Blut zu meinen Füßen

BLUT ZU MEINEN FÜßEN

Sie stieg missmutig über den blauen, regennassen Eimer, der am oberen Rand eingerissen war und irgendwo in dieser seltsamen Stadt auf dem Asphalt lag - weshalb, konnte sie sich nicht erklären….weshalb er dort lag, und weshalb sie über ihn stieg und ihn nicht einfach umging, den Eimer inmitten der Straße.
Vor einigen Minuten noch hatte sie in jenem winzigen Laden, über dessen Eingangstür 'Bürgerinformation' prangte, gestanden und sich nach Prospekten umgesehen, die sie mit ihrer neuen Heimat vertraut hätten machen sollen. Mit einer Heimat, in der scheinbar ununterbrochen Fäden farblosen, eisigkalten Regens vom Boden aufgesogen wurden – einem Schauer, den jeder zu meiden versuchte, indem er sich hinter kalkweißen Wänden verbarg. Wände, die allesamt identisch wirkten.
Schweigend verharrte sie, während ihr Blick über das glitt, was sie verloren geglaubt hatte –eine Welt mitsamt einer Natur. Insgeheim hatten sich ihre Erwartungen also bestätigt, zugleich jedoch im Nichts verloren. Einerseits hatte sie tatsächlich hinausgefunden, in diese Welt, in der sie sich neu erfinden konnte. Andererseits war das, was sie sah, nicht mehr jene Welt, die sie vor langer Zeit kennen gelernt hatte.
Eine Heimat, die klamm und trostlos war mit ihren triefenden Bäumen, breiten Alleen und dem grauschwarzen Horizont, der die Sonne dunkel erscheinen ließ. Die Bilder, die in den Prospekten abgedruckt gewesen waren, hatten weniger als die halbe Wahrheit erzählt, sie hatten von Freude, von Wärme, von Menschen gesprochen. Fazit: sie hatten eine Stadt geschildert, die diese in den Augen ihrer Bewohner sein sollte. Von der Stadt, die sie in deren Augen wohl sogar war.
Aber nicht für sie, ganz bestimmt nicht für sie.
Einem jähen Entschluss aus ebendiesem Grunde folgend, hatte sie die Prospekte wieder in die Regale der Information gepfeffert und war zu Fuß aufgebrochen, die Straßen zu erkunden. Die immerleeren, immerdüsteren Straßen. Was sie bisher gesehen hatte, hatte den ersten Eindruck nicht unbedingt verbessert.
Verschlimmert aber ebenfalls nicht. Denn die Gegend war ausdruckslos, ohne Kontraste, ohne Leben. Vielleicht hatte sie sich deshalb kurzerhand, quasi im Vorbeifahren, entschlossen, hierher zu ziehen – weil diese Stadt sie selbst widerspiegelte. Sie, die Leere, die absolut Naive, ein Vakuum auf menschlicher Basis - die Mörderin Chiara Andras, seit einigen Tagen sich selbst überlassen, völlig unkoordiniert in eine Welt geworfen, die sie nicht mehr kennen konnte, nach zehn Jahren Finsternis und schwarzen Gedanken.
Daher war sie auch auf die unliebsame Idee gekommen, in jener Bürgerinformation als vermeintlicher, hilfloser Tourist zu stöbern. Als hilflose, verunsicherte Mörderin, korrigierte sie sich. Eine schlechte Idee, wie sich im Nachhinein herausgestellt hatte. Eine weitere, die sie ihrer Sammlung jämmerlicher Ideen hinzufügen konnte.
Der Himmel über ihr spie unablässig und mit schier endloser Ausdauer Tropfen auf sie herab, die von ihren Haaren und dem Mantel abperlten, zu Boden und auf den blauen Eimer tropften.
Ja, sie fühlte sich dieser Gegend anverwandt, das versuchte sie überhaupt nicht zu leugnen.
Der Streifzug durch die finsteren Gassen kam einem Streifzug durch ihre Seele beunruhigend nahe.
Und bei aller Suche nach etwas Freundlichem in diesem regennassen, klammen Idyll einer Stadt war ihr ebendieser Eimer vor die Füße gekommen, weshalb und woher auch immer. Eine Hürde, sicher, eine Hürde, die sie beispielhaft überstiegen hatte. Wenigstens jene Frage, was sie sich beim Übersteigen des Eimers denn gedacht habe, hatte sich von selbst geklärt.
Sie bückte sich, um ihn an den Straßenrand zu stellen, - ihr war, als schuldete sie dem Plastik etwas – wobei ihr Blick auf einen winzigen Zettel fiel, der darunter verborgen gelegen hatte. Zerknautscht und voller Erdstückchen, die in ihrer Hand bröckelten. Auf dem schlammigen, bereits matschbraunen Papier konnte sie nur noch zwei Worte entziffern.
Nun gut, drei Worte, die sie entziffern konnte.
Als sie das Blatt neugierig umdrehte, fielen ihr einige Spritzer auf, die sich ins Blatt hineingesaugt hatten. Sie schnappte nach Luft, der Zettel landete im Nass unter ihren Füßen. Blut. Sie kannte sich damit aus. Zur Genüge. Diese Art dunkelsten Blutes weckte Erinnerungen in ihr, die sie nicht verleugnen wollte.
Sie griff rasch nach dem Papier, doch die Fasern rissen ob ihrer zittrigen Finger. Schnipsel um Schnipsel löste sich das Papier vom Untergrund, trennten sich die Buchstaben, verwischte das Wasser die Tinte. Sie richtete sich auf, streckte die Arme aus und betrachtete die beigen Fragmente auf ihrer Haut, unter ihren Nägeln. Der donnernde Regen wusch das ausgelöschte Pergament von ihren Händen und sie ließ es geschehen. Ein Zutun war unnötig. Was sie auch vermochte, nichts würde es mehr retten.
Als sie hinuntersah, schwamm ein hauchfeiner Belag auf der Pfütze, die vorhin noch vollkommen klar gewesen sein musste. Befleckt, dachte sie. Die Ironie ihres Lebens.
Sie schwieg. Minuten verstrichen. Sie prägte sich die Landschaft ein, die Straßenkreuzung, die leeren Balkone. Irgendwann drehte sie sich um und ging.
<Niemand wird je von dem Pergament erfahren>, sagte sie sich, Chiara, die Mörderin, <Niemand wird je von dem Blut erfahren, das zu meinen Füßen schwimmt, wenn ich dort stehe.> Denn sie wusste selbst nicht mehr, was wirklich war.
 



 
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