Da wo die Welt aufhört...

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Cirias

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DA WO DIE WELT AUFHÖRT


In den Kronen der Bäume flüsterte und rauschte es wie von tausend gläsernen Flügeln. In Maras Augen erwachte der Gesang des Regens. Als ich noch ein Kind war, sammelte ich seine Geheimnisse Tropfen um Tropfen vom Rücken der Erde. Ich legte sie in eine Schale als wären es silberne Sterne. Gemeinsam hielten wir unsere Ohren an ihren Rand, als würde sie uns etwas erzählen. Aber wir sahen nur ihre Farben, wenn die Sonnenstrahlen sich darin brachen.

Die Regennachmittage im Hinterland waren düster. Das Land hatte all seine Farben in die Regenschatten gegeben. Wenn der Wind später Furchen in das Licht pflügte, blieben kleine graue Rinnsale zurück.
Mara und ich verbrachten als Kinder unzählige dieser Nachmittage im Hinterland. Dort, in der mittelhessischen Region zwischen Marburg und Biedenkopf waren wir aufgewachsen. Viel später bekam das Wort `Hinterland´für mich eine andere Bedeutung. Es war das Land dahinter, das Land das man nicht sofort sah, eines das man leicht übersah, ein Land voller Geheimnisse und unausgesprochener Dinge.
Wir lebten in einem kleinen Dorf, umgeben von Wiesen und Wäldern, die sich wie erstarrte Wellen über die Hügellandschaft gelegt hatten. Der Bus, der uns jeden Tag in die Schule brachte, fuhr durch die Dörfer des Hinterlandes. Mittags rannten wir zu unseren Großeltern, denn unsere Eltern kamen erst abends nach Hause. Mara besuchte die selbe Klasse wie ich, obwohl sie ein ganzes Jahr älter war. Sie war auch fast einen Kopf größer als ich, hatte kastanienbraune lange Haare, dunkle Sommersprossen im Gesicht und ein Paar strahlender blauer Augen. An den meisten Nachmittagen liefen wir in den Wald oder zu den hohen Wiesen über dem Dorf, wo es einen Bach und kleinere Teiche gab. Es geschah, dass Mara manchmal stundenlang auf dem Boden hockte und nicht sprach. Sie sprach tagelang kein Wort, auch in der Schule nicht. Für die anderen war Mara einfach nur verrückt. Für mich war sie die erste und letzte große Liebe meines Lebens.

Wenn wir uns erinnern, tun wir das manchmal mit einer fast schmerzlichen Präzision, so als könnten wir ein Detail übersehen oder als würde das etwas ungeschehen machen.
Ich erinnere mich an jenen Regennachmittag im Hinterland, als hätte die Zeit dort ein Loch bekommen, eine Schwelle über die man einmal tritt ohne jemals wirklich zurückzukehren.

Mara und ich waren vor dem plötzlichen Sommerregen in die Ruine einer ehemaligen Stallung geflohen. Schwer atmend warfen wir uns in das Heu. Mara lachte. Sie wischte sich den Regen aus dem Gesicht und küsste mich auf den Mund. Es war das erste Mal. Ihr Kuss brannte auf meinen Lippen. Wir lagen eine ganze Weile still nebeneinander und lauschten auf den Regen.
„Wer zuerst den Schatz findet!“, flüsterte sie plötzlich in mein Ohr. Wir sahen uns an und rannten wie auf ein geheimes Zeichen los. Der "Schatz" war ein silbernes Kästchen, das wir im letzten Jahr in der Mitte des Teiches versenkt hatten, um im Sommer danach zu tauchen, wobei es eigentlich nur darum ging, wer am längsten von uns beiden die Luft anhalten konnte.

Mara war zuerst am Teich. Auf dem schwarzen Wasser spiegelten sich die Bäume. Wir zogen uns aus und tauchten in das warme Wasser. Ich sah Mara zur Mitte des Teiches schwimmen. Plötzlich verschwand sie. Ich tauchte unter die Wasseroberfläche. Mein Körper schoss in die Tiefe. Nach einer halben Ewigkeit, so schien es mir, berührten meine Hände den schlammigen Grund. Ich hielt den Atem an so lange ich konnte. Zwischen meinen Fingern spürte ich nichts als Schlamm und faulende Äste. Hastig schwamm ich nach oben. Der Himmel begann sich zu drehen und mein Körper wurde ganz leicht und fühllos.
Von Mara war nichts zu sehen.
„Mara?“
Ihre Sachen lagen noch am Ufer.
„Mara!“
Ich lief um den Teich, starrte auf das dunkle Wasser und war mir doch sicher, dass sie gleich irgendwo hinter den Bäumen auftauchen würde und mich auslachte. Ich rief nach ihr, aber alles blieb still. Ich hätte Hilfe holen müssen, doch ich zog mich an und blieb am Ufer des Teiches sitzen, bis es dunkel wurde. Dann nahm ich Maras Sachen und lief zurück ins Dorf.
Die Feuerwehr und die Leute im Dorf suchten bereits nach uns. Als ich alles erzählt hatte, begannen sie sofort nach Mara zu tauchen. Spät in der Nacht kam meine Mutter ins Zimmer und sagte mir, dass sie Mara gefunden hätten. Ich weiß noch, dass sie `gefunden´sagte und nicht `tot´. Aber ich wusste auch so, dass Mara nicht mehr lebte.


Zwei Tage später stand ein Bericht im Hinterländer Anzeiger . Mara war ertrunken. Warum wusste niemand, aber ich wusste, dass Maras Herz krank war. Wenn sie es auch nicht sagte, wurde es mir doch klar, als ich mir unsere Nachmittage in Erinnerung rief, ihre plötzliche Versunkenheit manchmal, der Ausdruck auf ihrem Gesicht, so als sehnte sie sich danach, sich irgendwo festzuhalten.

Mara fehlte mir. Es war, als wäre die Welt um mich herum im Dunkel versunken. Die Menschen im Hinterland halten zusammen, aber wirklich trösten konnte mich niemand. Ich begann mich schuldig zu fühlen an Maras Tod. Viel später nahm ich manchmal den kleinen Koffer, in dem ich ihre Sachen aufgehoben hatte und fuhr ziellos durch das Hinterland. Ich bildete mir ein, sie wäre jetzt hier bei mir. Dann verschwammen die Hügel und der Schatten der Wälder in einem noch weicheren Licht, als würde ich die Welt mit ihren Augen sehen. Die kleinen Flüsse und Bäche leuchteten wie ein silbrig geädertes Geflecht auf der Haut eines Riesen aus dem milchigen Licht der Spätherbstsonne. Schmale Straßen durchschnitten die Landschaft und verbanden die Dörfer des Hinterlandes miteinander. Auf einer Anhöhe über dem Dorf, in dem Mara und ich aufgewachsen waren, blieb ich sitzen. Da wo das Hinterland aufhörte, irgendwo jenseits des Horizonts, hatte für uns auch die Welt geendet. Für mich hatte die Welt aufgehört zu atmen als Mara starb. Ich lebte weiter. Ich zog in die nahe Stadt, aber mein Herz schlug in einem mir fremd gewordenen Takt. Es war ,als würde es die Dinge die es sah, nicht mehr verstehen.
 

clarat

Mitglied
zwei

Hallo Cirias,

eine schöne, stimmungsvolle Geschichte.

Ich finde, dass sie in zwei Teile zerfällt, dass es gewissermaßen eigentlich zwei Geschichten sind. Das eine ist die Erinnerung an die Kindheit, die Freundin und ihren Tod. Das andere ist das Heute, das Leben mit der Erinnerung. Ich habe das Gefühl, dass der Text sich zwischen diesen beiden nicht so recht entscheiden kann. Nur so mein Eindruck...

Am Anfang des Textes hab ich Schwierigkeiten mit dem Regen, der in den Augen Maras hörbar wird. Das ist ein schiefes Bild. Das folgende Bild mit den Geheimnistropfen ist so schön und poetisch, dass Mara hier vielleicht noch gar nicht nötig sind.

Liebe Grüße von
clarat.
 



 
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