Briefe als Reise

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memo

Mitglied
Du Lieber,

allein durch mein Schreiben bin ich bei Dir. Es geschieht mit mir. Keine bewusst gefasste Entscheidung, kein Drehbuch. Dies lässt mich auch etwas verloren sein, auf meinem Weg.
Ich werde Dir meine Gedanken senden, über all die Dinge, die wir besprochen haben.

Der „letzte Mensch“ so Nietzsche, wird sehnsuchtslos sein, kein Sternengebärer. Vielleicht aber, so denke ich, wird dieser Mensch, aber auch der mit der unstillbaren Sehnsucht sein, der unzählbare Sterne gebärende. So unendliche viele, dass er endlich satt wird. Ich möchte in diesen Sternen ertrinken, so voll sein davon, über und über- endlich gestillt sein.

Ich kann es nicht erzwingen zu schreiben, aber dadurch, dass der Wunsch danach immer in mir ist, passiert es sozusagen unterwegs. Und dadurch, dass alles darauf hinarbeitet, diesen Punkt zu finden, strahlt dieser Punkt, oft rückwirkend, auf alles aus und erzeugt wieder diesen Drang – in der Sehnsucht nach einem DU ...

Ich denke an Dich.

Die Deine




Du Lieber,

ich bin wieder ein bisschen da.
Ich habe heute einen spannenden Artikel gelesen. „Endlich“ hat ein Autor, er war früher im Flüchtlingslager, ein Buch mit dem Titel „Barmherzigkeit“ geschrieben.
Er schreibt auch:„Nur durch das Lachen überlebt man.“
„Der Mensch ist das einzige Wesen, das zum Lachen fähig ist und gleichzeitig lächerlich ist.“ So Michel de Montaigne. Wenn ich lachen kann, bin ich von meiner Schwere enthoben.

eine Spur im Sand

wie ein flüchtiger Gedanke

nur ein Ton der verklingt



die Seiten füllen

um irgendetwas festzuhalten

wenn alles vergeht



Sternfunken gleich

Du hast mich gefragt, warum ich von einer Nixe erzähle. Hast versucht, im Sinnbild dieses Wesens, meine Welt zu verstehen. Das war so einfühlsam von Dir. Danke. Ich sagte:
"Aber wenn die Nixe keinen Fischschwanz mehr besitzt, wenn sie menschliche Beine hat, dann muss sie am tiefen, dunklen Grund ertrinken..."
Ich fühlte in diesem Augenblick diese unbestimmte Angst sehr stark, ich war plötzlich von diesem kalten, tiefen, schwarzen Wasser umgeben und sah das Licht der Oberfläche nicht.

Ich bin manchmal in einem Garten. Ich schließe mit dem verzierten Schlüssel die alte Eisentür auf. Der Garten ist klein und etwas verwildert. Ich habe viele Samen gesät und es wachsen so unerwartet, ganz unbekannte Blumen in den erstaunlichsten Farben. Ich bin ganz betört von diesem Duft. Eine mit Moos bedeckte, mit Efeu verwachsenen Steinbank steht inmitten und "The Secret Garden" ist darauf eingraviert, wie in dieser hübschen englischen Geschichte. Kennst Du sie?
Es ist Frühling - die Pflanzen wollen nur Wasser, Sonne und ein feines Streicheln über die Blütenblätter, die wie Samt meine Haut bedecken, wenn ich im weichen Gras liege, die Augen geschlossen. Wenn ich Dich an der Hand nehme, können wir in den Teich darin eintauchen. Er ist klar und rein, kein Schlamm verdunkelt ihn. Das Wasser ist warm und wir sehen bis auf den Grund, wo Steine glitzern - wie Diamanten.

Schlaf gut und träum süß.

die Deine





Du Lieber,


Ach, wir Menschen handeln nicht nach unserer Vernunft, nicht nach unserem Verstand, selbst wenn wir dies glauben. Unser - ach so - rationales Wesen ist nichts wert, sobald wir geliebt werden wollen.

Wenn ich einmal sterbe, möchte ich auf ein Leben zurückblicken, in dem ich die Freiheit haben durfte, es harmonisch zu meinem Innersten zu gestalten. Und das Allerwichtigste ist:
Das Gefühl, Liebe gespürt zu haben und sie, vor allem, zu verschenken. Die Sterbeforscherin E. Kübler-Ross beschreibt dies als eine der letzten 3 Fragen, die sich ein Sterbender stellt. Habe ich Liebe gespürt und genug Liebe gegeben? Diese Sehnsucht habe auch ich bei den Sterbenden erlebt und die tiefe Verzweiflung, wenn dieser Mensch nicht fähig gewesen war, dies zu tun. Sterben ist leicht – leben ist schwerer.

Ich gehe nicht gerne auf diesen Friedhof.
Mein Bruder war Steinmetz. Er meißelte aus der glatten Oberfläche, den groben, rauen Stamm einer Trauerweide, die Äste und ganz fein, schließlich Zweig um Zweig, Blatt um Blatt. Der braun-melierte Marmor schimmert, mit goldenen Splittern, im Licht. Diesen Baum betrachte ich gerne - seine "Lebendigkeit" tröstet mich und die frischen Blumen in meiner Hand.

In meiner Hoffnung -
die Deine





Du Lieber,

Ich, die Du von oft langen Briefen kennst, bin in diesen Tagen ein wenig sprachlos geworden. Ich, aus der viele Briefe nur so "heraus geflossen" sind und der die Worte zuflogen, habe im Moment nur seltsame Gedankenfiguren, die einem titellosen Bild ähneln. Gedanken die so formlos sind, dass es einer eigenen Phantasiesprache bedürfte, um sie zumindest in ein abstraktes Gedicht zu bannen, das aber, gerade dadurch, niemand verstehen würde.

Vielleicht lebe ich einfach in einer Illusion, der Realität enthoben, in der alles möglich ist und in der ich Dinge erkenne, spüre, die mit den Augen nicht zu sehen sind - wenn die Gedanken, meine Wirklichkeit sind. Meine Hoffnung ist aber, gerade dadurch, wie ich in die Welt trete - sich diese Illusion des Glücks, zu einer Realität gestaltet, die sinnlich spürbar und fühlbar ist.

Ich habe nichts, als meine Briefe zu Dir. Meine einzige Zuflucht. Meine einziges „fort sein“.
Nur den Blick aus dem Fenster, habe ich, zu den verschneiten Baumästen und ein Spalt Himmel. Und manchmal wird mir ein schwarzer Rabe geschenkt, der sich in den Ästen wiegt oder ein Wind, der den Schnee zerstaubt.

Voller Sehnsucht -
die Deine





Du Lieber,

dein „Nachtzug nach Lissabon“ liegt neben mir. Ich lese nur das Wort „Nachtzug“. Immer wieder dieses Wort, das mich zu Dir führt. Nachtzüge schenken dem Reisen ein Träumen. Am Morgen bist du ganz in dieser neuen Welt. Eine Reise, weniger im Abteil – viel mehr in den Gedanken. Ich möchte mich nicht ablenken lassen, dieses Mal will ich es ertragen können, ganz bei mir zu sein.
Wenn Du vor mir stehst und mich aller Mut verlässt und ich doch bleibe, nicht fähig zu gehen. Wie kannst du auch in einer Stadt sein, in der man einfach nur bleiben möchte, auch wenn etwas, das von Bedeutung scheint, wieder fortzieht? Eine Stadt die alles in sich birgt, die ewig ist und nicht vergeht.

Dein „Tagebuch eines Verführers“ von Kierkegaard habe ich diese Tage gelesen. Die Briefe des Johannes, in dieser schönen Sprache geschrieben - in Dein, Deine und Mein, Meine. Kannst Du Dich an den Schluss erinnern? Der Unterschied der ästhetischen und ethischen Lebensform. Sein lieben, das der Liebe selbst gilt und nicht einem einzelnen Menschen:
"Warum kann eine solche Nacht nicht länger dauern? Doch nun ist es vorbei; ich wünsche sie nicht mehr zu sehen ... wenn ein Mädchen alles hingegeben hat, so hat sie alles verloren ...
nur so lange man ernstlichen Widerstand zu überwinden hat, ist es schön zu lieben; hört er auf, so wird die Liebe Schwachheit und Gewohnheit. Widerwärtig sind mir Weibertränen und Weiberbitten; ... ich habe sie geliebt; aber von nun an kann sie meine Seele nicht mehr beschäftigen. Wenn ich ein Gott wäre, so wollte ich für sie tun, was Neptun für eine Nymphe tat; ich würde sie in einen Mann verwandeln..." So weiter und so fort. Da muss doch die Cordelia ganz verstört sein - wenn sie zuvor seine Liebesbriefe las.
Wird es für uns eine andere Liebe geben, ohne diese erstickende Gewohnheit. Wir haben keine Zeit für den Alltag. Ist nur eine unerfüllte Liebe, eine romantische Liebe?

Irgendwie ist jede (wahre) Liebe wie ein eigener Kosmos. Die Liebenden sind die zwei Sterne dieses Universums, sie sind sich bewusst, wie zerbrechlich sie ist und wüschen sich, für sich, eine neue Liebe zu erfinden, die in die Ewigkeit strahlt.

Wie viele Stunden fährt der Zug? Eine Nacht lang.


Gute Nacht -
die Deine




Du Lieber,


Wieder habe ich ein Buch von Dir gelesen. „Das Verschwinden des Subjekts“ von Peter Bürger.
Henriette, deren Nachnamen wir nicht einmal kennen, wäre gerne Ehefrau und Mutter geworden, aber ihre Verhältnisse (sie war verarmt) haben es ihr nicht erlaubt. Aus der Ordnung der Geschlechter gefallen, erfährt sie sich als „Nichts“. In verzweifelten Briefen wendet sie sich an Rousseau mit der Bitte, ihr zu helfen, sich einen Platz zu suchen. Doch der Philosoph antwortet nur mit Verständnislosigkeit. So bleibt ihr am Ende nur das Verstummen und die lähmende Erfahrung des bloßen Da-seins. Anders als für Descartes ist für sie das „ICH BIN“ nicht triumphale Entdeckung einer Gewissheit, sonder bloß ein grammatischer Satz, den sie wohl nachsprechen kann, der aber keine Bedeutung für sie hat.

Wie vertraut ist uns das, später im 19 Jahrhundert, Aufgehen in den gesellschaftlichen Rollen der Ehefrau und Mutter, im Paradoxon von Hure und Heilige. Einzig in der Krankheit spricht das weibliche ICH, doch versteht es seine eigene Sprache nicht. Die Frauen schwinden dahin – Schwindsucht. Dieses Verschwinden scheint die große Erfahrung der Frauen zu sein. Dies ist auch mir nicht fremd. Die Macht des Verschwindens, die (in dieser Form) keine Todessehnsucht im eigentlichen Sinn ist. Es ist nicht der unbestimmte Wille zu gehen, sondern viel mehr, ganz im Gegenteil, die Sehnsucht wahrgenommen zu werden.

Dies ist alles eine Welt, die eine weibliche Handschrift trägt. Ich finde es sehr, sehr schön, dass Du diese Schrift nicht nur gerne entschlüsseln möchtest, sondern vielmehr ihr zuvor überhaupt die Stimme wünscht, die sich ausdrücken will, vor allem kann - und schließlich Gehör findet.

In Demut -
die Deine




Du Lieber,


darf ich Dir erzählen?

Mein Schreiben ist nichts anderes als ein Festhalten, damit irgendetwas bestand hat, wenn alles vergeht. Es ist nur ein hilfloser Versuch. Du siehst, meine Briefe an Dich, sind nicht nur die Sehnsucht bei Dir zu sein, sondern einfach ein Weg, das Leben ertragen zu können.
Deine Bücher helfen mir so sehr, das Lesen, das Begeistern für die Themen. Ich habe mich mit der Todessymbolik beschäftigt: Thanatos – dieser wunderbare Jüngling der Antike - Bruder des Schlafes. Seine Gestalt nimmt allen Schrecken. Er birgt etwas so Tröstliches in sich. Ich habe lange das Bild von William Waterhouse (1849-1917) betrachtet. Hypnos und Thanatos liegen so friedlich. Wer schläft nur eine Nacht, wer für immer?
Doch die Bilder in mir, tragen eine andere Sprache. Sie sind voll von Schmerzen. Sie sind voll von einem „nicht gehen wollen“.

Das Buch "Arbeit der Liebe" beeindruckt mich sehr. Ich denke, es ist stark zu spüren, dass Rose bald sterben muss, da sie schreibt was ist, nichts ausschließen will und kein Wort zu viel verschwendet. Ein so kleines Büchlein und irgendwie alles darin, was wichtig ist (und darüber hinaus sehr gescheites Philosophisches).

Dabei schreibt sie so viel vom Leben, nur davon, gerade darum. Und von der Liebe, in der für sie auch so viel Leiden war - das finde ich sehr traurig. Ich bin etwas trostlos - da ich mir eine Welt wünsche, in der die Menschen die Kraft finden könnten - glücklich zu sein.
Ich frage mich manchmal, warum Menschen schwer krank werden. Ich glaube, es ist nicht so sehr was ihnen widerfahren ist, sondern das was fehlt.

Du fehlst –
die Deine





Du Lieber,

warum begrüßt mich die Stadt nicht mit der Sonne? So viel Regen, so viel Kälte. Es macht mir Angst – das Wiedersehen. Wie wirst Du mich ansehen? Wirst Du mich freudig in die Arme schließen? Wirst Du mich erretten? Meine Reise ist nur in der Nacht. Nur ein Bettlaken hüllt mich zu. Der Nebel dringt nicht zu mir und doch ist es kalt.

Ich sitze da, den Brief schreibend, den ich nicht abschicke. So wie all die anderen auf meiner Reise zu Dir. Wenn ich das Band um all die Umschläge binde, wenn ich sie Dir überreiche, werde ich wissen, ob ich mein Ziel erreicht habe. Aber, so denke ich gerade, vielleicht liegt mein Ziel nicht darin, sondern vielmehr in der Hoffnung meine Reise in Dir vollendet zu wissen.
Die unstillbare Sehnsucht sättigen. Kann ich je satt sein?
Unsere Zerbrechlichkeit ist wie ein Kristall aus Eis, er ist in seiner Schönheit immer von der Vergänglichkeit bedroht.

Ich umarme Dich – darf ich das? Ganz scheu ...
die Deine





Du Lieber,


Ich habe gestern Nacht ein Interview mit G. Roth gelesen. Die Aussagen des Schriftstellers sind sehr fundamental. Weißt du, warum für ihn persönlich die Todesthematik so bestimmend ist?
Ich glaube nicht, dass Kunst und Kultur "stärker" sind als Liebe und Tod. Aber Liebe und Tod sind eine der stärksten Antriebe des Menschen, sich künstlerisch auszudrücken - und unsere Kultur ist tief von, wie soll ich sagen, Ritualen der Liebe und des Todes geprägt. "...Geschriebene Wörter sind die Gedanken selbst." Ja, das glaube ich auch.

Sie bekommen ein halbes Jahr Auszeit geschenkt und ein unbeschränktes Budget zur Verfügung gestellt. Wohin würde die Reise gehen?

"In mich selbst." Du meinst, dies könnte auch meine Antwort sein?

Ich habe gestern bei einem Klassentreffen, eine für mich sehr interessante Erfahrung gemacht. Eine Erfahrung, die mit meiner Selbsteinschätzung, meinem Selbstwertgefühl zusammenhängt und die mich ganz besonders auch in unserer Begegnung immer sehr verwirrt.
Die Diskrepanz zwischen meinem Gefühl, wie ich auf meine Mitschüler gewirkt habe und wie sie mich wirklich sahen, könnte größer nicht sein! Wie sehr sind wir durch/ in den "anderen"? (Ich muss an Sartre denken: „Die Hölle sind die anderen“) Wie sehr reflektieren wir uns durch ein "DU" - empfinden wir Freude und Glück (oder auch große Traurigkeit) durch ein "DU"? Können wir uns selbst auch lieben, ohne ein "DU"?

Im Du – ich freu mich auf Dich ...
die Deine






Du Lieber,


Das Gute an Briefen ist, dass man nur den Mut fassen muss, etwas aufzuschreiben und abzuschicken. Es gibt kein direktes Gegenüber, das reagieren kann. Keinen Blick, der zögern lässt und doch ist da sofort, kaum ist der Brief gesendet, die Unsicherheit. Wie kommen die Worte an? Bin ich zu weit gegangen? Ich liefere mich Dir ganz aus.
Es gibt kein Zurück mehr. Briefe können so vieles sein. Literarische Form oder ein Versuch „sich selbst zu finden“ – das immer aussichtslos bleibt. Wie soll man sich auf eine Suche aufmachen, zu etwas, das nicht zu bestimmen ist?

Immer bei Dir -
die Deine





Du Lieber,

Meine Reise zu Dir ist hier zu Ende. Es bleibt mir nur ein Warten. Ich werde warten, bist Du da bist – für mich. Ich kann nicht weg von hier.


Du,

dies ist mein letzter Brief. Dieses NIE hat eine Endgültigkeit, die mich stumm macht. Ich könnte einfach weiter schreiben. Briefe ohne Antwort. Briefe an ein DU, das unbestimmt ist. Wie Kierkegaards allgemeine namenlose Sehnsucht nach Liebe.
 
Nicht rasch auszuschöpfen

Sehr gehaltvoll, ohne Zweifel. Die Grundidee, in Briefen (die man nicht abzuschicken beabsichtigt)vor allem über neuere Leseeindrücke zu schreiben, ist ja hier relativ naheliegend. Was dem Abwesenden die Reise, sind der Schreiberin die Bücher. Mir scheint, vieles im Text bezieht sich auf diese ursprüngliche Konstellation oder entwickelt sie weiter. Es geht dann meist um Nähe - Ferne und wie man damit umgeht. Die mitgeteilte Kübler-Rosssche Beobachtung hat mich in diesem Zusmmenhang am meisten beeindruckt. Beim Stichwort "Verschwinden" fielen mir Leben und Werk von Robert Walser ein. Es gibt sogar eine Arbeit über ihn mit dem Titel "Die Idee des Verschwindens bei R.W:" - die ich allerdings nicht gelesen habe. Noch eine Parallele, die mir einfällt: Im Film "Hamam" schreibt eine Italienerin Briefe an eine mit ihr zerstrittene Schwester. Als die ersten ungeöffnet zurückkommen, schreibt die Verfasserin dennoch weitere und schickt sie nicht mehr ab. Die ganze Sammlung fällt nach ihrem Tod in die Hände des Neffen, der sie dadurch erst näher kennenlernt. - Arno Abendschön
 

memo

Mitglied
Du Lieber,

allein durch mein Schreiben bin ich bei Dir. Es geschieht mit mir. Keine bewusst gefasste Entscheidung, kein Drehbuch. Dies lässt mich auch etwas verloren sein, auf meinem Weg.
Ich werde Dir meine Gedanken senden, über all die Dinge, die wir besprochen haben.

Der „letzte Mensch“ so Nietzsche, wird sehnsuchtslos sein, kein Sternengebärer. Vielleicht aber, so denke ich, wird dieser Mensch, aber auch der mit der unstillbaren Sehnsucht sein, der unzählbare Sterne gebärende. So unendliche viele, dass er endlich satt wird. Ich möchte in diesen Sternen ertrinken, so voll sein davon, über und über- endlich gestillt sein.

Ich kann es nicht erzwingen zu schreiben, aber dadurch, dass der Wunsch danach immer in mir ist, passiert es sozusagen unterwegs. Und dadurch, dass alles darauf hinarbeitet, diesen Punkt zu finden, strahlt dieser Punkt, oft rückwirkend, auf alles aus und erzeugt wieder diesen Drang – in der Sehnsucht nach einem DU ...

Ich denke an Dich.

Die Deine




Du Lieber,

ich bin wieder ein bisschen da.
Ich habe heute einen spannenden Artikel gelesen. „Endlich“ hat ein Autor, er war früher im Flüchtlingslager, ein Buch mit dem Titel „Barmherzigkeit“ geschrieben.
Er schreibt auch:„Nur durch das Lachen überlebt man.“
„Der Mensch ist das einzige Wesen, das zum Lachen fähig ist und gleichzeitig lächerlich ist.“ So Michel de Montaigne. Wenn ich lachen kann, bin ich von meiner Schwere enthoben.

eine Spur im Sand

wie ein flüchtiger Gedanke

nur ein Ton der verklingt



die Seiten füllen

um irgendetwas festzuhalten

wenn alles vergeht



Sternfunken gleich

Du hast mich gefragt, warum ich von einer Nixe erzähle. Hast versucht, im Sinnbild dieses Wesens, meine Welt zu verstehen. Das war so einfühlsam von Dir. Danke. Ich sagte:
"Aber wenn die Nixe keinen Fischschwanz mehr besitzt, wenn sie menschliche Beine hat, dann muss sie am tiefen, dunklen Grund ertrinken..."
Ich fühlte in diesem Augenblick diese unbestimmte Angst sehr stark, ich war plötzlich von diesem kalten, tiefen, schwarzen Wasser umgeben und sah das Licht der Oberfläche nicht.

Ich bin manchmal in einem Garten. Ich schließe mit dem verzierten Schlüssel die alte Eisentür auf. Der Garten ist klein und etwas verwildert. Ich habe viele Samen gesät und es wachsen so unerwartet, ganz unbekannte Blumen in den erstaunlichsten Farben. Ich bin ganz betört von diesem Duft. Eine mit Moos bedeckte, mit Efeu verwachsenen Steinbank steht inmitten und "The Secret Garden" ist darauf eingraviert, wie in dieser hübschen englischen Geschichte. Kennst Du sie?
Es ist Frühling - die Pflanzen wollen nur Wasser, Sonne und ein feines Streicheln über die Blütenblätter, die wie Samt meine Haut bedecken, wenn ich im weichen Gras liege, die Augen geschlossen. Wenn ich Dich an der Hand nehme, können wir in den Teich darin eintauchen. Er ist klar und rein, kein Schlamm verdunkelt ihn. Das Wasser ist warm und wir sehen bis auf den Grund, wo Steine glitzern - wie Diamanten.

Schlaf gut und träum süß.

die Deine





Du Lieber,


Ach, wir Menschen handeln nicht nach unserer Vernunft, nicht nach unserem Verstand, selbst wenn wir dies glauben. Unser - ach so - rationales Wesen ist nichts wert, sobald wir geliebt werden wollen.

Wenn ich einmal sterbe, möchte ich auf ein Leben zurückblicken, in dem ich die Freiheit haben durfte, es harmonisch zu meinem Innersten zu gestalten. Und das Allerwichtigste ist:
Das Gefühl, Liebe gespürt zu haben und sie, vor allem, zu verschenken. Die Sterbeforscherin E. Kübler-Ross beschreibt dies als eine der letzten 3 Fragen, die sich ein Sterbender stellt. Habe ich Liebe gespürt und genug Liebe gegeben? Diese Sehnsucht habe auch ich bei den Sterbenden erlebt und die tiefe Verzweiflung, wenn dieser Mensch nicht fähig gewesen war, dies zu tun. Sterben ist leicht – leben ist schwerer.

Ich gehe nicht gerne auf diesen Friedhof.
Mein Bruder war Steinmetz. Er meißelte aus der glatten Oberfläche, den groben, rauen Stamm einer Trauerweide, die Äste und ganz fein, schließlich Zweig um Zweig, Blatt um Blatt. Der braun-melierte Marmor schimmert, mit goldenen Splittern, im Licht. Diesen Baum betrachte ich gerne - seine "Lebendigkeit" tröstet mich und die frischen Blumen in meiner Hand.

In meiner Hoffnung -
die Deine





Du Lieber,

Ich, die Du von oft langen Briefen kennst, bin in diesen Tagen ein wenig sprachlos geworden. Ich, aus der viele Briefe nur so "heraus geflossen" sind und der die Worte zuflogen, habe im Moment nur seltsame Gedankenfiguren, die einem titellosen Bild ähneln. Gedanken die so formlos sind, dass es einer eigenen Phantasiesprache bedürfte, um sie zumindest in ein abstraktes Gedicht zu bannen, das aber, gerade dadurch, niemand verstehen würde.

Vielleicht lebe ich einfach in einer Illusion, der Realität enthoben, in der alles möglich ist und in der ich Dinge erkenne, spüre, die mit den Augen nicht zu sehen sind - wenn die Gedanken, meine Wirklichkeit sind. Meine Hoffnung ist aber, gerade dadurch, wie ich in die Welt trete - sich diese Illusion des Glücks, zu einer Realität gestaltet, die sinnlich spürbar und fühlbar ist.

Ich habe nichts, als meine Briefe zu Dir. Meine einzige Zuflucht. Meine einziges „fort sein“.
Nur den Blick aus dem Fenster, habe ich, zu den verschneiten Baumästen und ein Spalt Himmel. Und manchmal wird mir ein schwarzer Rabe geschenkt, der sich in den Ästen wiegt oder ein Wind, der den Schnee zerstaubt.

Voller Sehnsucht -
die Deine





Du Lieber,

dein „Nachtzug nach Lissabon“ liegt neben mir. Ich lese nur das Wort „Nachtzug“. Immer wieder dieses Wort, das mich zu Dir führt. Nachtzüge schenken dem Reisen ein Träumen. Am Morgen bist du ganz in dieser neuen Welt. Eine Reise, weniger im Abteil – viel mehr in den Gedanken. Ich möchte mich nicht ablenken lassen, dieses Mal will ich es ertragen können, ganz bei mir zu sein.
Wenn Du vor mir stehst und mich aller Mut verlässt und ich doch bleibe, nicht fähig zu gehen. Wie kannst du auch in einer Stadt sein, in der man einfach nur bleiben möchte, auch wenn etwas, das von Bedeutung scheint, wieder fortzieht? Eine Stadt die alles in sich birgt, die ewig ist und nicht vergeht.

Dein „Tagebuch eines Verführers“ von Kierkegaard habe ich diese Tage gelesen. Die Briefe des Johannes, in dieser schönen Sprache geschrieben - in Dein, Deine und Mein, Meine. Kannst Du Dich an den Schluss erinnern? Der Unterschied der ästhetischen und ethischen Lebensform. Sein lieben, das der Liebe selbst gilt und nicht einem einzelnen Menschen:
"Warum kann eine solche Nacht nicht länger dauern? Doch nun ist es vorbei; ich wünsche sie nicht mehr zu sehen ... wenn ein Mädchen alles hingegeben hat, so hat sie alles verloren ...
nur so lange man ernstlichen Widerstand zu überwinden hat, ist es schön zu lieben; hört er auf, so wird die Liebe Schwachheit und Gewohnheit. Widerwärtig sind mir Weibertränen und Weiberbitten; ... ich habe sie geliebt; aber von nun an kann sie meine Seele nicht mehr beschäftigen. Wenn ich ein Gott wäre, so wollte ich für sie tun, was Neptun für eine Nymphe tat; ich würde sie in einen Mann verwandeln..." So weiter und so fort. Da muss doch das Mädchen Cordelia ganz verstört sein - wenn sie zuvor seine Liebesbriefe las.
Wird es für uns eine andere Liebe geben, ohne diese erstickende Gewohnheit. Wir haben keine Zeit für den Alltag. Ist nur eine unerfüllte Liebe, eine romantische Liebe?

Irgendwie ist jede (wahre) Liebe wie ein eigener Kosmos. Die Liebenden sind die zwei Sterne dieses Universums, sie sind sich bewusst, wie zerbrechlich sie ist und wünschen sich, für sich, eine neue Liebe zu erfinden, die in die Ewigkeit strahlt.

Wie viele Stunden fährt der Zug? Eine Nacht lang.


Gute Nacht -
die Deine




Du Lieber,


Wieder habe ich ein Buch von Dir gelesen. „Das Verschwinden des Subjekts“ von Peter Bürger.
Henriette, deren Nachnamen wir nicht einmal kennen, wäre gerne Ehefrau und Mutter geworden, aber ihre Verhältnisse (sie war verarmt) haben es ihr nicht erlaubt. Aus der Ordnung der Geschlechter gefallen, erfährt sie sich als „Nichts“. In verzweifelten Briefen wendet sie sich an Rousseau mit der Bitte, ihr zu helfen, sich einen Platz zu suchen. Doch der Philosoph antwortet nur mit Verständnislosigkeit. So bleibt ihr am Ende nur das Verstummen und die lähmende Erfahrung des bloßen Da-seins. Anders als für Descartes ist für sie das „ICH BIN“ nicht triumphale Entdeckung einer Gewissheit, sonder bloß ein grammatischer Satz, den sie wohl nachsprechen kann, der aber keine Bedeutung für sie hat.

Wie vertraut ist uns, später im 19 Jahrhundert, das Aufgehen in den gesellschaftlichen Rollen der Ehefrau und Mutter, im Paradoxon von Hure und Heilige. Einzig in der Krankheit spricht das weibliche ICH, doch versteht es seine eigene Sprache nicht. Die Frauen schwinden dahin – Schwindsucht. Dieses Verschwinden scheint die große Erfahrung der Frauen zu sein. Dies ist auch mir nicht fremd. Die Macht des Verschwindens, die (in dieser Form) keine Todessehnsucht im eigentlichen Sinn ist. Es ist nicht der unbestimmte Wille zu gehen, sondern viel mehr, ganz im Gegenteil, die Sehnsucht wahrgenommen zu werden.

Dies ist alles eine Welt, die eine weibliche Handschrift trägt. Ich finde es sehr, sehr schön, dass Du diese Schrift nicht nur gerne entschlüsseln möchtest, sondern vielmehr ihr zuvor überhaupt die Stimme wünscht, die sich ausdrücken will, vor allem kann - und schließlich Gehör findet.

In Demut -
die Deine




Du Lieber,


darf ich Dir erzählen?

Mein Schreiben ist nichts anderes als ein Festhalten, damit irgendetwas bestand hat, wenn alles vergeht. Es ist nur ein hilfloser Versuch. Du siehst, meine Briefe an Dich, sind nicht nur die Sehnsucht bei Dir zu sein, sondern einfach ein Weg, das Leben ertragen zu können.
Deine Bücher helfen mir so sehr, das Lesen, das Begeistern für die Themen. Ich habe mich mit der Todessymbolik beschäftigt: Thanatos – dieser wunderbare Jüngling der Antike - Bruder des Schlafes. Seine Gestalt nimmt allen Schrecken. Er birgt etwas so Tröstliches in sich. Ich habe lange das Bild von William Waterhouse (1849-1917) betrachtet. Hypnos und Thanatos liegen so friedlich. Wer schläft nur eine Nacht, wer für immer?
Doch die Bilder in mir, tragen eine andere Sprache. Sie sind voll von Schmerzen. Sie sind voll von einem „nicht gehen wollen“.

Das Buch "Arbeit der Liebe" beeindruckt mich sehr. Ich denke, es ist stark zu spüren, dass Rose bald sterben muss, da sie schreibt was ist, nichts ausschließen will und kein Wort zu viel verschwendet. Ein so kleines Büchlein und irgendwie alles darin, was wichtig ist (und darüber hinaus sehr gescheites Philosophisches).

Dabei schreibt sie so viel vom Leben, nur davon, gerade darum. Und von der Liebe, in der für sie auch so viel Leiden war - das finde ich sehr traurig. Ich bin etwas trostlos - da ich mir eine Welt wünsche, in der die Menschen die Kraft finden könnten - glücklich zu sein.
Ich frage mich manchmal, warum Menschen schwer krank werden. Ich glaube, es ist nicht so sehr was ihnen widerfahren ist, sondern das was fehlt.

Du fehlst –
die Deine





Du Lieber,

warum begrüßt mich die Stadt nicht mit der Sonne? So viel Regen, so viel Kälte. Es macht mir Angst – das Wiedersehen. Wie wirst Du mich ansehen? Wirst Du mich freudig in die Arme schließen? Wirst Du mich erretten? Meine Reise ist nur in der Nacht. Nur ein Bettlaken hüllt mich zu. Der Nebel dringt nicht zu mir und doch ist es kalt.

Ich sitze da, den Brief schreibend, den ich nicht abschicke. So wie all die anderen auf meiner Reise zu Dir. Wenn ich das Band um all die Umschläge binde, wenn ich sie Dir überreiche, werde ich wissen, ob ich mein Ziel erreicht habe. Aber, so denke ich gerade, vielleicht liegt mein Ziel nicht darin, sondern vielmehr in der Hoffnung meine Reise in Dir vollendet zu wissen.
Die unstillbare Sehnsucht sättigen. Kann ich je satt sein?
Unsere Zerbrechlichkeit ist wie ein Kristall aus Eis, er ist in seiner Schönheit immer von der Vergänglichkeit bedroht.

Ich umarme Dich – darf ich das? Ganz scheu ...
die Deine





Du Lieber,


Ich habe gestern Nacht ein Interview mit G. Roth gelesen. Die Aussagen des Schriftstellers sind sehr fundamental. Weißt du, warum für ihn persönlich die Todesthematik so bestimmend ist?
Ich glaube nicht, dass Kunst und Kultur "stärker" sind als Liebe und Tod. Aber Liebe und Tod sind eine der stärksten Antriebe des Menschen, sich künstlerisch auszudrücken - und unsere Kultur ist tief von, wie soll ich sagen, Ritualen der Liebe und des Todes geprägt. "...Geschriebene Wörter sind die Gedanken selbst." Ja, das glaube ich auch.

Sie bekommen ein halbes Jahr Auszeit geschenkt und ein unbeschränktes Budget zur Verfügung gestellt. Wohin würde die Reise gehen?

"In mich selbst." Du meinst, dies könnte auch meine Antwort sein?

Ich habe gestern bei einem Klassentreffen, eine für mich sehr interessante Erfahrung gemacht. Eine Erfahrung, die mit meiner Selbsteinschätzung, meinem Selbstwertgefühl zusammenhängt und die mich ganz besonders auch in unserer Begegnung immer sehr verwirrt.
Die Diskrepanz zwischen meinem Gefühl, wie ich auf meine Mitschüler gewirkt habe und wie sie mich wirklich sahen, könnte größer nicht sein! Wie sehr sind wir durch/ in den "anderen"? (Ich muss an Sartre denken: „Die Hölle sind die anderen“) Wie sehr reflektieren wir uns durch ein "DU" - empfinden wir Freude und Glück (oder auch große Traurigkeit) durch ein "DU"? Können wir uns selbst auch lieben, ohne ein "DU"?

Im Du – ich freu mich auf Dich ...
die Deine






Du Lieber,


Das Gute an Briefen ist, dass man nur den Mut fassen muss, etwas aufzuschreiben und abzuschicken. Es gibt kein direktes Gegenüber, das reagieren kann. Keinen Blick, der zögern lässt und doch ist da sofort, kaum ist der Brief gesendet, die Unsicherheit. Wie kommen die Worte an? Bin ich zu weit gegangen? Ich liefere mich Dir ganz aus.
Es gibt kein Zurück mehr. Briefe können so vieles sein. Literarische Form oder ein Versuch „sich selbst zu finden“ – das immer aussichtslos bleibt. Wie soll man sich auf eine Suche aufmachen, zu etwas, das nicht zu bestimmen ist?

Immer bei Dir -
die Deine





Du Lieber,

Meine Reise zu Dir ist hier zu Ende. Es bleibt mir nur ein Warten. Ich werde warten, bist Du da bist – für mich. Ich kann nicht weg von hier.


Du,

dies ist mein letzter Brief. Dieses NIE hat eine Endgültigkeit, die mich stumm macht. Ich könnte einfach weiter schreiben. Briefe ohne Antwort. Briefe an ein DU, das unbestimmt ist. Wie Kierkegaards allgemeine namenlose Sehnsucht nach Liebe.
 

memo

Mitglied
Hallo, lieber Arno Abendschön,

Danke für Deine Auseinandersetzung mit meinem Text.
Den Hinweis auf die Arbeit "Die Idee des Verschwindens bei R. Walser"-
finde ich sehr interessant. Wie schwer zu erraten -
bin ich sehr wissbegierig auf gute Bücher.
Auch wenn "die Briefe" fiktiv sind, so sind sie doch ganz voll von mir -
darum auch im Tagebuch.

Liebe Grüße
memo
 



 
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