Stumm beobachtete er den kleinen Vogelschwarm, der sich aus dem Geäst einer Pappel erhob und nach einem kurzen Rundflug und einer scharfen blitzschnellen Wendung zurückkehrte und lärmreich die Zweige bevölkerte.
Johann bewunderte die Perfektion und Anmut dieses sorgfältig choreographierten Vogelfluges und spürte in sich ein süßes Gefühl der Ruhe.
Entspannt lehnte er sich zurück und genoss die sanften warmen Regentropfen auf seinem Gesicht.
Er spürte die hastig nahenden Schritte schon, bevor die rufende Stimme an sein Ohr drang.
„Johann!“
Unwillig drehte er den Kopf und richtete sich auf.
„Mein Gott, wo hast du so lange gesteckt?“
Johann griff nach den Händen seiner Schwester, die nun neben ihm auf der feuchten Erde kauerte und schaute wieder auf den See.
Anna lehnte sich kurz an ihn und schwieg. Der Regen glättete ihre vom Laufen geröteten Wangen und spielte ihr ein leises Lied. Sie schloss die Augen.
„Und, hast du ihn gesehen?“, unterbrach Johann schließlich den Regen und zwang die Gedanken der Schwester wieder in den Alltag zurück.
„Er wartet auf dich“, erwiderte Anna langsam.
„Damit du es weißt. Ich werde nicht spielen“, sagte Johann und schaute dabei weiter auf den kleinen See, in dem sich die Schatten der nahenden Dämmerung spiegelten.
Anna sprang auf.
„Das kannst du nicht tun! Du musst doch spielen!“ Sie starrte ihn an.
„Ich tue, was ich will.“ Der Bruder blieb unbarmherzig.
„Johann, er wird dich dies nie vergessen lassen, wenn du dich weigerst, vorzuspielen!“
Johann hob nun den Kopf und betrachtete seine Schwester nachdenklich.
„Spiel du für mich. Du bist ohnehin die Bessere“, bat er sie plötzlich.
„Was? Wie meinst du das? Ich kann nicht für dich spielen! Das würde er niemals dulden! Und das weißt du sehr genau! Du bist außerdem der einzige, den Vater auf seiner Geige spielen lässt! Und sie kommen doch, um dich zu hören ...“ Anna verstand ihren Bruder nicht mehr.
Johann seufzte leise und stand langsam auf.
„Lass uns gehen. Es ist schon spät.“ Er schaute sie nicht mehr an und lief mit schnellen Schritten zum Haus des Vaters zurück, ohne sich nach ihr umzudrehen.
Anna folgte ihm hastig und sah, während sie beide durch den Wald eilten, unentwegt auf den schmalen und geraden Rücken des Bruders. Wie sehr sie ihn liebte! Seit sie in der Lage war, sein Geigenspiel auf dem Flügel zu begleiten, hatte sich ihr Leben verändert.
Von früh an war der Vater ein strenger Zuchtmeister gewesen und hatte seine beiden musikalisch hochbegabten Kinder täglich den Preis des Musizierens spüren lassen.
„Ohne Schmerz kein Erfolg ... “
Dieser Grundlinie hatte er mit seinem Stock schmerzhaften Nachdruck verliehen und unbarmherzig schlug der Stock den Takt und die Finger der Kinder wund.
„Im Takt bleiben! Im Takt bleiben!“, schrie die dunkle Stimme aufgebracht und kontrollierte penibel die Intonation.
Unauslöschlich hatte sich Anna der Tag eingeprägt, als ihr Bruder dem Vater zum Geburtstag die berühmte „Chaconne“ in D-Moll von J. S. Bach vortragen wollte, an der er seit Wochen heimlich geübt hatte, und deren Interpretation ihr vollkommen zu sein schien. Doch schon nach wenigen Takten hatte der Vater ihn unterbrochen und dem sprachlosen Jungen den Geigenbogen aus der Hand gerissen.
„Was spielst du da?“ Die Stimme des Vaters war leise und kaum hörbar.
Johann stand stumm da, dem übermächtigen Vater ausgeliefert.
„Was spielst du da??“, schrie sein Vater ihn an. Die Luft schien zu erkalten und der väterliche Zorn ergoss sich über seinen Sohn, der seine Geige fest an sich drückte und wie ein Verurteilter vor der großen Gestalt des Vaters stand.
„Wie kannst du es wagen, dich an diesem Stück zu vergreifen, dieses, dieses wunderbare Meisterwerk! Du spielst es ohne Seele und ohne Präzision. Das ist nicht Bach!“ Die Stimme des Vaters dröhnte in ihren Ohren.
Annas Hände zitterten bis heute bei dieser Erinnerung, so, als hätte der Vater sie persönlich geohrfeigt. Sie hatte damals Angst, dem Blick des Bruders zu begegnen. Johann hatte darauf nichts erwidert, sondern behutsam die Geige eingepackt und mit lautlosen Schritten das Zimmer verlassen.
Von dem Tag an schwieg Johann nur noch und ertrug kommentarlos die Übestunden mit seinem Vater, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, seine beiden Kinder zu perfekt funktionierenden Musikern zu erziehen. Nach dem frühen Tod der Mutter war es ungewöhnlich, dass der erfolgreiche Geiger seine Kinder nicht auf ein Konservatorium schickte oder auf ein Internat, aber es vertrug sich nicht mit dem Ehrgeiz des Vaters, die musikalische Erziehung und Prägung seiner Kinder anderen zu überlassen. So blieben Johann und Anna zu Hause, es wurde Privatunterricht erteilt und beide Kinder erhielten eine exzellente musikalische Ausbildung.
Mit großem Erfolg, wie sich bald herausstellte. Joahnn vervollkommnete sein Geigenspiel unter der Aufsicht des Vaters und Anna entwickelte sich zu einer begabten und frühreifen Pianistin.
Doch niemals erlaubte der Vater dem Sohn, die Chaconne zu spielen. „Erst wenn deine Finger und deine Ohren soweit sind. Erst dann!“ So die väterliche Doktrin.
Johann spielte nie wieder ein Stück von Bach.
Beide akzeptierten stumm die Allmacht des Vaters und gehorchten und übten unablässig. In den langen Jahren des Eingeschlossenseins hatte sich ihr Geist an die Strenge der Disziplin und an dem ständigen Streben nach spielerischer Perfektion gewöhnt. Sie fühlten sich fremd und unwohl inmitten von lauten und lärmenden Menschen oder gleichaltrigen Kindern, die mit Musik nichts zu tun hatten. Mit ihren Instrumenten schufen sie sich ihr eigenes Reich und dieses Reich erschien ihnen als allgegenwärtiges Universum, welches ihnen keine Wünsche offen ließ.
Nur ein einziges Mal bekam die eiserne Schale einen Riss: am Tage der Beerdigung der über alles geliebten Großmutter.
Seit diesem Tag hatte sich etwas in Johann verändert. Es reichte aus, das Futteral seines Geigenkastens zu betrachten oder den Regen zu hören und dabei daran zu denken, wie er die Erde durchtränkte, oder den Geruch bestimmter Blumen zu spüren, die den Sarg geschmückt hatten, um in ihm ein unbestimmtes Gefühl der Sehnsucht auszulösen.
An solchen Tagen sah ihn Anna stumm am Fenster gelehnt stehen, die Augen blicklos ins Ungewisse gerichtet. Nie wagte sie es, ihn in diesen Momenten anzusprechen oder ihn zu stören, sie war sich nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt hören würde.
Vielleicht erahnte sie den bohrenden Schmerz, der ihr den vertrauten Bruder immer öfter als Fremden zeigte. Vielleicht spürte sie unbewusst die Verfassung und den zunehmenden Konflikt zwischen Vater und Sohn, aber was wusste sie schon?
Seit mehreren Jahren wühlte und nagte es in ihr. Es war eine Zeit, in der sie sich von der Musik und ihrem Bruder im Stich gelassen fühlte.
Johann wurde immer abweisender und unzugänglicher. Die ihn umgebende Düsterkeit und Strenge hatten Spuren in seinem jungen Gesicht hinterlassen liessen ihn älter erscheinen, als er tatsächlich war.
Tagtäglich ertrug er die unerbittlichen Präsenz des Vaters und das strenge Überitual des virtuosen Geigenspiels, welches keine Abweichung der Routine zu liess. Dennoch spürte er jenseits der vielschichtigen Melodie in seinen Träumen eine hartnäckige Stille, die ihn ausschloss. Diese Stille machte ihn rasend. Je mehr er übte und spielte, umso mehr schien sich das Ziel von ihm zu entfernen. Je mehr er sich nach Ruhe und Erfüllung sehnte, um so lauter tobte der Sturm in ihm.
Anna wusste, wie sehr sich der Bruder danach sehnte, Lob und Bestätigung seitens des Vaters zu erhalten, doch es schien unmöglich.
Sie betrachtete immer noch nachdenklich ihren Bruder, der unaufhaltsam mit langen Schritten vor ihr her lief, so, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Fest prägte sie sich die Gestalt des Menschen ein, den sie am meisten auf der Welt liebte und bewunderte. Denn ihr Bruder war ein geigerisches Ausnahmetalent.
Und der Vater muss es schon viel früher erkannt haben, überlegte Anna. Welches Gefühl muss wohl stärker in ihm gewesen sein? Die Liebe und Bewunderung auf solch einen Sohn oder etwa Neid oder gar Hass, dass ein zwölfjähriges Kind mühelos in der Lage war, die „Chaconne“ zu spielen, ein Paradestück, welches selbst für jeden Geigenvirtuosen eine nicht alltägliche technische und interpretatorische Herausforderung darstellte?
Schon längst hatte sich Anna mit ihrer Beobachterrolle abgefunden und bereitwillig den ersten Platz dem Bruder überlassen. Sie war sich der eigenen Leistungen kaum bewusst, so sehr hatte sie sich in den Hintergrund manövriert und der Vater nahm es als selbstverständlich hin, dass die jüngere Tochter am Flügel einen exzellenten Eindruck hinterließ.
Aber Johann! Anna spürte den Schmerz des Bruders so deutlich, dass sie ihre eigenen Sorgen vergaß. Sie schaute wehmütig auf die Gestalt des Bruders und dachte an den kommenden Abend, der ihr Angst bereitete. Irgendetwas würde passieren, das ahnte sie.
Denn Johann war nicht mehr zwölf Jahre alt. Und erst recht kein Junge mehr, der sich herumkommandieren ließ. Er wirkte älter als seine siebzehn Jahre. Und der heutige Abend würde kein gewöhnlicher Abend werden. Es hatten sich mehrere bedeutende Gäste angekündigt, um Johann spielen zu hören. Ein befreundeter italienischer Geiger, ein Wiener Musikkritiker und eine ihm nahestehende Baronesse, Anna hatte ihren Namen schon wieder vergessen. Natürlich war ihr klar, was es für Johann bedeuten musste; auf solch eine Gelegenheit hatte er jahrelang gewartet.
Anna verdrängte die Furcht vor dem, was passieren würde, wenn Johann das Haus verließ. Im Moment wünschte sie sich einfach nur, dass dieser Abend schon vorbei wäre.
Sie seufzte unhörbar auf, als Johann entschlossen die große Tür öffnete.
Die Geschwister traten in den dunklen Flur, der nur durch einen kleinen schwachen Lichtstrahl erhellt wurde und eilten in das große Musikzimmer, wo der Vater und seine Gäste bereits auf sie warteten.
Ein muffiger Geruch entströmte den strengen hohen Möbeln und den Wandteppichen, die an der Galerie zusammen mit den Ahnenbildern hingen.
Das Licht der untergehenden Sonne brach sich nun in den halb geschlossenen Fenstern, als die beiden das Musikzimmer betraten und der aus großen geometrischen Vierecken zusammengesetzte Fußboden im Musikzimmer knarrte bei jedem ihrer leisen Schritte.
Partituren, Noten und Bücher standen dicht(getrennt)gedrängt und ungeordnet in hohen Regalen und auf einigen Marmorsockeln waren Silberpokale und Medaillen zur Schau gestellt. Die Geschwister musterten die Gäste, die sich nun ihrerseits erhoben hatten und neugierig die Kinder betrachteten. Der Vater kehrte ihnen noch den Rücken zu, denn er war gerade dabei, seinem Gast die Musikinstrumentensammelung zu zeigen und zu erläutern. In seinem Besitz befanden sich einige äußerst kostbare und vollständig erhaltene alte italienische Geigen, darunter eine Cappa und eine Viola von den Gebrüdern Carcassi. Zudem besaß er ein wunderschönes altes Violoncello von Guarneri, welches sein Gast gerade bewundernd in den Händen hielt und vorsichtig nach allen Seiten hin drehte.
Johann grüßte kurz und verschwand dann in sein Zimmer, während Anna stumm stehen blieb und die Gäste beobachtete, die sich gedämpft unterhielten. Sie fühlte sich etwas verlegen und scheu setzte sie sich auf einen Schemel im Hintergrund des großen Zimmers. Als Johann wieder ins Zimmer eintrat, fasste er kurz ihre Hand und drückte sie. In der anderen Hand hielt er seine Geige, die im Kerzenlicht matt schimmerte.
Anna holte tief Luft und plötzliche Vorfreude auf das kommende Konzert durchströmte sie. Alle Blicke richteten sich nun auf den Jungen, der sich kerzengrade in der Mitte des Zimmers hinstellte. Das Licht fiel mit voller Stärke auf ihn.
Es wurde still im Raum, nur die Baroness neigte ihren sorgfältig frisierten Kopf mit einer solch merkwürdigen Gebärde leicht zur Seite, die Anna sofort an die Bewegung eines Vogels erinnerte. Kurz begegneten sich ihre Blicke und Anna erwiderte das freundliche Lächeln der elegant gekleideten älteren Dame.
Dann drang die leise Stimme ihres Bruders an ihr Ohr.
„Ich spiele die Chaconne.“
Ihre Hände verkrampften sich im Schoß und sie wagte es nicht, aufzublicken. Niemand sagte ein Wort. Nur Anna vernahm das scharfe Luftholen des Vaters, der sich steif hinsetzte. Johann hatte voller Konzentration die Augen geschlossen und seine Wange auf die harte Ebenholzmuschel seiner Geige gelegt.
Dann begann er zu spielen.
Die klagenden Akkorde der d-Moll Partita erfüllten mit klaren und durchsichtigen Strichen den Raum. Ganz am Anfang schien es ihr, als würde in seinen anfänglichen Bewegungen ein Hauch von kindlichem Trotz und Eigensinn durchschimmern, der selbe Eigensinn, den sie so gut an ihm kannte und den sein Vater trotz aller zuchtmeisterlichen Strenge nie aus ihm herausbekam. Doch je mehr Töne von Bach erklangen und in ihrer kühlen und ergreifenden Klarheit ein dichtes Klanggewebe schufen, umso mehr schien sich Johann äußerlich zu entfernen und sein Gesicht bekam eine unnatürliche Strenge und etwas völlig Unnahbares, welches Anna innerlich erschauern ließ. Jedoch konnte sie den Blick nicht vom Bruder wenden, der mit steifem Rückgrat und das Kinn mit einer Geste der Verachtung nach oben gerichtet hielt dastand und spielte und spielte.
Als die letzten Töne der „Chaconne“ verklangen, hatte Johann immer noch seine Wange auf seine Geige gelegt, so als wolle er ihren schwachen Puls ertasten.
Anna warf einen schnellen Blick auf die anderen, die sich nicht rührten. Kurz hatte sie den Eindruck, als ob die asketische Schönheit des soeben erklungenen Spiels die zuhörenden Menschen ihres Willens beraubt hätte.
Zumindest erschien ihr die Zeit zwischen dem letzten Ton dieser tadellosen Darbietung und dem begeisterten Applaus endlos. Anna bewunderte ihren Bruder und gleichzeitig verließ sie nicht ein unbestimmtes Gefühl der Unruhe, als sie den Bruder betrachtete, der mit großer Ruhe und Selbstsicherheit den lang ersehnten Moment der Revanche und der Bewunderung genoss.
Anna sah zu der großen Gestalt des Vaters hoch, der plötzlich vor ihr stand und sie zum Flügel schob.
„Spiel!“, befahl er mit rauer Stimme und drückte sie auf die Klavierbank. Anna starrte auf die weiß und schwarz schimmernden Tasten und ein tiefes Mitleid mit dem Vater und Johann erfüllte sie, als sie leicht den Kopf wendete und in die erwartungsvollen Gesichter der übrigen schaute. Johann hatte sich hingesetzt und lächelte ihr zu.
Ihre Unruhe schwand und eine große Leichtigkeit breitete sich in ihr aus, als sie mit flinken Fingern in die Tasten griff. Während sie spielte, spürte sie den Blick des Bruders so intensiv wie noch nie auf sich ruhen und sie wurde größer und größer. Sie lachte und jubelte innerlich, denn sie wusste, dass sie diesen Abend so gut wie noch nie spielte und dieses neue Bewusstsein gab ihr ungeahnte Kraft und Sicherheit.
Fast wie im Traum improvisierte sie mit einer ihr neuen diabolischen Freude Variationen einer ungarischen Volksweise als Zugabe.
Weder vernahm sie den donnernden Applaus, der nun folgte, noch hörte sie die anerkennenden Rufe des kleinen erlesenen Publikums, sie schaute ausschließlich auf den Bruder, der aufstand und auf sie zuging.
Beide schauten einander mit stillem Triumph an, einander so nah wie noch nie. Sie hatten gesiegt. Und als sie beide zusammen zu spielen begannen, Anna am Flügel und Johann auf der Geige, da verschwand für immer der Schatten des Vaters, und beide waren von dem Gefühl durchdrungen, jemand anders zu sein, ein Mensch, der in ihnen war und sie gleichzeitig in sich barg.
(c) Sylvia Eulitz
Johann bewunderte die Perfektion und Anmut dieses sorgfältig choreographierten Vogelfluges und spürte in sich ein süßes Gefühl der Ruhe.
Entspannt lehnte er sich zurück und genoss die sanften warmen Regentropfen auf seinem Gesicht.
Er spürte die hastig nahenden Schritte schon, bevor die rufende Stimme an sein Ohr drang.
„Johann!“
Unwillig drehte er den Kopf und richtete sich auf.
„Mein Gott, wo hast du so lange gesteckt?“
Johann griff nach den Händen seiner Schwester, die nun neben ihm auf der feuchten Erde kauerte und schaute wieder auf den See.
Anna lehnte sich kurz an ihn und schwieg. Der Regen glättete ihre vom Laufen geröteten Wangen und spielte ihr ein leises Lied. Sie schloss die Augen.
„Und, hast du ihn gesehen?“, unterbrach Johann schließlich den Regen und zwang die Gedanken der Schwester wieder in den Alltag zurück.
„Er wartet auf dich“, erwiderte Anna langsam.
„Damit du es weißt. Ich werde nicht spielen“, sagte Johann und schaute dabei weiter auf den kleinen See, in dem sich die Schatten der nahenden Dämmerung spiegelten.
Anna sprang auf.
„Das kannst du nicht tun! Du musst doch spielen!“ Sie starrte ihn an.
„Ich tue, was ich will.“ Der Bruder blieb unbarmherzig.
„Johann, er wird dich dies nie vergessen lassen, wenn du dich weigerst, vorzuspielen!“
Johann hob nun den Kopf und betrachtete seine Schwester nachdenklich.
„Spiel du für mich. Du bist ohnehin die Bessere“, bat er sie plötzlich.
„Was? Wie meinst du das? Ich kann nicht für dich spielen! Das würde er niemals dulden! Und das weißt du sehr genau! Du bist außerdem der einzige, den Vater auf seiner Geige spielen lässt! Und sie kommen doch, um dich zu hören ...“ Anna verstand ihren Bruder nicht mehr.
Johann seufzte leise und stand langsam auf.
„Lass uns gehen. Es ist schon spät.“ Er schaute sie nicht mehr an und lief mit schnellen Schritten zum Haus des Vaters zurück, ohne sich nach ihr umzudrehen.
Anna folgte ihm hastig und sah, während sie beide durch den Wald eilten, unentwegt auf den schmalen und geraden Rücken des Bruders. Wie sehr sie ihn liebte! Seit sie in der Lage war, sein Geigenspiel auf dem Flügel zu begleiten, hatte sich ihr Leben verändert.
Von früh an war der Vater ein strenger Zuchtmeister gewesen und hatte seine beiden musikalisch hochbegabten Kinder täglich den Preis des Musizierens spüren lassen.
„Ohne Schmerz kein Erfolg ... “
Dieser Grundlinie hatte er mit seinem Stock schmerzhaften Nachdruck verliehen und unbarmherzig schlug der Stock den Takt und die Finger der Kinder wund.
„Im Takt bleiben! Im Takt bleiben!“, schrie die dunkle Stimme aufgebracht und kontrollierte penibel die Intonation.
Unauslöschlich hatte sich Anna der Tag eingeprägt, als ihr Bruder dem Vater zum Geburtstag die berühmte „Chaconne“ in D-Moll von J. S. Bach vortragen wollte, an der er seit Wochen heimlich geübt hatte, und deren Interpretation ihr vollkommen zu sein schien. Doch schon nach wenigen Takten hatte der Vater ihn unterbrochen und dem sprachlosen Jungen den Geigenbogen aus der Hand gerissen.
„Was spielst du da?“ Die Stimme des Vaters war leise und kaum hörbar.
Johann stand stumm da, dem übermächtigen Vater ausgeliefert.
„Was spielst du da??“, schrie sein Vater ihn an. Die Luft schien zu erkalten und der väterliche Zorn ergoss sich über seinen Sohn, der seine Geige fest an sich drückte und wie ein Verurteilter vor der großen Gestalt des Vaters stand.
„Wie kannst du es wagen, dich an diesem Stück zu vergreifen, dieses, dieses wunderbare Meisterwerk! Du spielst es ohne Seele und ohne Präzision. Das ist nicht Bach!“ Die Stimme des Vaters dröhnte in ihren Ohren.
Annas Hände zitterten bis heute bei dieser Erinnerung, so, als hätte der Vater sie persönlich geohrfeigt. Sie hatte damals Angst, dem Blick des Bruders zu begegnen. Johann hatte darauf nichts erwidert, sondern behutsam die Geige eingepackt und mit lautlosen Schritten das Zimmer verlassen.
Von dem Tag an schwieg Johann nur noch und ertrug kommentarlos die Übestunden mit seinem Vater, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, seine beiden Kinder zu perfekt funktionierenden Musikern zu erziehen. Nach dem frühen Tod der Mutter war es ungewöhnlich, dass der erfolgreiche Geiger seine Kinder nicht auf ein Konservatorium schickte oder auf ein Internat, aber es vertrug sich nicht mit dem Ehrgeiz des Vaters, die musikalische Erziehung und Prägung seiner Kinder anderen zu überlassen. So blieben Johann und Anna zu Hause, es wurde Privatunterricht erteilt und beide Kinder erhielten eine exzellente musikalische Ausbildung.
Mit großem Erfolg, wie sich bald herausstellte. Joahnn vervollkommnete sein Geigenspiel unter der Aufsicht des Vaters und Anna entwickelte sich zu einer begabten und frühreifen Pianistin.
Doch niemals erlaubte der Vater dem Sohn, die Chaconne zu spielen. „Erst wenn deine Finger und deine Ohren soweit sind. Erst dann!“ So die väterliche Doktrin.
Johann spielte nie wieder ein Stück von Bach.
Beide akzeptierten stumm die Allmacht des Vaters und gehorchten und übten unablässig. In den langen Jahren des Eingeschlossenseins hatte sich ihr Geist an die Strenge der Disziplin und an dem ständigen Streben nach spielerischer Perfektion gewöhnt. Sie fühlten sich fremd und unwohl inmitten von lauten und lärmenden Menschen oder gleichaltrigen Kindern, die mit Musik nichts zu tun hatten. Mit ihren Instrumenten schufen sie sich ihr eigenes Reich und dieses Reich erschien ihnen als allgegenwärtiges Universum, welches ihnen keine Wünsche offen ließ.
Nur ein einziges Mal bekam die eiserne Schale einen Riss: am Tage der Beerdigung der über alles geliebten Großmutter.
Seit diesem Tag hatte sich etwas in Johann verändert. Es reichte aus, das Futteral seines Geigenkastens zu betrachten oder den Regen zu hören und dabei daran zu denken, wie er die Erde durchtränkte, oder den Geruch bestimmter Blumen zu spüren, die den Sarg geschmückt hatten, um in ihm ein unbestimmtes Gefühl der Sehnsucht auszulösen.
An solchen Tagen sah ihn Anna stumm am Fenster gelehnt stehen, die Augen blicklos ins Ungewisse gerichtet. Nie wagte sie es, ihn in diesen Momenten anzusprechen oder ihn zu stören, sie war sich nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt hören würde.
Vielleicht erahnte sie den bohrenden Schmerz, der ihr den vertrauten Bruder immer öfter als Fremden zeigte. Vielleicht spürte sie unbewusst die Verfassung und den zunehmenden Konflikt zwischen Vater und Sohn, aber was wusste sie schon?
Seit mehreren Jahren wühlte und nagte es in ihr. Es war eine Zeit, in der sie sich von der Musik und ihrem Bruder im Stich gelassen fühlte.
Johann wurde immer abweisender und unzugänglicher. Die ihn umgebende Düsterkeit und Strenge hatten Spuren in seinem jungen Gesicht hinterlassen liessen ihn älter erscheinen, als er tatsächlich war.
Tagtäglich ertrug er die unerbittlichen Präsenz des Vaters und das strenge Überitual des virtuosen Geigenspiels, welches keine Abweichung der Routine zu liess. Dennoch spürte er jenseits der vielschichtigen Melodie in seinen Träumen eine hartnäckige Stille, die ihn ausschloss. Diese Stille machte ihn rasend. Je mehr er übte und spielte, umso mehr schien sich das Ziel von ihm zu entfernen. Je mehr er sich nach Ruhe und Erfüllung sehnte, um so lauter tobte der Sturm in ihm.
Anna wusste, wie sehr sich der Bruder danach sehnte, Lob und Bestätigung seitens des Vaters zu erhalten, doch es schien unmöglich.
Sie betrachtete immer noch nachdenklich ihren Bruder, der unaufhaltsam mit langen Schritten vor ihr her lief, so, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Fest prägte sie sich die Gestalt des Menschen ein, den sie am meisten auf der Welt liebte und bewunderte. Denn ihr Bruder war ein geigerisches Ausnahmetalent.
Und der Vater muss es schon viel früher erkannt haben, überlegte Anna. Welches Gefühl muss wohl stärker in ihm gewesen sein? Die Liebe und Bewunderung auf solch einen Sohn oder etwa Neid oder gar Hass, dass ein zwölfjähriges Kind mühelos in der Lage war, die „Chaconne“ zu spielen, ein Paradestück, welches selbst für jeden Geigenvirtuosen eine nicht alltägliche technische und interpretatorische Herausforderung darstellte?
Schon längst hatte sich Anna mit ihrer Beobachterrolle abgefunden und bereitwillig den ersten Platz dem Bruder überlassen. Sie war sich der eigenen Leistungen kaum bewusst, so sehr hatte sie sich in den Hintergrund manövriert und der Vater nahm es als selbstverständlich hin, dass die jüngere Tochter am Flügel einen exzellenten Eindruck hinterließ.
Aber Johann! Anna spürte den Schmerz des Bruders so deutlich, dass sie ihre eigenen Sorgen vergaß. Sie schaute wehmütig auf die Gestalt des Bruders und dachte an den kommenden Abend, der ihr Angst bereitete. Irgendetwas würde passieren, das ahnte sie.
Denn Johann war nicht mehr zwölf Jahre alt. Und erst recht kein Junge mehr, der sich herumkommandieren ließ. Er wirkte älter als seine siebzehn Jahre. Und der heutige Abend würde kein gewöhnlicher Abend werden. Es hatten sich mehrere bedeutende Gäste angekündigt, um Johann spielen zu hören. Ein befreundeter italienischer Geiger, ein Wiener Musikkritiker und eine ihm nahestehende Baronesse, Anna hatte ihren Namen schon wieder vergessen. Natürlich war ihr klar, was es für Johann bedeuten musste; auf solch eine Gelegenheit hatte er jahrelang gewartet.
Anna verdrängte die Furcht vor dem, was passieren würde, wenn Johann das Haus verließ. Im Moment wünschte sie sich einfach nur, dass dieser Abend schon vorbei wäre.
Sie seufzte unhörbar auf, als Johann entschlossen die große Tür öffnete.
Die Geschwister traten in den dunklen Flur, der nur durch einen kleinen schwachen Lichtstrahl erhellt wurde und eilten in das große Musikzimmer, wo der Vater und seine Gäste bereits auf sie warteten.
Ein muffiger Geruch entströmte den strengen hohen Möbeln und den Wandteppichen, die an der Galerie zusammen mit den Ahnenbildern hingen.
Das Licht der untergehenden Sonne brach sich nun in den halb geschlossenen Fenstern, als die beiden das Musikzimmer betraten und der aus großen geometrischen Vierecken zusammengesetzte Fußboden im Musikzimmer knarrte bei jedem ihrer leisen Schritte.
Partituren, Noten und Bücher standen dicht(getrennt)gedrängt und ungeordnet in hohen Regalen und auf einigen Marmorsockeln waren Silberpokale und Medaillen zur Schau gestellt. Die Geschwister musterten die Gäste, die sich nun ihrerseits erhoben hatten und neugierig die Kinder betrachteten. Der Vater kehrte ihnen noch den Rücken zu, denn er war gerade dabei, seinem Gast die Musikinstrumentensammelung zu zeigen und zu erläutern. In seinem Besitz befanden sich einige äußerst kostbare und vollständig erhaltene alte italienische Geigen, darunter eine Cappa und eine Viola von den Gebrüdern Carcassi. Zudem besaß er ein wunderschönes altes Violoncello von Guarneri, welches sein Gast gerade bewundernd in den Händen hielt und vorsichtig nach allen Seiten hin drehte.
Johann grüßte kurz und verschwand dann in sein Zimmer, während Anna stumm stehen blieb und die Gäste beobachtete, die sich gedämpft unterhielten. Sie fühlte sich etwas verlegen und scheu setzte sie sich auf einen Schemel im Hintergrund des großen Zimmers. Als Johann wieder ins Zimmer eintrat, fasste er kurz ihre Hand und drückte sie. In der anderen Hand hielt er seine Geige, die im Kerzenlicht matt schimmerte.
Anna holte tief Luft und plötzliche Vorfreude auf das kommende Konzert durchströmte sie. Alle Blicke richteten sich nun auf den Jungen, der sich kerzengrade in der Mitte des Zimmers hinstellte. Das Licht fiel mit voller Stärke auf ihn.
Es wurde still im Raum, nur die Baroness neigte ihren sorgfältig frisierten Kopf mit einer solch merkwürdigen Gebärde leicht zur Seite, die Anna sofort an die Bewegung eines Vogels erinnerte. Kurz begegneten sich ihre Blicke und Anna erwiderte das freundliche Lächeln der elegant gekleideten älteren Dame.
Dann drang die leise Stimme ihres Bruders an ihr Ohr.
„Ich spiele die Chaconne.“
Ihre Hände verkrampften sich im Schoß und sie wagte es nicht, aufzublicken. Niemand sagte ein Wort. Nur Anna vernahm das scharfe Luftholen des Vaters, der sich steif hinsetzte. Johann hatte voller Konzentration die Augen geschlossen und seine Wange auf die harte Ebenholzmuschel seiner Geige gelegt.
Dann begann er zu spielen.
Die klagenden Akkorde der d-Moll Partita erfüllten mit klaren und durchsichtigen Strichen den Raum. Ganz am Anfang schien es ihr, als würde in seinen anfänglichen Bewegungen ein Hauch von kindlichem Trotz und Eigensinn durchschimmern, der selbe Eigensinn, den sie so gut an ihm kannte und den sein Vater trotz aller zuchtmeisterlichen Strenge nie aus ihm herausbekam. Doch je mehr Töne von Bach erklangen und in ihrer kühlen und ergreifenden Klarheit ein dichtes Klanggewebe schufen, umso mehr schien sich Johann äußerlich zu entfernen und sein Gesicht bekam eine unnatürliche Strenge und etwas völlig Unnahbares, welches Anna innerlich erschauern ließ. Jedoch konnte sie den Blick nicht vom Bruder wenden, der mit steifem Rückgrat und das Kinn mit einer Geste der Verachtung nach oben gerichtet hielt dastand und spielte und spielte.
Als die letzten Töne der „Chaconne“ verklangen, hatte Johann immer noch seine Wange auf seine Geige gelegt, so als wolle er ihren schwachen Puls ertasten.
Anna warf einen schnellen Blick auf die anderen, die sich nicht rührten. Kurz hatte sie den Eindruck, als ob die asketische Schönheit des soeben erklungenen Spiels die zuhörenden Menschen ihres Willens beraubt hätte.
Zumindest erschien ihr die Zeit zwischen dem letzten Ton dieser tadellosen Darbietung und dem begeisterten Applaus endlos. Anna bewunderte ihren Bruder und gleichzeitig verließ sie nicht ein unbestimmtes Gefühl der Unruhe, als sie den Bruder betrachtete, der mit großer Ruhe und Selbstsicherheit den lang ersehnten Moment der Revanche und der Bewunderung genoss.
Anna sah zu der großen Gestalt des Vaters hoch, der plötzlich vor ihr stand und sie zum Flügel schob.
„Spiel!“, befahl er mit rauer Stimme und drückte sie auf die Klavierbank. Anna starrte auf die weiß und schwarz schimmernden Tasten und ein tiefes Mitleid mit dem Vater und Johann erfüllte sie, als sie leicht den Kopf wendete und in die erwartungsvollen Gesichter der übrigen schaute. Johann hatte sich hingesetzt und lächelte ihr zu.
Ihre Unruhe schwand und eine große Leichtigkeit breitete sich in ihr aus, als sie mit flinken Fingern in die Tasten griff. Während sie spielte, spürte sie den Blick des Bruders so intensiv wie noch nie auf sich ruhen und sie wurde größer und größer. Sie lachte und jubelte innerlich, denn sie wusste, dass sie diesen Abend so gut wie noch nie spielte und dieses neue Bewusstsein gab ihr ungeahnte Kraft und Sicherheit.
Fast wie im Traum improvisierte sie mit einer ihr neuen diabolischen Freude Variationen einer ungarischen Volksweise als Zugabe.
Weder vernahm sie den donnernden Applaus, der nun folgte, noch hörte sie die anerkennenden Rufe des kleinen erlesenen Publikums, sie schaute ausschließlich auf den Bruder, der aufstand und auf sie zuging.
Beide schauten einander mit stillem Triumph an, einander so nah wie noch nie. Sie hatten gesiegt. Und als sie beide zusammen zu spielen begannen, Anna am Flügel und Johann auf der Geige, da verschwand für immer der Schatten des Vaters, und beide waren von dem Gefühl durchdrungen, jemand anders zu sein, ein Mensch, der in ihnen war und sie gleichzeitig in sich barg.
(c) Sylvia Eulitz