Das Amulett

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MelP

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Das Amulett

Ich hatte die Kette beim Kramen in alten, staubigen Kisten auf dem Dachboden entdeckt. Schon lange hatte ich mir vorgenommen, endlich Ordnung auf dem alten Speicher zu schaffen. Doch nachdem ich nun endlich tatkräftig angefangen hatte, den Inhalt der offensichtlich wirklich alten Kisten zu sichten, war ich schnell der Faszination der Dinge erlegen, die ich Stück für Stück zu Tage förderte. Da waren alte Spielsachen aus Holz, Stammbücher meiner Familie, Porzellan und Silberbesteck aufgetaucht. Die Müllsäcke, die ich zur Entsorgung des Ramsches mit nach oben genommen hatte, waren auch nach zwei Stunden Aufenthalt noch genauso leer wie zuvor. Am Boden einer lädierten Pappkiste entdeckte ich schließlich ein kleines Kistchen, das mit verschlissenem, rotem Samtstoff bezogen war. Neugierig ließ ich den Verschluss aufklappen und entdeckte erfreut eine angelaufene Silberkette mit einem Anhänger. Der Anhänger bestand ebenfalls aus Silber. Feine Linien liefen kreuz- und quer übereinander und bildeten ein wunderhübsches, symmetrisches Knotenmuster. Alle Linien schmiegten sich in sanftem Schwung oval verlaufend um einen glutroten Edelstein und bildeten so dessen Fassung.

Aufgeregt tappte ich die Bodentreppe hinunter in meine Wohnung, kramte ein Silberputzmittel und Lappen aus dem Küchenschrank und begann vorsichtig mein Fundstück zu polieren. Als ich es nach einer Weile betrachtete, wirkten die Silberlinien noch feiner und verschlungener und der Stein strahlte und funkelte im Licht. Ich konnte mich gar nicht satt sehen. Als ich es gerade umdrehen wollte, um die Rückseite zu reinigen, begannen die Linien auf einmal sich zu bewegen. Wie kleine Schlangen huschten sie geschmeidig um den Stein herum. Sie wimmelten und wanden sich und krochen immer schneller kreuz und quer übereinander. Wie erstarrt blickte ich auf den Anhänger und war kurzfristig außerstande, ich zu bewegen. Als eine der kleinen Schlangen begann, sich aus dem Gewirr zu lösen und sich vorsichtig tastend auf meine Handinnenfläche zubewegte, schrie ich und ließ das Schmuckstück angeekelt auf den Boden scheppern.

Erstaunt blickte mein Mann aus der Tür seines Arbeitszimmers und fragte besorgt: „Hast du dir wehgetan, ma petite?“. „Ähm, äh, nein. Ich...doch, ich hab mich grad geklemmt.“ stammelte ich. Wie hätte ich ihm erklären sollen, dass gerade ein Kettenanhänger in meiner Hand zum Leben erwacht war? „Oh, tut es sehr weh? Soll ich etwas zum Kühlen besorgen?“ fragte er stirnrunzelnd. „Nee, geht schon wieder. War wohl mehr der Schreck.“ winkte ich ab. Schulterzuckend wandte er sich ab und huschte in sein Arbeitszimmer zurück. Mit spitzen Fingern hob ich den Anhänger vom Boden auf und packte ihn wieder in das kleine Kistchen zurück. Der Spaß an meinem Fundstück war mir vorerst verdorben und ich legte es auf die Fensterbank im Wohnzimmer.

Nachdem ich die misslungene Entrümpelungsaktion abgebrochen hatte, kuschelte ich mich auf der Couch in eine dicke Wolldecke und las. Leise hörte ich aus Philippes Arbeitszimmer das Klappern der Computertastatur, ansonsten war es absolut still. Doch dann durchbrach ein leises „Klack“ die Stille. Ich blickte von meinem Buch hoch. Das Geräusch war ganz aus der Nähe gekommen. Wie von Ferne erklang auf einmal ein Geräusch wie von vielen dumpfen Trommeln. Ich ließ den Blick durch das Wohnzimmer schweifen und blieb bei dem Schmuckkästchen hängen. Der Verschluss war aufgesprungen und der Anhänger schien aus dem Kästchen heraus zu leuchten. Das Geräusch der Trommeln wurde lauter. Ich legte mein Buch zur Seite und ging langsam auf den Anhänger zu. Vorsichtig warf ich einen Blick darauf und entdeckte, was ich schon geahnt hatte. Die kleinen Schlangen krochen erneut um den Stein herum und dieser glühte, als hätte jemand dahinter eine Kerze entzündet. Mein Herz begann schneller zu schlagen und mit einer hektischen Bewegung schlug ich den Deckel des Kästchen kräftig zu, dass der Verschluss einrastete. Für einen Moment schien das Trommelgeräusch direkt aus meinem Wohnzimmer zu kommen und erstarb dann mit einem Mal, so als ob es nie da gewesen wäre.

Meine Gedanken begannen Purzelbaum zu schlagen. Ich konnte mir nicht erklären, wie das eben hatte passieren können. Waren vielleicht meine Nerven so überreizt, dass ich mir das eben und auch vorhin eingebildet hatte? Gleichzeitig überlegte ich, wohin ich das Kistchen bringen konnte. Wegwerfen wollte ich es irgendwie auch nicht, aber noch viel weniger wollte ich es in unmittelbarer Nähe herumliegen haben. Ich entschloss mich, es auf den Dachboden zurückzubringen. Mit dem Kästchen in der Hand huschte ich sogleich die Bodentreppe hinauf.

Kurz vor Ende der Treppe blieb ich mit dem Hausschuh unter einer Stufe hängen und schepperte bäuchlings auf den Fußboden des Dachgeschosses. Das Kistchen fiel mir aus der Hand und landete geöffnet direkt vor meiner Nase. Der Anhänger war herausgefallen und lag mit der Rückseite nach oben ebenfalls direkt vor mir. Die Rückseite war noch ein wenig angelaufen, ich hatte sie vor Schreck nicht mehr zu Ende gereinigt. Doch als er nun so dicht vor meiner Nase lag, erkannte ich eine Gravur auf der Rückseite. Dort stand in geschwungenen Buchstaben „Obsédé“. Mein Französischunterricht war lange her, doch das Wort kam mir bekannt vor. Ich murmelte es ein paar Mal leise vor mich hin während ich auf den Anhänger starrte.

Diesmal begannen die kleinen Schlangen nicht langsam, sich zu bewegen, sondern krochen blitzartig um mein Handgelenk herum. Von Panik ergriffen wollte ich den Anhänger wieder wegschleudern, doch die kleinen Biester hatten sich schon um meine Finger gewickelt und krochen geschwind meinen Arm hinauf. Mit der freien Hand versuchte ich, sie abzureißen, doch ich kleinen Köpfe bissen schmerzhaft nach der anderen Hand. Dort wo die Silberschlangen entlang krochen, breitete sich eine enorme Hitze auf meiner Haut aus. Je höher sie an meinem Arm krochen, desto unerträglicher wurde sie. Gleichzeitig hörte ich wieder leise die Trommeln. Mein Verstand drohte kurzzeitig sich in den Wahnsinn zu verabschieden und ich sprang auf. Doch dann fiel mir Philippe ein. Ich begann nach ihm zu brüllen und versuchte weiterhin mit meiner freien Hand die kleinen Monster trotz der Bisse von mir abzureißen. Bösartig züngelten sie, wenn ich eine erwischte und auf den Boden warf. Wieder brüllte ich nach Philippe. Meine Stimme drohte angesichts der Angst zu versagen und brach fast. Das Trommelgeräusch war wieder lauter geworden. Grausam monoton hämmerte der Rhythmus in meinen Ohren. Immer höher krochen die widerlichen, brennend heißen Dinger an meinem Arm. Für jede, die ich abreißen konnte, schienen fünf neue an meinem Körper heraufzuschlängeln. Das Zischen der Köpfe wurde ständig lauter und schienen mein Rufen nach Philippe, das immer leiser wurde, fast zu übertönen. Inzwischen reichte mir das Geflecht aus Köpfen und Körpern bis zur Schulter. Das Brennen wurde unerträglich und mein Körper glühte wie im Fieber, die ersten Schlangen wimmelten um meinen Hals herum und begannen, mir langsam die Luft abzudrücken. Die Trommeln hatten eine gigantische Lautstärke erreicht und schienen fast mein Trommelfell zu zerfetzen. Verzweifelt versuchte ich, die Wesen von meinem Kehlkopf fernzuhalten um weiteratmen zu können, doch gegen die wachsende Übermacht waren meine Hände hilflos.

Als mir unter dem ständig steigenden Druck die Luft wegblieb, wurde mir schwarz vor Augen. Kurz bevor ich mein Bewusstsein verlor, schien das Gezischel im Takt der Trommeln im Chor in mein Ohr zu flüstern: „Obsédé, obsédé...“.

„Wach auf! Bitte, Kleines! Wach auf!“ Jemand schüttelte mich fürchterlich durch und klatschte mir von Zeit zu Zeit ein Ohrfeige ins Gesicht. „Lisa! Was ist mit dir? Du musst aufwachen!“ Ich schlug wunschgemäß die Augen auf und blickte in Philippes panikgeweitete braune Augen. Sein dunkles Haar war ihm ins Gesicht gerutscht und er wollte mir gerade wieder eine Backpfeife verpassen. Mitten in der Bewegung stoppte er. „Lisa! Na endlich! Was war denn los, Kleines? Ist dir schwindelig geworden?“ Philippes Mund umspielte ein zögerlich-besorgtes Lächeln, gleichzeitig zog er mich vorsichtig in seine Arme. Ich schüttelte den Kopf. „Die Schlangen. Sie waren überall. Ich habe nach dir gerufen.“ stammelte ich. Verständnislos blickte Philippe mich an. Sein Blick fiel auf etwas neben mir auf dem Boden. Ich drehte den Kopf und sah den Kettenanhänger dort liegen. Mein Körper versteifte sich und wie ein heißes Messer fuhr mir erneut die Angst durch den Magen. „Da. Da waren die Schlangen.“ Ich deutete auf den Anhänger.

Philippe blickte seltsam andächtig auf das Schmuckstück auf dem Boden und begann ein wenig zu lächeln. „Was ist?“ fragte ich. „Warum grinst du so?“ Er riss seinen Blick von dem Anhänger los und blickte mich immer noch lächelnd an. „Du hast Grandmeres Amulett gefunden. Ich hatte es fast vergessen.“ Verständnislos blickte ich meinen Mann an. „Dann hast du tatsächlich die Schlangen gesehen? Ich dachte, nur Eingeweihte könnten das...“ Sein Blick schien in Weite Ferne zu schweifen. „Wovon redest du? Du weißt von den Schlangen?“ ich richtete mich auf und blickte Philippe direkt in Gesicht. „Natürlich.“ antwortete er wie selbstverständlich. „Meine Großmutter war eine große Voodoo-Priesterin, als wir noch auf der Insel lebten. Sie hat lange nach einer Nachfolgerin gesucht, nachdem wir nach Deutschland gekommen waren, aber niemand hatte sich als geeignet erwiesen. Nur wenige können die Besessenheit ertragen.“ Jetzt fiel mir ein, was das eingravierte Wort bedeutete. Besessen sein.

Wie in Trance fuhr er fort: „Die meisten haben den Verstand verloren, wenn sie die Schlangen sahen, sagte Grandmere. Sie brauchen eine mächtige Priesterin. Sie sagte kurz bevor sie starb, dass die Schlangen sich früher oder später selber die richtige Priesterin suchen würden.“ Die Trommeln dröhnten jetzt wieder dumpf und laut in meinen Ohren. Philippe griff nach dem Amulett und machte Anstalten, es mir um den Hals zu legen. Ängstlich wich ich vor dem Schmuckstück zurück. Der Schlag der Trommeln wurde schneller und lauter. „Keine Angst, ma chere.“ flüsterte Philippe. „Sie werden dir nichts mehr tun.“ Vorsichtig legte er mir die Kette um den Hals. Der Trommelwirbel legte für einen Moment an Intensität zu und schwoll dann zu einem gemächlichen „Dumm, dumm, dumm“ ab. Das Amulett schmiegte sich warm und wie selbstverständlich um meinen Hals, so als hätte es nie einen anderen Platz gehabt. Ein wohliges Kribbeln durchfuhr meinen Körper und ich wusste, ich würde die Nachfolge von Grandmere antreten.
 
Hallo MelP,

anfangs dachte ich noch : Nicht schon wieder eine der "Ich finde ein Amulett auf dem Dachboden-Geschichte", aber ich hatte den Gedanken noch nicht zu Ende da hat mich die Geschichte gefangen genommen.

Sehr schön erzählt, du hast mich richtig in deinen Bann gezogen. Und die Idee mit dem Voddoo hat mir sehr gefallen. Ich hoffe, wir bekommen noch was von Lisa zu lesen und diese Story macht nur den Auftakt.

Bis bald,
Michael
 

MelP

Mitglied
Amulett

Hallo Michael,

danke für Dein Kompliment:), allerdings fällt es mir meist schwer, Fortsetzungen zu schreiben. Da ist immer der Reiz, eine neue Geschichte zu erzählen!
Lieben Gruß

Mel
 
Hallo MelP,
Micha hat völlig recht, eine gute Geschichte. Natürlich ist hier der Voodoo ein bisschen aufgesetzt und verströmt nicht seinen religösen, bedrohlichen Charakter. Aber ich glaube, das wolltest du auch nicht.
Mir gefällt die schlussendliche Hinnahme des Gegebenen, der Vergangenheit, des Vererbten als Schicksalsgegebene Aufgabe.

Übrigens ein schöner Beitrag zum Thema unbelebter Gegenstand, falls dir das aufgefallen ist.

Schönen Gruss, Marcus
 

MelP

Mitglied
Unbelebter Gegenstand

Hallo Marcus,

das mit dem unbelebten Gegenstand war Motivation für die Geschichte! Und daher auch keine tiefergehende Beschäftigung mit dem Hintergrund des Voodoo (davon weiß ich nämlich nicht so viel;-)

Viele Grüße
Mel
 



 
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