Bruderherz

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kuehen

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Ich bin vor zwei Monaten sechsundzwanzig geworden doch ich fühle mich, als wäre ich vierundfünfzig. Vierundfünfzig und deprimiert. Ich fühle mich wohl eher so, wie ein Vierundfünfzigjähriger, der sich wie ein Dreiundsiebzigjähriger fühlt- nur ohne die Ahnung, dass es bald vorbei sein wird und ohne die Gewissheit, dass das Leben schön, erfüllt oder geeignet für Feiern irgendwelcher Art sein mag. Ich muss Ihnen dies erzählen, weil Sie mich sonst nicht verstehen könnten und vielleicht können Sie es trotzdem nicht. In der Tat bin ich mir alles andere als sicher, dass irgendetwas in meinem Leben, das ich gezwungener Maßen so leben muss, wie ich es lebe, geeignet ist, von Irgendjemanden verstanden zu werden.
Denken sie nicht, dass mir wenn ich dies schreibe, die Tränen hinablaufen, oder ich einen Kloß im Hals habe- nein, dass wäre vielleicht vor einigen Jahren so gewesen- vor drei Jahren, um genau zu sein- damals, als meine Eltern starben und mich mit meinem Bruder, dem despotischen Idioten, zurückließen. ?Wie, ihre Eltern sind beide tot??, ?Sicherlich ein Unfall?? und ?wie, ihr Bruder ist ein Idiot? Ein despotischer sogar??, werden Sie jetzt sicher denken und damit alle Fragen stellen, auf die jedes Rindvieh ohne Überlegung kommen kann- aber ihre Fragen werde ich ihnen trotzdem beantworten.
Ja, unsere Eltern sind tot und nein, sie starben nicht zusammen bei einem Unfall, wurden nicht auf einen Schlag von einem Betrunkenen ins Jenseits gerammt. Sie starben vor drei Jahren, innerhalb von zwölf Tagen, an verschiedenen Krankheiten, sogar in verschiedenen Krankenhäusern, weil sie solche speziellen Krankheiten hatten, dass sie in speziellen Krankenhäusern, von speziellarisierten Ärzten, hilflos beim sterben beobachtet werden mussten und ich von einem Ende der Stadt zum anderen fahren musste, um ebenfalls hilflos zu sein.
Ich werde Ihnen die ganze Geschichte erzählen, wie meine Eltern starben und welche Rolle ich dabei spielte. Vielleicht haben sie dann eine Ahnung, in welcher Zwischenwelt ich lebe. Mein Vater erkrankte als Erster, und obwohl meine Mutter zu diesem Zeitpunkt schon wusste, dass etwas in ihr wuchs, sagte sie nichts. Ich glaube, sie wusste, dass sie sterben würde, noch bevor wir meinen Vater ins Krankenhaus brachten. Meine Mutter besuchte ihn jeden Tag. Als sie selber ins Krankenhaus musste, telefonierte sie jeden Tag mit ihm. Sie sagte nichts von ihrer Krankheit, schon gar nicht, dass auch sie im Krankenhaus lag, oder, dass sie sterben würde. Sie log ihn an. Sie wäre auf Dienstreise und als die Zeit der Dienstreise vorbei war, log sie, dass sie sich unterwegs erkältet hätte, dass sie nicht zu ihm kommen könnte, ohne ihn zu gefährden. Bazillen und so. Ich fuhr an ihrer Stelle zu ihm, und danach fuhr ich zu ihr. Sie telefonierten ständig miteinander. Manchmal wenn ich an einem ihrer Krankenbetten saß. Dann wurde meine Mutter zu schwach zum reden, sie schaffte es aber, jeden Tag wenigstens zwei, drei Zeilen auf gelbes Papier zu schreiben und mir den Brief mitzugeben. Er solle sich keine Sorgen machen, sie könne nur nicht sprechen, weil diese lästige Erkältung, ihre Stimmbänder angegriffen hätte. Und ich log meinen Vater an. Beschrieb ihn, dass Mutter wie eine stumme Königin zu hause auf der Couch lag und ihr kleines Reich bis zur Rückkehr des Königs verwaltete. Natürlich drückte ich es nicht so aus, ich sagte, wir kämen zurecht, aber im Grunde war es das was er hören wollte, dass seine Königin ihr gemeinsames Reich verwaltete. Vielleicht hätte er auch gerne gehört, dass sie ohne ihn nicht klarkam. Dann wurde meine Mutter zu schwach zum schreiben und ich schrieb an ihrer Stelle. Es war leicht, ihre Schrift zu kopieren, besonders, weil durch ihre Krankheit die letzten Briefe, die sie selber schreiben konnte, verzittert waren. Meistens schrieb ich die Briefe im Bus, auf dem Weg von einem Ende der Stadt zum anderen. Mit dem Geruch von Desinfektionsmitteln an mir und dem Bild meiner Mutter mit diesem Schlauch in der Nase. Ich schrieb dann, dass die Blumen, die er ihr geschickt hatte, wundervoll rochen. Natürlich hatte er ihr keine Blumen geschickt, er war aber dankbar, als ich ihm sagte, dass ich ihr welche gebracht hätte, weil er doch schlecht zum Blumenladen gehen konnte, scherzte ich (natürlich hatte ich weder Blumen gekauft, noch sie seiner Frau geschenkt). Er schrieb ihr jeden Tag zurück und als meine Mutter ins Koma fiel, blieb ich an ihrer statt im regen Briefwechsel mit ihm. Dann verlor er sein Augenlicht, und ich ersparte mir, die Briefe wirklich zu schreiben. Ich drückte ihm Zettel in die Hand, die ich unten im Flur eingesammelt hatte (Hinweise für eine Diabetes-Früherkennung, Vitaminwerbung, eine Seite aus ?Bild der Frau?, der Speiseplan eines Essen auf Rädern- Unternehmen, alles, was sich als Brief verkaufen ließ) und ich erfand die Texte der Briefe in dem Moment, in dem ich sie ihm vorlas. Manchmal bat er mich, eine bestimmte Stelle noch einmal zu lesen, weil er sie so schön fand und ich erzählte etwas ganz anderes. Ich glaube, die Schmerzmittel setzten ihm ganz schön zu. Dann starb er und ich hörte auf, Briefe zu schreiben. Am ersten Tag nach seinem Tod, setzte ich mich aus purer Gewohnheit in den Bus, der zu seinem Krankenhaus fuhr, ich stieg nach einer Stadion aus und heulte.
Ich besuchte meine Mutter nur noch jeden zweiten Tag, weil ich mich um meinen Bruder kümmern wollte, ich holte ihn aus der 24 Stunden Unterbringung ab, wo sie ihn mit Medikamenten ruhig gestellt hatten, ich brachte ihn nach Hause und sah zu, wie er langsam zu sich kam. Dann verwüstete er sein Zimmer und biss mir den kleinen Finger der linken Hand ab. Mein Bruder ist aggressiv gegen andere und gegen sich selber. Meine Theorie ist, dass seine Schwelle, an der er beginnt, andere Menschen wahrzunehmen, sehr hoch ist, was den Aktion/ Reaktion Wert mit dem er die Welt behandelt verdammt weit nach oben treibt. Ich schlug ihn bewusstlos und wenn sie denken, dass wäre überregagiert, kommen sie uns einmal besuchen.
Bei meinem Vater auf Station gab es zwei Ärzte. Einen jungen, braungebrannten Mann und eine etwas kränkliche, ältere Ärztin. Ich war froh, wenn ich mit ihr reden konnte. Ich fühlte mich dann weniger mies. Am Tag als mein Vater starb war ich bei ihm und sah ihm zu. Später redete der braungebrannte, Vitaminpillendoktor in seinem Büro mit mir. Dr. Breitholz oder so. Als meine Mutter starb bekam ich nur einen Anruf. Weiß der Geier, was ich da fühlte. Gott, nun da ich es aufschreibe, erscheint es mir, als wäre das in einem anderen Leben passiert- also schon mir, aber irgendwie doch nicht...alles was blieb war ich und mein Bruder. Mein geistig behinderter Bruder, mein nervig geistig behinderter Bruder.
Verabschieden sie sich schon mal von der Vorstellung, das geistig Behinderte, lieb, nett und so pflegebedürftig sind, dass ihnen eine Heiligenschein aus dem Schädel nach oben blobbt, wenn sie sich um einen von ihnen kümmern- freunden sie sich damit an, dass ihnen eher alle Träume aus dem Arsch fallen und im Sog des Lebens an einen Ort gespült werden, wo weder ich noch mein Bruder etwas zu suchen haben. Das mag desillusioniert klingen, aber so tut es am wenigsten weh, bzw. fühlt man so nichts mehr. Was als unbedingtes ?Gut? in der Wertung meines Lebens eingeordnet werden muss- oder dachten Sie, ich fühle mich so verbracht weil der Heiligenschein so schwer ist? Nein, ich sehe nur zu oft wehmütig in den Abfluss vom Klo des Universums und versuche eine Spur vom Glück zu erschnüffeln.
Ich werde versuchen, ihnen ein genaueres Bild meines Bruders zu vermitteln, doch damit sie näher an die Wahrheit kommen, versuchen sie, alles was ich ihnen nun sage, alles was ich versuche zu beschreiben und alles, was sie davon möglicherweise verstehen, oder glauben zu verstehen, bitte, versuchen sie das in der doppelten Geschwindigkeit zu tun. Mein Bruder ist Hyperaktiv. Er ist eine nie endende Explosion. Eine sehr hässliche Explosion. Seltsamerweise ist er fotogen. Ich meine, wenn man ihn so sieht, sozusagen live und in Farbe, ist er eine unförmige, sehr schnelle Erscheinung, näher am Affen als am Menschen. Seine Arme sind zu lang, seine Beine sind zu kurz und wenn er geht, schaukelt er von Punkt A nach Punkt B wobei sich weder Punkt A noch Punkt B großartig darüber freut, Besuch von ihm zu bekommen. Sein liebstes Hobby ist es anderen Leuten einen seiner Finger mit unglaublicher Geschwindigkeit und Kraft in die Ohren, Nasen, Augen zu stoßen. Er verschenkt am liebsten Popel. So bekloppt wie er ist, er hat trotzdem ein untrügliches Gefühl dafür, was andere nervt. Und das Problem ist, ich habe ihm mal das Gefühl gegeben, dass ich ihn liebe. Ist schon eine Weile her und mittlerweile weiß ich nicht mehr, ob das noch so ist, bezweifele sogar von Zeit zu Zeit, dass das wirklich mal so war und nicht nur als erwünschte Erinnerung in meinem Unterbewusstsein existiert (trauen sie ihrem Unterbewusstsein eigentlich über den Weg?). Jedenfalls weiß er genau, dass ich ihm nicht wirklich sauer sein kann. Er lacht viel und die meiste Zeit fürchte ich, lacht er mich aus. Er kann nicht sprechen, aber wenn man sein ganzes Leben mit ihm verbracht hat, lernt man, seine Laute zu verstehen. Sie würden nur ein undefinierbares ?Epkah? und ?wouhba? hören und Angst bekommen. Ich weiß, das er Durst hat, dass er Fernsehen schauen will, dass er...was auch immer. Es kommt eine Menge zusammen, wenn man zusammenzählt, was er sagen will.
Auf seinem Rücken, hat er ständig eine trockene Flechte, die durchsetzt ist von sich ablösenden Hautfetzen und suppenden Pickeln (jedenfalls hoffe ich, dass das Pickel sind und keine eitrig, klaffende Eingänge zur Hölle). Es ist nötig, diese Fläche des Grauens jeden Tag mit einer stinkenden Salbe einzureiben und glauben Sie mir, es kommt mir alles hoch, wenn ich es machen muss. Weder habe ich mich in den letzten Jahren daran gewöhnt, mit meinen Händen über diesen Rücken zu streichen, noch kann ich den Geruch der Salbe besser ertragen, als ich es am ersten Tag tat. Manchmal kann ich meine Nachbarin überreden, das für mich zu erledigen, was ein Höhepunkt in meinem Leben ist- überlegen Sie mal, den eitrigen Rücken meines Bruders nicht einsalben zu müssen, ist ein freudiger Höhepunkt in meinem Leben! Ansonsten besteht das Leben mit meinem Bruder darin, seine Popel abzuwehren. Aber, und darauf wollte ich ja hinaus, es ist erstaunlich, dass er ungeachtet seiner geistigen und körperlichen Deformationen fotogen ist. Er sieht auf Fotos aus wie ein Mensch. Gut, seine Arme sind immer noch zu lang und die Beine zu kurz, aber...er wirkt nie hässlich. Sein Gesicht ist schon fast schön. Manchmal, schaue ich ihn an und blinkere schnell mit meinen Augen, damit er aussieht wie eine Abfolge von Einzellbildern...Sie können mir glauben, selbst wenn ich verrückt geworden bin, ich würde es nicht merken. Ich meine...,...wissen Sie, ich habe ihm bunte Socken gekauft, solche mit einzelnen Zehen in rot und grün und er schafft es, sie sich anzuziehen und beobachtet dann seine Zehen. Minutenlang. Ich gehe arbeiten, hole ihn dann aus der Einrichtung ab und die ganze Zeit, habe ich Angst vor dem Wochenende. Ich versuche zu lesen, schaue mir Filme an, versuche mich in eine andere Welt zu bringen oder wenigstens meine Welt um etwas zu erweitern, das nicht Er ist (das Trinken habe ich vollkommen aufgegeben, weil ich nicht aufhören könnte, betrunken zu sein) und doch ist er meine Welt. Meine ganze Welt und die ist als solche total bekloppt. Vielleicht ist es immer noch besser, als vollkommen einsam zu sein...,...bestimmt sogar und man hat immer eine Aufgabe: die ganze Sache, am laufen zu halten. Es ist alles so, so...,..sehen Sie, wir waren im Theater zur ?rocky horror show? und ich habe unsere Plätze bezahlt, ich habe die Plätze vor uns bezahlt und ich habe dafür gesorgt, dass wir außen saßen. Mit der Zeit lernt man, den Schaden klein zu halten, während mein Bruder die Scheibe vom Kartenverkauf ableckt.
?don´t dream it, be it? sangen sie auf der Bühne. Ich beugte mich zu meinem Bruder, fasste sein Genick und bog seinen Kopf zu mir. Er hasst es, wenn man ihm etwas aufzwingt, also wehrte er sich, aber ich schaffte es ihm ?Don`t be it, dream it? ins Ohr zu singen, bevor er sich meinem Griff entwand, und mir einen wuchtigen Schlag mit seiner harten Stirn gab.
Also, wer ist hier irre?

Herzlichst,
Ihr Über-ich
 
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xzar

Gast
?Wie, ihre Eltern sind beide tot??, ?Sicherlich ein Unfall?? und ?wie, ihr Bruder ist ein Idiot? Ein despotischer sogar??, werden Sie jetzt sicher denken und damit alle Fragen stellen, auf die jedes Rindvieh ohne Überlegung kommen kann- aber ihre Fragen werde ich ihnen trotzdem beantworten

Ja, unsere Eltern sind tot und nein, sie starben nicht zusammen bei einem Unfall, wurden nicht auf einen Schlag von einem Betrunkenen ins Jenseits gerammt. Sie starben vor drei Jahren, innerhalb von zwölf Tagen, an verschiedenen Krankheiten, sogar in verschiedenen
hallo,

mir gefällt, wie du schreibst. dein zynismus kommt ganz gut durch, denke ich. gegen ende jedoch wirkt der text auf mich etwas gestreckt, zu wenig dicht.

einige bemerkungen:
speziellarisierten
falls absicht (ich hoffe!), dann eine nette wortschöpfung, die dem bitteren erzählstil sehr zugute kommt.

zum reden zum schreiben
reden müsste groß geschrieben werden.

Beschrieb ihn, dass Mutter wie eine stumme Königin zu hause auf der Couch lag und ihr kleines Reich bis zur Rückkehr des Königs verwaltete.
"beschrieb ihm" müsste es heißen.

klarkam
getrennt: "klar kam"

Meistens schrieb ich die Briefe im Bus, auf dem Weg von einem Ende der Stadt zum anderen.
kein beistrich.

außerdem glaube ich, dass du "?" im text hast, die mit anführungszeichen ersetzt werden sollten, etwa hier.
?Wie, ihre Eltern sind beide tot??

lg
constantin
 
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xzar

Gast
die ersten zwei absätze sind natürlich zitate - hab vergessen, sie zu markieren.
 

kuehen

Mitglied
Danke erst einmal für deine Reaktion. Es ist immer schön zu lesen, wie meine Texte auf andere wirken. Deine bemängelten Sachen sind alle richtig, also falsch- werde das bei weiterer Verwendung des Textes berücksichtigen. Das der Text zum Ende hin zu lang erscheint, vermag ich nicht nachzuvollziehen. Mir ist eher so, dass man über diese Grundstimmung des „Bruderherz“ seitenlang weiterimprovisieren könnte.

marcus
 



 
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