DER UMWEG

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Maribu

Mitglied
Der Umweg

Einmal im Monat habe ich in dem nördlichen Teil der Großstadt geschäftlich etwas zu erledigen.
Ich bin an keine genaue Stunde gebunden und mache automatisch einen kleinen Umweg.
Irgendwie ziehen sie mich an, diese vertrauten Straßen!
Ich gehe langsam vorbei an den alten, hohen Häusern und blicke hinauf zu den Fenstern, um einen bekannten Menschen zu entdecken. Schaue auf zum Balkon mit dem Blumenkasten, der noch immer schief hängt, grün gestrichen wie damals und bepflanzt mit Stiefmütterchen und Vergißmeinnicht. - "Vergißmeinnicht" - wie sollte ich den Ort vergessen, an dem ich einen Teil meiner Kindheit verbracht hatte?
Ich gehe vorbei an den kleinen Läden, und Namen tauchen aus meiner Erinnerung auf. Sie sind noch da: Brodersen, Grotrian und Schramke. Ich bleibe vor ihren Schaufenstern mit Brotwaren, Gemüse und Fisch stehen. Die Auslagen interessieren mich weniger als ihre Gesichter, die, gealtert zwar, beim Bedienen das gleiche Lächeln wie früher ausstrahlen. Ich stehe so lange vor ihren Angeboten, bis ich ihre Aufmerksamkeit errege.
Zuerst ein flüchtiger Blick, und dann, wenn ich noch immer nicht gegangen bin, ein längeres, nicht unfreundliches Aufschauen. Sie erkennen mich nicht mehr; ich bin ein interessierter Kunde, weiter nichts!
Ich gehe vorbei an dem kleinen Holzgitter vor Lehmanns Wolladen. Hier, an dieser Stelle, bekam ich von Werner das
"blaue Auge", bevor wir für einige Jahre Schulfreunde wurden.
- Wo mag er jetzt wohnen? - Ob er überhaupt noch lebt? Im Telefonbuch und im Internet habe ich ihn nicht gefunden. Aber man kann ja den Namen der Frau annehmen. Wenn das der Fall wäre, würde ich ihn nie finden!
Plötzlich doch noch bekannte Gesichter. Ein ganz bestimmter Gang, etwas Markantes, was sich mir als Achtjähriger schon eingeprägt hatte. Ich möchte dann auf diese Menschen losstürzen und sie begrüßen. Erinnern Sie sich noch? würde ich fragen. 1944 sind wir uns irgendwo auf einer dieser Straßen begegnet. Oder: Sie haben mir doch immer geholfen, im Hochbunker auf das oberste "Luftschutzbett" `raufzukommen.
Doch ich habe keinen Mut, weil sie mich mit großen, fragenden Augen ansehen und nicht erkennen würden.
Aber vielleicht werde ich eines Tages doch jemanden ansprechen, denn im nächsten Monat komme ich ja wieder!
 
U

USch

Gast
Hallo Maribu,
schöner kleiner Text, in dem ich gut "mitwandern" konnte durch die alten Zeiten. Und diese Schüchternheit, mal jemanden anzusprechen. Da könntest du weitermachen und vielleicht eine Kurzgeschichte draus machen.
LG USch
 



 
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