Christbaum gesucht

3,50 Stern(e) 2 Bewertungen

Eva

Mitglied
Christbaum gesucht
In einem Garten stand traurig eine kleine Tanne zwischen hochgewachsenen, schönen Blaufichten. Nicht genug damit, dass sie klein war – nein, das Schlimmste war ihre außergewöhnliche Form: der Stamm schief geneigt, die eine Seite dicht bewachsen, die andere fast kahl. Die Nachbarfichten bemühten sich, ihr genügend Licht zukommen zu lassen, doch ihre ausladenden Zweige warfen nun einmal große Schatten. Seit der erste Frost alle Laubbäume in der Umgebung entblättert hatte, kam das Grün ihrer dichten Nadeln noch besser zur Geltung und stolz reckten sie sich in den blauen, eisigen Himmel. ‚Wer von uns wird wohl der nächste Christbaum werden?’ Tag für Tag stellten sie sich diese Frage auf’s Neue.
Eine abseits stehende Lärche gab sich keine Mühe, ihren Unmut zu verbergen. Sie war der einzige Nadelbaum weit und breit, der seine Nadeln im Winter verlor und nicht als Weihnachtsschmuck dienen konnte. Dementsprechend schlecht war ihre Laune. Neidisch schaute sie auf die makellosen Fichten, dann blieb ihr Blick an der halb verdeckten kleinen Tanne hängen. Sie spöttelte: „Na, Krüppeltanne, wie lange willst du denn noch hier stehen und den schönen Anblick verderben? Geh doch endlich und heiz den Kamin – dafür wärst du gerade recht.“
Die Worte der boshaften Nachbarin taten weh. Die Tanne beugte sich noch ein Stück tiefer und suchte Schutz unter ihren großen Freunden. Diese schüttelten zornig die Kronen und riefen zur Lärche hinüber: „Hey, du da. Deine Höhe mag noch so beeindruckend und deine Gestalt anmutig sein, trotzdem bist du nicht besser als ein hohler Baumstumpf, wenn du so über andere herziehst!“ Die Lärche wackelte entrüstet mit ihren zarten Zweigen und schwieg beleidigt.
Plötzlich ging ein Raunen durch die Wipfel: „Leise! Die Menschen kommen!“
Durch den frischen Schnee stapfte der Vater mit seinem Sohn über die Wiese in Richtung der Bäume. Unter seinem Arm klemmte eine Säge.
„Na, mein Junge, such nur den schönsten Baum aus.“ Sie schritten die Reihe ab und sahen sich unschlüssig an: „Die sind alle viel zu groß für unser Wohnzimmer“, meinte schließlich der Junge. „Dann nehmen wir nur die Spitze“, antworte der Vater. Aber der Junge protestierte: „Das wäre doch schade, den ganzen Baum zu fällen, wenn wir nur ein Stück brauchen. – Sieh mal, hier!“ Er wies auf die kleine Tanne, schüttelte altes Laub von ihren Zweigen, riss Unkraut aus, das die untere Baumhälfte umschlungen hatte und freute sich über seine Entdeckung. Der Vater verzog das Gesicht. „Weißt du, was uns deine Mutter erzählt, wenn wir mit so einem Besen zurück kommen? Nie und nimmer kommt der in unser Wohnzimmer. Das ist ja lächerlich!“ Der Junge, der schon befürchtete, Weihnachten ohne einen Christbaum feiern zu müssen, fragte vorsichtig. „Und wenn wir einen vom Markt holen?“ „Das kommt überhaupt nicht in Frage“, brummte der Vater. „Dort stehen heute nur noch Reste herum. Da fallen die Nadeln schon ab, bevor man die Kugeln aufgehängt hat. Ich säge erst mal diese mickrige Tanne ab, die bekommt hier sowieso zu wenig Licht. Sie wird uns als Feuerholz dienen. So ein prasselndes Kaminfeuer, das liebst du doch auch, nicht wahr?“ Die Tanne erschrak ebenso wie der Junge, doch der Vater hatte die Säge schon angesetzt und - ruckzuck – war der dünne Stamm durchgesägt. Während der Vater das Beil im Schuppen suchte, schleifte der Junge die Tanne in Richtung Haus und flüsterte: „Ach Bäumchen, es tut mir ja leid, aber ich konnte wirklich nichts für dich tun.“ Er lehnte die kleine Tanne an das Geländer der Terrasse, und sah sie mitleidig an.
Plötzlich schoss ihm eine Idee durch den Kopf. Er sauste in den Keller, kramte in Kisten und Kartons, schickte den Vater zum Kaffeetrinken in die Küche und werkelte heimlich voller Eifer draußen herum. Als der Vater nach ihm sehen wollte, staunte er nicht schlecht: die kleine Tanne war nicht wiederzuerkennen. Glücklich strahlend füllte sie genau die Ecke der Terrasse aus, ihre Zweige waren mit Äpfeln, Nüssen und glänzenden Kugeln geschmückt. Die Augen des Jungen leuchteten vor Freude. Das Fenster ging auf und die Mutter rief von innen: „Ach, wie hübsch! Was für eine gute Idee! Draußen wird sich unser Christbaum aber lange halten.“
Und wirklich: Selbst als der Weihnachtsschmuck schon längst wieder im Keller verstaut war, hatte die Tanne kaum eine Nadel verloren und es gab genug Platz, um an den Zweigen Meisenknödel aufzuhängen. Bald war sie der beliebteste Treffpunkt aller Vögel in der Umgebung. Die stolzen Blaufichten winkten mit ihren Wipfeln herüber und freuten sich, dass aus der kleinen unscheinbaren Tanne der wohl einzige Christbaum geworden war, der im Frühling sogar noch die Krokusse begrüßen durfte.
 



 
Oben Unten