Brief an einen alten Mann

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Im Sommer ´94 lebtest du in New Hampshire in dem Apartment unter dem von Frank und mir. Ich muss zugeben, Dein Name wurde von anderen Dingen in meinem Gedächtnis begraben, wenn ich ihn überhaupt je irgendwo aufgeschnappt habe. Das stört mich. Es kommt mir so vor, als müsse ich Dein Lied als ganzes singen, und dass das Vergessen eines Verses einer Sünde gleichkäme.

Du und Deine Katze sind in dem Lied miteinander verbunden. Vor dem Dunkelwerden hast Du sie auf dem ungeteerten Pfad, der unser Gebäude umrandete, immer spazieren geführt; eine dünne, schwarze Lederleine lag um ihren Hals. In der anderen Hand hieltest Du diesen kleinen Baseballschläger, einen von der Sorte, die man bei Homegames immer als Souvenir bekommt. Du hieltest die Katzenleine in der linken Hand und die Schläger in der rechten, bereit, als müsstest Du jeden Moment jemandem oder etwas eine damit eine verpassen. Was hast Du denn erwartet? Dass die Katze auf einmal durchginge? Einen Hund, der hinter ihr her wäre? Irgendeinen pubertären Kleinstadtpunk mit Baggypants, Irokesenschnitt und nichts Besserem zu tun, als einen alten Mann zu belästigen, der seine Katze spazieren führte? Während all der Zeit, in der ich Dich von meinem Küchenfenster aus beobachtete, konnte ich nie rausfinden, was es mit diesem winzigen Baseballschläger auf sich hatte.

Deine Katze war so ein dünner Steg, der uns verband. Sie begann, mich zu mögen und schlich sich oft nach oben, um sich auf meinem Schoss einzurollen und einzuschlafen. Die wenigen Male, als Frank und ich dich aus der Nähe sahen, waren, wenn Du hochgekrochen kamst, um sie zurückzuholen. Du hast immer geklopft aber unsere Antwort nie abgewartet, sondern hast einfach die Tür einen Spalt breit aufgemacht, deinen mit schütterem Haar und Leberflecken bedeckten Kopf hereingesteckt und mit einem starken Lispeln gerufen: „Komm her, Thylvethter... komm hierher, Baby!“

Sylvester. Welch ein Name für eine Katze, deren Besitzer lispelte?

Sie kam immer gleich zu Dir rüber und hinter Dir her, aber da war immer diese Spur von Furcht in Deiner Stimme, wenn Du nach ihr riefest. Als befürchtetest Du, dass dies der Tag sei, an dem sie Dich für einen Augenblick mit kalten, kaiserlichen Augen ansah, kurz mit dem Schwanz ausschlug und dann wieder wegsah, um ganz bei uns zu bleiben; als würde Dich von nun an nur noch ein Schläger auf Deiner Sonnenuntergangsrunde begleiten.

Dann war da noch Dein Auto: Ein verrosteter, zweifarbiger 64er Mustang mit drei fehlenden Radkappen und einer gesprungenen Rückscheibe. Die Karre sah beschissen aus, aber an den wenigen Tagen, an denen Du den Wagen fuhrest, grollte der Motor wie ein Dämon aus dem achten Kreis der Hölle. Und dann das Nummernschild: ELIMIN8R. Ich wünschte, ich wüsste, wie in Gottes Namen Du, ein alter, lispelnder Mann, der seine Katze an einer Leine um den Block führte, an so ein Auto und vor allem auf so ein Nummernschild gekommen war.

Ich war jung und der Überzeugung, dass Selbstmorde stattfanden, nachdem die Sonne unterging. Du zerstörtest diese Illusion, und so erging es uns, Deinen Nachbarn über Dir. Es war ein heißer, träger Sonntagnachmittag. Frank und ich waren kurz davor, miteinander zu schlafen, auf diese leichte, direkte Art und Weise, mit der junge, unbekümmerte Paare mit Sex umgehen, als zwei Polizeibeamte und ein Notarzt durch unsere Eingangstür gestürmt kamen. Sie warteten nicht, damit wir uns ankleiden konnten, sondern kamen ungehalten in unser Schlafzimmer. Fragten, ob einer von uns beiden verletzt wäre. Wir waren beide verwirrt und verängstigt.

Während ich ins Bad lief, um mir einen Bademantel überzuziehen, kniete sich einer der beiden Polizisten auf den Boden und rieb mit der Hand über den Schlafzimmerteppich. Frank fragte ihn, was er da täte. Sein Partner, der fast so alt aussah wie Du, erklärte, dass Du Dich erschossen hättest, und die Kugel durch Dich und in die Decke gedrungen sei. Es täte ihnen leid, so hereingestürmt zu sein, doch mussten sie doch davon ausgehen, dass die Kugel die Holzdecke durchdrungen und hier oben jemanden ernsthaft verletzt haben könne. Ich kam aus dem Bad und fragte die drei, warum der Krankenwagen so seelenruhig auf dem Parkplatz stand, auf den ich vom Badfenster aus heruntersehen konnte, und der Beamte wiederholte seinen Bericht. Ich schüttelte den Kopf. Warum beeilte man sich dann nicht, Dich ins Krankenhaus zu bringen? Und wie konnte eine Kugel überhaupt in Richtung der Decke geschossen werden?

Der Beamte wich meinem Blick aus. Wenige Minuten zuvor hatte er mich nackt gesehen – ein Mädchen, dass jung genug war, um seine Tochter sein zu können – und das hatte ihm irgendwie den Mut genommen, mir die Ballistik von selbstausgelösten Pistolenschüssen zu erklären. Mein Blick glitt von ihm zu Frank, der erst Luft holte, dann aber aus Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand eine Pistole formte und diese auf seinen geöffneten Mund richtete. Er wusste, ich hatte verstanden, als meine Unterlippe erzitterte und ich ohne ein weiteres Wort zurück ins Bad ging und die Tür hinter mir verschloss.

Ich kam für eine ganze Weile nicht wieder raus, auch nachdem die Männer gegangen waren, und so ging Frank nach unten, um in Deinem Apartment nachzusehen. Deine Tür stand offen, und Männer mit Latexhandschuhen gingen in Deinem Wohnzimmer auf und ab. Frank erzählte mir später, dass er zwar Deinen Körper nicht sehen konnte, ihm die Decke aber alles sagte, was er wissen musste. Die roten Schlieren und Gerinnsel hätten ihn an ein abstraktes, minimalistisches Experiment eines Kunststudenten erinnert. Ich konnte mir gut vorstellen, wie er bei diesem Gedanken kurz aufgelacht hat, und wie sich jeder der Beamten nach ihm umdrehte und ihn anstarrte. Frank verließ deshalb den Raum, bevor ihn jemand dazu aufforderte.

Da bemerkte er Deine Katze als felliges Bündel auf der Fensterbank am Ende des Flurs. Mit zuckendem Schwanz schaute sie zu, wie Fremde die Türschwelle übertraten, die vermutlich jahrelang von keinerlei Besuchern überquert worden war. Jemand würde sich um sie kümmern müssen, und Frank nahm an, dass ich sie bei uns aufnehmen wollen würde. Er und die Katze hatten sich nie besonders gut verstanden, aber als er auf sie zutrat, um sie aufzuheben, schmiegte sie sich gleich in seine Arme, wie ein verlorenes und verängstigtes Kind, das die Hand jeder freundlichen Person ergreifen würde.

Sylvester verbrachte jene Nacht in unserem Schlafzimmer, zusammengerollt am Fuß des Bettes. Sie sah zu, wie Frank und ich uns in langsamen, gleichmäßigen Bewegungen liebten.
 



 
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