschah. Ein Teil meiner Seele ist für immer in Leningrad. Manchmal habe ich fast eine richtige Sehnsucht danach; nach der schneidenden Kälte, dem Hunger, dem Kindergeschrei, den Tränen, dem Tod.

Lebt wohl. Irgendwie wünsche ich mir innig, dass ihr nie so etwas erleben müsst.
 
E

ElsaLaska

Gast
Hallo Suzie,

ich konnte beim Lesen dieses Textes kaum glauben, dass Du, laut Deinem Profil, gar nicht bei der Belagerung Leningrads dabei gewesen sein kannst.
Ich will dazu auch gar nichts sagen, ich habe meine eigenen Erfahrungen mit der Vergangenheit bei meinem letzten Besuch dort gemacht.
Aber es gibt sie noch, die Weissen Nächte, und die Menschen sind dann unruhig wie eh und je, sie wollen lieben und sie wollen trauern, wir haben getrunken, waren ausgelassen und haben Jessenin rezitiert.

Es war schön und es war traurig.

Dein Text ist sehr dicht, sehr intensiv.
Auch ich bin beeindruckt.


Lieben Gruss
Elsa
 

Suzie

Mitglied
Hallo ihr beiden
ich freu mich, dass euch der Text gefallen hat... ich hab lange überlegt, ob ich ihn veröffentliche... ich dachte, er ist vielleicht zu pathetisch... und er ist einer der wenigen Texte, die ich selbst von mir mag irgendwie...
von der Leningrader Blockade hatte ich mal kurz was im Geschichtsunterricht gehört und es ließ mich solange nicht los, bis dass ich darüber schrieb...
nein, ich war sicherlich nicht dabei, aber manchmal kommt es vor, dass einen geschichtliche Ereignisse so berühren, dass man meint, es nach- fühlen zu können... glaub ich...
Liebe Grüße
Suzie
 



 
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