Chantal

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Chantal​

(aus meinem Roman "Doktor Heinrich Faust", Teil IV "Faust und die Mutmacher")

Die Frau verbeugt sich vor ihrem Publikum. Das Konzert ist zu Ende. Der tosende Applaus fordert sie mehrfach heraus. Sie winkt die Bandmitglieder zu sich. Gemeinsam verneigen sie sich auf breiter Bühne. Ihr Konzert hat die Fans erreicht. Sie ist glücklich, für diesen einen Moment. Sie fühlt nichts, als diesen einen Augenblick, sie denkt über nichts nach, auch nicht darüber, wie schnell dieser Augenblick vergehen würde.

Der Beifall, die Rufe, Schreie, begleiteten sie noch eine ganze Weile, auch als sie längst auf dem Hocker in der Garderobe saß. Nur langsam klang ihre innere Regung ab. Doch sie wollte nicht die Nüchternheit ihrer Umgebung, dies war ihr zutiefst unangenehm. Sie wollte sich weiterhin dem Gefühl ihrer Musik hingeben, es nicht loslassen.
Schon jetzt, wenige Minuten nach Ende, hatte sie Sehnsucht nach dem Publikum, nach der Erregung, die Kunst und Publikum in ihr erzeugt hatte. Irgendwie woll-te sie dieses Gefühl aufrechterhalten. Sei wehrte sich mit aller Kraft gegen die einsetzende Normalität. Deshalb griff sie schnell zu einer Whiskyflasche. Obwohl ein lan-ger Schluck aus dem, sie auf ihrer Tournee stets beglei-tenden Glas sie äußerlich beruhigte, innerlich war sie es noch lange nicht. Sie brauchte mehr, sie wollte mehr. Sie wollte anderes: Befriedigung ihrer Lust, die sich während des Konzertes so sehr stark aufgebaut hatte, aber mit des-sen Ende längst nicht aufgebraucht war und sich nun immer stärker in ihrem Körper fixierte. Und so gab sie sich vollkommen, allein und einsam wie sie sich fühlte, ihrer Lust hin. Es war die Lust ihrer Musik, ihres Lebens. Nach wenigen Minuten nur war sie erleichtert und kon-zentrierte sich auf die Normalität der Gegenwart. Ruhig konnte sie ihr Konzert als sehr gut einschätzen, ja, sie hatte alles gegeben, und ihre Fans haben ihr alles zurück-gegeben.
Als Chantal am folgenden Morgen, noch in der Dämmerung, nach einer langen, lustigen und lustvollen, ja feuchtfröhlichen Feier mit viel Gelächter in ausgelassener Stimmung nach Hause kam, legte sie sich nicht sofort hin. Sie war innerlich zu sehr aufgebracht, als dass sie jetzt schlafen konnte. Sie setzte sich ans Klavier und improvisierte Erinnerungen an das gestrige Konzert, wo-bei manche Klassiker mit ihren Melodien einflossen. Doch irgendwann verselbständigte sich ihr Spiel und es floss ein neuer Rhythmus über die Klaviatur. Sofort no-tierte sie sich diese Idee. Sie hämmerte auf die Tastatur ein, sie entlockte ihr lyrische Melodien und wieder harte Rhythmen. Auch ein paar Worte fielen ihr ein, die genau zu diesem Rhythmus passten, ihn unterstrichen, sogar steigerten: „Paris, Paris im August, Paris.“ Sie arbeitete rasch und konzentriert, nichts konnte sie stören, auch kein Verlangen nach Whisky. So beschrieb sie ein Blatt nach dem anderen mit Noten und Worten:

Paris, Paris.
Sie steht auf der Bühne,
Mikrofon in der Hand.
Sie steht auf der Bühne,
das Lied tönt mit Kraft.

Sie steht auf der Bühne,
Gitarre im Schlag,
und rhythmisch ihr Ton,
die Schreie der Fans.
Paris, Paris, Paris im August.

Paris, Paris
Sie steht auf der Bühne,
Violine singt mit,
Sie streicht ihren Bogen,
so tönt ihre Stimme.

Sie geht auf der Bühne,
im Schritt und im Sprung,
ihr Körper vibriert,
die Stimme ist sie!
Paris, Paris, Paris im August.​

Chantal stampfte mit den Schuhen aufs Parkett ihres Zimmers. Erst wild, dann im Takte ihres Spiels, dieses wurde leiser, aber schnell, rasend schnell glitten ihre Fin-ger über die Tastatur. Und wieder wurde sie heftig und ihr Spiel dröhnte durch das Haus. Neue Takte fielen ihr ein, ihre Melodien flatterten wie Fahnen im heftigen Wind und wurden von ihrem ersten Thema fortgetrieben, wie Blätter im Sturm weit von ihrem Baum. Chantal fand irgendwann wieder ihr Lied von Paris und kehrte zu ih-rem Thema zurück:

Paris, Paris,
Sie atmet Musik,
sie lebt die Musik,
die Stimme durcheilt
jede Zeit, jeden Raum.

Sie steht auf der Bühne,
du stehst hinter ihr,
sie bebt mit dem Körper
du nimmst es dir auf.
Paris, Paris, Paris im August.

Paris, Paris,
Sie fühlt deine Hand,
die Hitze im Körper,
du fühlst die Ekstase,
sie steigt ihr empor.

Die Brust bebt in ihr,
die Haut zuckt ihr sanft,
sie spürt deine Hand,
sie gibt ihr Musik.
Paris, Paris, Paris im August.

Paris, Paris,
Musik gibt ihr Leben,
sie will noch viel mehr,
explodiert auf der Bühne,
ihr Lied wird zum Schrei.

Fühlt stark auch ihr Körper
das Zittern im Leibe, sonst nichts.
Ihr Lied gibt ihr Rhythmus,
im Rhythmus wächst sie.
Paris, Paris, Paris im August​

Chantal war froh, denn sie hatte Neues geschafft. Ihr war es gut. Sie würde es am Nachmittag ihren Kollegen vor-spielen. Ob es anderen gefiele, wusste sie nicht. In die-sem Moment war das ihr auch egal. Das wichtigste war, sie konnte ihr Gefühl in Musik fassen und sie fand ihre innere Ruhe und Stärke dabei.
Nun wurde sie schnell müde, legte sich ins Bett, nicht ohne vorher für einen ruhigen Schlaf, wie sie mein-te, einen Whisky zu trinken, und schlief rasch ein. Rich-tige Erholung fand sie im Schlaf nicht. Ihr träumte wirres Zeug. Nicht vom Konzert, nein, von den Irrungen und Wirrungen der anschließenden Feier. Viel Wein war ge-trunken worden, auch „Jonny Walker“ nicht zu knapp. Irgendwann hatte sie zwei riesengroße Brüste in den Händen. An das Gesicht dieser Frau konnte sie sich auch im Traum wohl kaum erinnern, nur an ihre wunderschö-nen und großen grün-braunen Augen. Diese haben sich ihr so tief eingeprägt, dass ihr Traum eine kribbelnd-angenehme Dimension erhielt, die sie nicht mehr loslassen wollte. Doch dann träumte sie von einem heftigen Blitzlichtgewitter, das sie keinem Ereignis zuordnen konnte. Als sie schließlich bei Sonnenschein mit schwe-rem Kopf erwachte, konnte sie zwar die Träume nicht entwirren, aber auch nicht loswerden. Auf der rechten Seite konnte sie nicht liegen, links ebenso wenig, auch auf dem Bauch liegend fand sie keine Ruhe. So rief sie ihren Kaspar zu sich: „Kaspar, du musst mir helfen!“ Der nickte ihr einfach zu: „Stets zu Diensten, du weißt, mit mir kannst du immer rechnen.“ „Was bleibt dir auch an-deres übrig, als mir zu Willen zu sein, du kannst ja nicht anders.“ So sprach Chantal zu ihrem Kaspar, doch es war ein Gespräch mit der eigenen Fantasie. Seit Kindheitsta-gen war Kaspar in allen Situationen für sie da, wenn sie Sorgen hatte, wenn sie verliebt war und Liebeskummer hatte, auch in ihrer Lust und in ihrer Musik, im Auto, wenn sie in rasendem Tempo über die Autobahn fuhr. Ja, die Autobahn. Immer war Kaspar dabei. Und jetzt, was könnte Kaspar ihr jetzt geben? Ach ja, die Lust an der Musik. Und doch fehlte ihr etwas. Sie könnte heulen, Einsamkeit, wirre Träume, Sehnsüchte. „Komm, Kaspar, vertreib mir die Einsam¬keit, komm, liebe mich, jetzt.“ Mit Kaspar war es immer schön, auch wenn er mit ihr manchmal wegen ihrer Launen hart ins Gericht ging. Dennoch gab er ihr Hoffnung: Vor sich sah sie ein glück-liches Gesicht – ein Mäd¬chen oder eine junge Frau – wie gestern bei ihrem Konzert.
Sie lag noch im Bett, ihr Verlangen war groß. Nicht weit war der Kühlschrank mit der Whiskyflasche. Ein Schluck und ein zweiter, dann einen heißen Kaffee und wieder das Klavier mit dem neuen Song. Sie stockte beim Spiel. Der Schluss gefiel ihr nicht. Es holperte. Sie strich ein Wort, das andere, fügte neue hinzu, und strich wieder. Bis sie zufrieden schrieb:

Fühlt einzig ihr Körper
das Zittern im Leibe.
Ihr Lied gibt den Rhythmus,
der Rhythmus treibt sie.
Paris, Paris, Paris im August​

Musik, sie hätte toben können in diesen Takten. Das war ihr Glaube, das war ihr Leben, Musik und wieder Musik. Freude in fremden Augen. Dann kommen diese Augen ihr nah, wie sie es sich wünschte, der ganze Mensch, eine Frau, ein Mann. Ihr Zimmer dröhnte und bebte in ihrer Musik; es hätte auch die ganze Stadt sein können. So war es gut, so musste es sein. Jetzt fühlte Chantal sich wohl. Sie wirbelte durch ihr Zimmer, durch die ganze Wohnung und fiel dann erschöpft auf ihr Bett. Zwei Stunden schlief sie traumlos und fest. Bis es an der Wohnungstür klingelte und sie von ihrem Manager ins Studio abgeholt wurde.
 



 
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