CANIS PRIMUS Wolfsgeschichte

eve collie

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Die etwas andere Weihnachtsgeschichte oder Wie der Wolf auf den Mensch kam

Es begab sich aber zu der Zeit, dass unter den Wölfen ein große Zählung stattfinden sollte. Es war notwendig geworden, weil auch die stärksten Wölfinnen oft nur ein Junges bekamen und dieses manchmal noch nicht einmal überlebte. Schuld daran waren die vielen außergewöhnlich harten Winter, die alle schwächten und viele sterben ließen. Aber auch die Menschen töteten die Wölfe, wo sie nur konnten. So stimmte eines Tages der Große Wolf ein lautes Geheul an, das weiter und immer weiter getragen wurde, bis schließlich alle Wölfe auf dem Weg zum Großen Sammelplatz waren, den aber nicht jeder erreichte, da er unterwegs in die Ewigen Wolfsgründe abberufen wurde.

So machten sich auch auf Aktra, ein wunderschöner großer, kräftiger Wolfsrüde, und seine Gefährtin Kishka, die tragend war. Sie hatten längst kein Rudel mehr, einer nach dem anderen war für immer fortgegangen. Für Kishka war der Weg besonders beschwerlich, da diesmal ihre Trächtigkeit ganz anders verlief. Dabei wusste sie, dass sie nur e i n e n Welpen bekommen würde. Ihr war oft Atanja, die alte, weise Wölfin, die schon vor vielen Wintern gestorben war, im Traum erschienen. Zuerst hatte Kishka nicht auf ihre Träume geachtet, doch die Botschaften von Atanja wurden immer intensiver, so dass sich Kishka anfangs sehr fürchtete. Auch erzählte ihr Atanja im Traum unglaubliche Dinge über Freundschaften zwischen Menschen und Wölfen - eine absurde und schreckliche Vorstellung! Schließlich, eines Tages, schrie Kishka so im Schlaf auf, dass Aktra knurrend aufsprang und sie wild verteidigen wollte. Als er aber sah, dass Kishka nur auf Grund eines Traumes so geschrieen hatte, wollte er endlich wissen, was mit ihr los war.

"Ach, Aktra, ich traue es mir gar nicht, zu sagen, du hältst mich bestimmt für verrückt!" Doch da Aktra weiter drängte, berichtete sie ihm schließlich alles, auch vom letzten schrecklichen Traum, in dem Atanja zu ihr gesprochen hatte: "Dein Junges, das du zur Welt bringen wirst, ist kein gewöhnliches Wolfsjunges. Ja, er ist sehr stark, dein Sohn, aber das muss er auch, denn er hat eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Er wird der erste Wolfsfreund des Menschen sein, und aus ihm werden viele Nachkommen entstehen, die enge Freunde der Menschen sind und mit ihnen spielen, jagen und ihnen dienen. Dafür werden er und seine Nachkommen immer genug zu essen haben und nicht ums Überleben kämpfen müssen. Du wirst es nicht erleben, aber eines Tages werden die Menschen die Wölfe in Ruhe lassen, weil sie erkannt haben, das sie in das Große Gefüge der Welt gehören, und die Wölfe werden niemals aussterben. Doch dafür müssen wir ein Opfer bringen, das kein so großes Opfer mehr sein wird, weil das Ziel gut ist. Die Nachkommen deines Sohnes werden HUNDE heißen, und sie werden in ihrem Leben genauso glücklich sein wie du in deinem."

Als Kishka ihren Bericht beendet hatte, sprach Aktra lange Zeit kein Wort. Doch dann sagte er langsam: "Kishka, ich habe davon gewusst, schon vor langer, langer Zeit, aber ich habe nie jemandem davon erzählt, um nicht als verrückt zu gelten. Später habe ich nicht mehr daran denken wollen und es auch vergessen, weil wir ein normales Leben führten. Auch mir ist Atanja im Traum erschienen, als ich noch ein junger Wolf war, und ich hatte Angst, als Verrückter aus dem Rudel ausgeschlossen zu werden. Was das bedeutet, weißt du ja. Deswegen habe ich so lange geschwiegen. Nun müssen wir aber auf unsere Träume und auf Atanja hören, es ist uns so vorbestimmt. So haben wir unsere Aufgabe zu erfüllen, damit wir Wölfe überleben können. Es ist eine große Aufgabe, und ich werde dir beistehen!"

Damit war alles gesagt, und die Wanderung musste weitergehen. Als sie endlich am Großen Sammelplatz ankamen, staunten sie über die große Anzahl ihrer Artgenossen, die aber nur ein Bruchteil der Menge war, die sonst in den Wäldern und Bergen gelebt hat. Aktra suchte eine Höhle, einen Schutz für Kishka, doch nirgends war Platz. Sie wurden immer wieder weitergeschickt, weil auch so viele Wölfe geschwächt waren. Kishka merkte, dass sie an der Zeit war, um zu wölfen, und drängte Aktra, aber es war nichts zu machen. Da erspähten sie am Rand einer Lichtung, für Wölfe gefährlich nah an den Menschen, einen von ihnen gemachten Unterschlupf, eine Art Höhle. Sie roch noch unangenehm nach dem gefährlichen Mensch, wenn auch schwach, weil er schon lange, lange nicht mehr dagewesen war. Doch Kishka konnte nicht mehr, und so ließen sie sich dort nieder.

Die anderen Wölfe trauten sich nicht dorthin, aber der Große Wolf erzählte ihnen von der Legende über die Freundschaft zwischen den Menschen und Wölfen. Es sollte auch ein großes Licht über der Stelle erstrahlen, an der der Vater aller Hunde geboren wird. Viele Wölfe murrten und meinten, jetzt sei der Alte übergeschnappt und müsse seinen Platz hergeben, doch wagten sie nicht, dies offen auszusprechen. Stattdessen entfernten sie sich etwas von der Gruppe, um zu beraten, was sie machen sollten.

Plötzlich rief einer von ihnen: "Seht doch, seht doch, was ist das für ein Licht über der Menschenhöhle?!" Und tatsächlich, über Aktras und Kishkas Lagerstatt leuchtete ein Stern so hell, dass er bis zum Sammelplatz schien. Neugierig wollten die Mutigsten unter den Wölfen dorthin laufen, doch der Große Wolf allein hatte dieses Vorrecht. Und was er erblickte, zauberte ein Lächeln auf sein altes, weises Gesicht, und er sprach: "Nun ist die Prophezeiung erfüllt, und ich kann beruhigt in die Ewigen Wolfsgründe wandern. Ein anderer wird meinen Platz einnehmen, und dieser wirst du, Aktra, sein. Mit deiner Gefährtin wirst du alle Wölfe dieser Erde führen, bis es wieder an der Zeit ist, dass ein anderer kommt. Es wird niemals wieder so sein wie früher, jedoch nicht schlechter. So lebt nun wohl und habt Dank, dass ihr mir meinen Frieden gegeben habt!" Dann ging der Große Wolf und kam nie wieder.

Endlich durften auch die anderen Wölfe das große Wunder bestaunen, das aus einem wunderhübschen, starke Welpen bestand. Kishka und Aktra liebten ihren Sohn, doch nach zwei Monden kam die Zeit der Trennung. Kishka zerbrach es fast das Herz, als sie mit ihrem Sohn darüber sprach. Doch wie erstaunt war sie, als er antwortete: "Mutter und Vater, ich kenne meine Aufgabe, auch mir ist Atanja im Traum erschienen. Doch ich habe keine Angst; macht euch keine Sorgen. Ich werde euch auch besuchen und berichten, wie es mir bei den Menschen ergeht. Nun lasst mich allein, ich werde bald von den Menschen geholt."

Und so geschah es, wobei alle Wölfe zu einem großen Geheul anhoben - aus Trauer, aber auch aus Hoffnung. Es waren Menschenwelpen, die das Wolfsjunge entdeckten. Sie nahmen es mit, zogen es auf, spielten mit ihm, gaben ihm genug zu fressen und waren überhaupt sehr freundlich, wie auch die übrigen Mitglieder des Menschenrudels.

Als Kishkas und Aktras Sohn erwachsen war, hielt er sein Versprechen und besuchte die anderen Wölfe in den Wäldern, um von seinem neuen Leben zu berichten. Die Menschen nahmen es ihm nicht übel, kam er doch immer wieder und war freundlicher zu ihnen als zuvor. Eines Tages kam er von seinen Ausflügen mit einer Gefährtin zurück, die das Blut von Atanja und dem Großen Wolf in sich trug, und die ihm viele Nachkommen schenkte. Sie erzählte ihren Kindern die Geschichte ihrer Vorfahren und ihres Hundwerdens, auf dass sie nie in Vergessenheit gerate. Auch die Wölfe in den Wäldern und Bergen trugen sie in ihren Reihen von Generation zu Generation weiter, so dass alle Wölfe und Hunde bis auf den heutigen Tag die Geschichte von der Entstehung des Menschenbegleiters kennen.

Und sie alle sprechen nur mit Ehrfurcht von Kishka, Aktra und ihrem Sohn. So kommt es, dass zu ihren Ehren alle Wölfe jedes Jahr zur selben Zeit ein großes Geheul anstimmen, dessen Grund die Menschen nicht wissen und niemals wissen werden - das Geheul des Großen Wunders, des Wolfssohnes und Stammvaters aller Hunde

> CANIS PRIMUS <


ebd
 

Katjuscha

Mitglied
Wolfsgeschichte

Die Idee deiner Wolfsgeschichte - die Legende, wie der Wolf zum Menschen kam - finde ich wirklich nett. Aber sind die Wölfe nicht ein wenig zu menschlich dargestellt? Und dass ein Wolf schon nach zwei Monaten seine Mutter verlässt - auch ein ganz besonderer - halte ich für unrealistisch. Abgesehen davon hast du einen schön erzählenden Ton getroffen, der an alte Legenden erinnert.
Leider ist es ja noch immer so, dass Mensch und Wolf sich spinnefeind sind, auch wenn der Wolf unter Naturschutz steht. Bei uns in Brandenburg sind vor fünf Jahren die ersten Versuche gestartet, den Wolf wieder in deutschen Wäldern anzusiedeln, nachdem ein einzelner Wolf über die polnische Grenze gekommen ist und hier weiter lebte.
Warum eigentlich Weihnachtsgeschichte?

Liebe Grüße von Katja
 

eve collie

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canis primus

Hallo Katja!
Im Forum Diskussion hatte ich gefragt, ob ich zum Frühling hier eine Weihnachtsgeschichte veröffentlichen kann und von mact und Gabi ungefähr die Antwort erhalten: "Versuch macht klug". Also habe ich es einfach gewagt, und wer das Weihnachtsevangelium kennt, sieht natürlich die enge Anlehnung. Die Geschichte wurde auch schon mehrfach zur Weihnachtszeit (in der sie auch entstanden ist) veröffentlicht, u.a. im Radio. So wie das Jesuskind ist also Canis Primus eine Art Messias, und die sehr menschliche Darstellung der Wölfe ist ein sehr wichtiges Instrument, um diese Aussage zu bekräftigen. Schließlich wollte ich auch keinen Bericht schreiben und hätte sonst auch die Darstellung der Geburt eigentlich mit dem Osterfest verbinden müssen, denn gewölft wird im Frühjahr. Allerdings wurde aus diesem Grund in der Geschichte kein Hinweis auf die tatsächliche Jahreszeit gegeben, so wie ja auch die Geburt Jesu aus einem anderen Grund auf den 24.12. gelegt wurde. Und: gerade ein Wolf ist mit 8 Wochen weiter als ein Hund, der selbst dann schon von der Mutter getrennt werden kann. In sich ist die Geschichte stimmig, da auch in schlechten Zeiten Welpen von Wölfen und sogar von Rassehunden (!) absorbiert, also nicht ausgetragen werden, ohne dass dies körperliche Nachteile für die jeweilige Mutter hätte (eine gute Einrichtung der Natur!). Es gibt auch kopfkranke Wölfe, die in der Tat vom Rudel ausgeschlossen werden und diesem hinterherlaufen, aber nicht so dicht, dass sie zerissen werden. Und: auch bei instinktsicheren Rassehunden werden körperlich oder geistig kranke Welpen von der Mutterhündin getötet oder zumindest ignoriert und nicht an die Zitzen gelassen. Du siehst, wie in jedem Märchen gibt's auch hier wahre Aussagen, die nur verkleidet sind. Und wie nun tatsächlich der erste Kontakt Wolf - Mensch war, weiß bislang noch kein Verhaltensforscher, womit sich der Kreis (s.o.) schließt.
Liebe Grüße von eve
 

Katjuscha

Mitglied
Weihnachtsgeschichte

Danke für deine Antwort. Was du erzählt hast, wusste ich nicht - vor allem mit dem Messias habe ich nicht so viel am Hut. Danke! Ich habe die Geschichte eben nicht als Metapher gesehen.

Katja
 
E

ElsaLaska

Gast
Liebe eve collie!

Das ist ein wunderbarer, ein sehr anrührender Text, der mir sehr gut gefallen hat. Eine sehr schöne Geschichte, die Dir da eingefallen ist, und auch die Paralelle mit Jesus, das versöhnende Element also, habe ich gleich herausgelesen, wenn ich auch finde, dass sie nicht zu 100 prozent übertragen werden kann, aber das machte das Ganze eigentlich nur noch stimmiger.

Leider muss ich Dir aber mitteilen, dass nicht gerade Friede, Freude, Eierkuchen herrscht;-)

Ich bin stolzes Frauchen eines wundervollen Anatolischen Hirtenhundes, genauer gesagt, eines Herdenschutzhundes. Diese riesigen und imposanten Hunde treiben nicht, sondern wachsen in der Herde auf, betrachten sie als ihr Rudel, das es zu schützen gilt, und setzen im Falle einer Aggression durch Wolf, Bär oder Löwe ihr Leben für die Schafe ein. Es ist üblich, dass diese Hunde den Kampf auf Leben und Tod aufnehmen und in der Türkei ist derjenige ein stolzer Mann, dessen Hund einen Wolf töten konnte, was nicht selten vorkommt. Die Rasse ist uralt, mehr als viertausend Jahre sind belegt und wohl den Wölfen näher als jede andere Hunderasse auf dieser Welt.

Insofern habe ich Deine Geschichte leider nicht hunderprozentig schlüssig finden können:), obwohl sie wirklich wunderschön ist.

Liebe Grüsse
Elsa
 

eve collie

Mitglied
canis primus

Hallo Elsa!
Genau das ist es - trotz der Geburt des "Messias", ob Mensch oder Tier, gibt es weiterhin keinen Frieden, obwohl sich einiges verändert hat. Herdenschutzhunde sind auf der "Liste" und brauchen in der Tat auch erfahrene Hände.
Und dass die Rassehundzucht schon lange tierquälerische Auswüchse angenommen hat, ist auch jedem (ausser den Züchtern) klar - gilt übrigens auch für "Hundesport". Und viele Hunde haben den falschen Menschen an ihrer Seite, was für alle Hunderassen und Mischlinge gilt (meine tägliche Praxis). Übrigens: neulich habe ich einen Bericht über Wölfe im ehemaligen Jugoslawien gesehen. Der Mensch hatte den Lebensraum der Wölfe zugebaut, die sich in die Wälder zurückzogen. Sie besuchten aber regelmäßig die Stadt (wie auch die Bären), was die Menschen gar nicht störte, da sie nicht belästigt wurden. Menschen und Wildtiere können auf dieser Basis anscheinend auch heute noch zusammen leben, obwohl der Mensch den Lebensraum der Wildtiere einengt - wer ist denn da der "Gute" in diesem "Spiel"? Übrigens: alte Rassen sterben aus, wenn ihre Arbeit nicht mehr benötigt wird (ist überall so), werden aber z.T. auf Teufel-komm-'raus für den privaten Haushalt weiter gezüchtet - ob das immer gut ist? Und beim Bevorzugen des "Natürlichen" werden dann so arme pervertierte Geschöpfe wie Wolfshunde "gezüchtet", die aber in der Tat Wanderer zwischen zwei Welten sind.
Du siehst, Hundwerden ist auch ein Problem, aber dadurch sind die Wölfe vor dem Aussterben bewahrt worden, weil man sich mit der Ethologie auseinandersetzen musste. Fraglich ist höchstens, ob die Wolfshilfe nicht wieder zu einem modernen "Massenprodukt" wird und so ein anderes Ungleichgewicht entsteht (wie auch in anderen Bereichen).
Ups, jetzt ist's doch wieder lang geworden, sorry! Du kannst mir ja mal direkt mailen, was Du so mit Deinem Hund erlebst. Es grüßt Dich eve (die auch schon einen Kangal ab Welpenalter betreut hat)
 



 
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