Blutiger Dschungel

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Clee Marker

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Angsterfüllt sitzt Mbuko zwischen den grünen Blättern inmitten des Strauches.
Fest drückt er Wiwi, sein geliebtes Meerschwein, an sein immer noch wie wild rasendes Herz. So schnell ihn seine kleinen, nackten Füße tragen konnten, ist er gerannt, ohne sich auch nur einmal umzuschauen. Im Schutz des nahegelegenen Waldes hofft er, unentdeckt zu bleiben. Schwester Johannas aufgeregte Rufe: „Lauft! Lauft so schnell und so weit weg, wie ihr nur könnt!“ ließ das gesamte Dorf panikartig die Flucht ergreifen. Die, die laufen konnten, verstreuten sich in alle Richtungen. Zurück blieben nur die Schwachen und die Alten.

Das Grauen hatte sich lautstark angekündigt. Sie streifen unüberhörbar johlend und grölend durch die Gegend; mit Drogen und Alkohol vollgepumpte Söldner. Weit und breit gefürchtet, plündern, vergewaltigen und morden diese blutrünstigen Bestien, ohne dass ihnen jemand Einhalt gebieten kann. Die meisten von ihnen sind nicht viel älter als Mbuko selbst. Das Land ist in tiefster Anarchie versunken.

Besorgt beobachtet Mbuko von weitem sein Dorf. Die Kerle, deren Waffen meist ein Bajonette aufgesteckt ist, dringen in die Hütten ein, zerschlagen wütend, was ihnen zwischen die Finger kommt. Sie schreien in ihrer Wut, nicht das vorzufinden, was sie suchen. Etwas Essbares und junge Frauen, die sie mit in den Busch schleppten. Er hatte es schon ein paar Mal gesehen, wenn die Mädchen dann wieder zurückkamen, waren ihre Kleider zerissen, sie schämten sich und mancher von ihnen lief Blut an den Beinen herunter.

Was wollten diese Unholde heute eigentlich noch finden? Sie hatten doch schon ihre Ziegen geschlachtet und jetzt begannen sie ihnen das Kleinvieh, die Hühner auch noch zu nehmen. Über ihre Maisvorräte hatten sie Benzin gegossen und es angezündet. Die Frauen trauten sich nicht mehr auf die Felder hinaus. Die Ernte vergammelte.

Er zuckt zusammen. Zwei von ihnen zerren Schwester Johanna auf den Dorfplatz. Sie stoßen sie vor sich her, treten sie mit ihren schwarzen Stiefeln, bis sie am Boden liegt. Ein langer, dünner Kerl mit nacktem, verschwitztem Oberkörper kniet sich zu ihr herunter und brüllt sie an. Er schreit genau in ihr Ohr: „Wo sind sie, du weiße, dreckige Schlampe! Wenn du nicht so alt und hässlich wärst, würde ich dir deine Kutte runterfetzen und dir meinen Schwanz reinjagen.“

Schwester Johanna kam aus der benachbarten Missionsstation von Kotongajo mehrmals in der Woche in Mbukos Dorf, um nach den Kranken zu schauen. Sie stammte aus einem fernen Land, wo die Erde, die Bäume und die Häuser der Menschen manchmal so weiß sein sollen, wie ihre Haut. Sie nannten es dort „Schnee“, hat sie einmal erzählt. Hin und wieder rief Schwester Johanna alle Kinder zusammen und unter dem großen Baum auf dem Dorfplatz setzten sie sich dicht gedrängt um sie herum und lauschten ihren Geschichten von diesem fernen Land.

Noch tiefer duckt er sich unter den Busch, in seinen Augen steht die Angst geschrieben, er zittert am ganzen Körper. Am liebsten würde er sich mit Wiwi in der Erde vergraben, nichts mehr von all dem sehen und hören. Wiwi war für ihn nicht einfach nur ein Meerschwein. Nein, es war sein bester Freund. Stets trug er es mit sich herum und abends, wenn er auf der harten Erde lag und nicht einschlafen konnte, streichelte er das weiche, warme Fell und erzählte ihm von seinen geheimsten Wünschen:

Er hatte schon so viel von Schwester Johanna über dieses ferne Land gehört. Dort wollte er eines Tages hingehen, denn dort konnten die Kinder ohne Angst spielen und er konnte da sicher auch ein Paar Schuhe bekommen. Er hatte noch nie Schuhe. Er kannte dieses Gefühl nicht, wenn man Schuhe an den Füßen hat. Aber er bewunderte Menschen, die Schuhe trugen. Einmal waren zwei Männer aus der Stadt mit Schwester Johanna in sein Dorf gekommen, um nach den Kranken zu sehen. Sie hatten schwarze Schuhe an, die sauber waren und die glänzten. Er hatte sie angestarrt. Sie mussten reich sein. Denn wer sich Schuhe kaufen konnte, hatte auch genügend zu Essen.
Als würden sich tausend spitze Dornen in sein Herz bohren, bleibt Mbuko vor Schmerz der Atem stehen. Er schaut verzweifelt auf die wutentbrannte Meute. Großvater! Über den staubigen Boden schleifen sie ihn aus der kläglichen Lehmhütte dorthin, wo Schwester Johanna immer noch von dem langen Dünnen festgehalten wird. Ein großes Messer blitzt auf und Mbuko sieht wie ein anderer Kerl es seinem Großvater, der wehrlos und gekrümmt daliegt, an den Hals drückt. Der Mann Mann mit dem Messer kneift seine Augen zu einem Schlitz zusammen und zischt: „Wenn du nicht sagst, wo sie sind, schneide ich ihm die Kehle durch.“

Nein, das darf er nicht zulassen. Er muss etwas tun. Sein Großvater war in den letzten Monaten immer mehr abgemagert. Oft hatte er Fieber und sein Husten glich nur noch einem Röcheln. Als er noch bei Kräften war, erinnert sich Mbuko, hat ihm der alte Mann oft geheimnisvolle Geschichten über die Geister der Ahnen erzählt, die nachts über die Menschen wachen und nur die Bösen mit unheilvollen Zaubern belegen. Wer z. B. andere bestahl, dem wurden bald die Hände so steif, dass er sie nicht mehr bewegen konnte und eines Tages sollten sie ihm sogar abfallen. Wo waren die Geister der Ahnen jetzt? Wo war ihr Zauber gegen diese widerlichen Männer in Uniform?

Mbuko erhebt sich entschlossen und verlässt das ihn schützende Gebüsch. Er hält Wiwi fest in seinen Händen, rennt los und ruft den Männern, die sich jetzt erstaunt nach ihm umdrehen, entgegen: „Lasst meinen Großvater in Ruhe! Er ist krank und schwach und er hat euch doch nichts getan!“ Er versucht sich schützend über den alten Mann zu werfen. Der mit dem blitzenden Messer packt ihn jedoch am Nacken und schleudert ihn zur Seite.

Dann entdeckt der lange Dünne, dass Mbuko ein Meerschwein bei sich hat. Er geht auf ihn zu: „Du kleiner Bastard,“ und greift nach Wiwi. Blitzschnell haben sich Mbukos Zähne in der Hand des Mannes festgebissen, der daraufhin vor Schmerz einen lauten Schrei ausstößt und im nächsten Augenblick seinen Arm zurückzieht. Der Messermann hat seine Waffe von der Schulter genommen. Er drückt ab.

Mbuko sackt zusammen. Zwei Schüsse haben ihn mitten in die Brust getroffen. Ihm wird schwindelig und Wiwi gleitet ihm aus den Händen, verschwindet hinter der nächsten Hütte. Er bemerkt, dass Schwester Johanna sich neben ihn kniet, ihre Hand unter seinen Kopf legt und ihm über sein kurzes, krauseliges Haar streicht. Dann tupft sie mit einem Zipfel ihres weißen Ordenskleides vorsichtig die kleinen Schweißperlen von seiner Stirn. Auf der Zunge spürt er eine warme, bittere Flüssigkeit. Es ist Blut, das jetzt aus dem Mundwinkel tritt. „Schwester Johanna,“ haucht er fast unhörbar, „wann nimmst du mich mit in dein Land? Ich möchte so gern die Erde sehen und die Bäume und die Häuser, wenn sie so weiß sind wie deine Haut.“

Johanna legt zart eine Hand auf seine Lippen. Er hört noch, dass er jetzt nicht sprechen soll. Der Nebel vor seinen Augen wird immer dichter und allmählich verblasst das Grün des nahegelegenen Waldes. Sein Atem wird flacher und sein kleines Herz hört auf zu schlagen, als die Sonne rotglühend hinter dem afrikanischen Dschungel untergeht.

(Congo im Mai 2002)
 
A

Arno1808

Gast
Hallo Clee,

'eine schöne Geschichte' kann ich nicht schreiben, denn dazu ist sie zu ernst und die Thematik zu aktuell.
Aber gut erzählt ist sie.

Was mich ein wenig verwirrt hat, ist der Wechsel in der zeitlichen Erzählperspektive zwischen Gegenwart und Vergangenheit. War das Absicht? Und wenn - warum?

Gruß

Arno
 

Clee Marker

Mitglied
Gegenwart und Vergangenheit

hallo Arno,
stimmt. wenn du es so sagst mit dem wechsel zwischen gegenwart und vergangenheit... ist mir noch gar nicht so aufgefallen. das sollte ich noch mal überarbeiten. was natürlich in der vergangenheit spielt oder worüber der junge nachdenkt, soll auch in dieser zeitform stehen, die handlung selbst jedoch in der gegenwart. um damit auch noch einmal zu verdeutlichen, es ist brandaktuell. es passiert heute! vor unseren verschlossenen augen! und nicht vor 10 oder 20 jahren!
danke für den tipp.

lieber gruß von Clee Marker
 



 
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