Brechtig

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george

Mitglied
Brechtig

Gesülz-Variation, der Weigelsche Tafelspitz,
und du den Saibling, wie er
am liebsten mit Bier.
Auf Kopfsteinpflaster unter Platanen
Geschichte deutschen Theaters.

Helenes Küche jetzt für Touristen,
im Hinterhof, staubig und heiß
wie draußen der holprige Gehsteig.
Die Straße nur noch im Namen Chaussee,
sonst hitzige Rennbahn von Friedrichs Palast.

Der Schaufensterladen, zerfallen
und kaum noch Courage,
heruntergekommen und leer.
Die Erben fast nicht erkennbar im Rost
am Briefkastenschlitz des dreckigen Tors.

Die Flüche, Weiber, Reime und Dramen
am Tresen-Gewölbe drinnen verflogen
und auf den Plakaten zerrissen.
Dein Restaurant drunten im Keller
bald nur noch Geschichte, Folklore.


2.8.2003
 

Vera-Lena

Mitglied
Die Zeit zerfrißt die Dinge

Lieber george,

die Umwelt bedeutender Autoren wieder aufzusuchen kann sehr enttäuschend sein. Da hält man sich besser an ihrem Werk fest.
Aber weil wir gerade von Berlin sprechen, mit dem E.Th.A. Hoffmann verhält es sich da anders. Er schaute aus seinem Fenster auf das Schauspielhaus auf dem Gendarmenmarkt, sah , wie es abbrannte und erlebte wohl noch, wie Schinkel es wieder aufgebaut hat. Und der Gendarmenmarkt gehört auch heute noch zu den schönsten Plätzen Europas. Schade, dass man ihn nicht in Gänze Fotografieren kann! Man kann einfach nicht so weit weg gehen, dass man genügend Abstand hätte.

Dein Gedicht einer räumlich vorrottenden Vergangenheit
wirkt sehr melancholisch und atmosphärisch dicht.

Liebe Grüsse Vera-Lena
 

george

Mitglied
Hi Vera-Lena, hi Otto,

fast durch Zufall bin ich da in das Wohnhaus und das Kellerrestaurant von Brecht gekommen. Wie winzig klein, wie spiessig die Umgebung doch dort war und ist. Und jetzt dort das Haus zu sehen, wie es verfällt, der Gehsteig aufgerissen und die Bagger überall am Arbeiten, ist ernüchternd. Was wohl Brecht dazu sagen würde?
"Mehr Courage!", vermutlich.

Jedenfalls haben Bier und der Weigelsche Tafelspitz geschmeckt.
 
B.B.

Hi george,

schönes Gedicht, apokryph,
Andeutungen, Aufscheinen vergessener Szenen,
zweimal "kaum" in der 3. Strophe,
Stolperstein oder bewusst?
Ich glaube, ich habe da mal was gelesen, in diesem Haus, wenn ich nichts verwechsle, Literaturforum im Brechthaus?,
oben sehr eigenes Ambiente, aber Brecht ist doch schon lange tot und zum Überdruss gelesen, dachte ich, wie auch immer, sehr schönes Gedicht. Prima!
 

george

Mitglied
Danke monfou,

die Wiederholung war durchaus beabsichtigt. Mit der Distanz von einigen Tagen betrachtet, hast Du aber Recht mit Deinem Änderungsvorschlag. Ohne Wiederholung ist's wirklich besser.

Danke!
 
Hallo George,
ein trauriger Nachruf auf Brecht und seine Werke. Noch ist es nicht so weit. Noch. Für mich wäre es unerträglich, wenn Brecht demnächst Folklore wäre...
Abgesehen vom Inhalt ist Dein Gedicht in Form und Sprache auch sehr gelungen.
Kompliment und herzlichen Gruß
Karl
 
F

Fettauge

Gast
Ja, trauriges Zeugnis für die "Kulturnation Deutschland".
Ich war vor Jahren da, damals waren alle Räume noch völlig intakt, ich durfte mich an Brechts Bibliothek bedienen, habe gestaunt, dass er dieselben Bücher hatte wie ich, und fläzte mich heimlich auf den Galilei-Stuhl. Spießig fand ich die Wohnräume nicht, ich würde sie bescheiden nennen; die Brechts hatten eben nicht den Koller so manchen mittelmäßigen Schreiberlings, der heutzutage mit Börne-, Lessing-, Goethe- oder sogar Nobelpreis geadelt wird. Das Bild, das du schilderst, passt sich gut ein in die Arroganz und den Hass gegen den Dichter Brecht, die auch noch heute kräftig gepflegt werden.

Als Gedicht selbst finde ich es nicht sonderlich berauschend, eher etwas monoton, reine Aufzählung, dein Blick scheint etwas eingegrenzt, mit Vorurteilen beladen, mein Eindruck von diesem Gedicht ist, du bist ohne jegliches Interesse und Verständnis für das Werk des Dichters dort eingetreten; es ist der Blick eines, der mal nachsehen wollte, wie der "Kommunistenfreund" so gehaust hatte, und nun enttäuscht ist, dass er keine goldenen Wasserhähne vorgefunden hat. Immerhin, du warst in der Berliner Privat-Wohnung eines Dichters von Weltrang. Ich verlange ja nicht, dass du dich nun auch an einem Gedicht von Weltrang versuchst, aber ein bisschen weniger spießig deinerseits hätte ich es schon gerne gehabt.

Liebe Grüße, Fettauge
 



 
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