Das Band des Lebens

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Amadis

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Vor Zeiten regierte im großen Königreich am Fluss der gütige König Ferendar. So beliebt war Ferendar bei seinem Volk, dass an dem Tag, als der König die bevorstehende Hochzeit seiner lieblichen Tochter Fendine mit Prinz Derendil von Tenurien bekannt gab, großer Jubel anhub unter den Menschen.
Allenthalben wurden die Häuser mit Blumen und Bändern geschmückt, sah man strahlende, fröhliche Menschen, die sich auf das große Ereignis freuten. Des Abends feierte man in den Gärten, auf den Plätzen und in den Straßen. Fröhliche Musik klang durch die Gassen der Städte, kurz: das Volk Ferendars war glücklich.
Die beiden glücklichsten Menschen hingegen waren Prinzessin Fendine und Prinz Derendil, denn sie waren sich in inniger Liebe zugetan. In den lauen Frühlingsnächten saßen die Liebenden im Schlossgarten und hielten sich an den Händen. So saßen sie über Stunden und sprachen kein Wort. Der Kopf der Prinzessin ruhte an der Schulter des Liebsten. Selbst der Himmel schien sich mit ihnen zu freuen, denn er präsentierte sich in seiner klarsten Sternenpracht und der Vollmond erhellte den Schlossgarten mit silbrigem Schein.
Der Tag der Vermählung rückte näher und nach und nach trafen Gäste aus allen Teilen des Reiches ein. Würdenträger aus den entferntesten Ländern flanierten in fremdartigen Gewändern durch die Hauptstadt, wobei sie stets neugierige Blicke der Bürger auf sich lenkten. Es war eine aufregende Zeit für die Menschen im Reich Ferendars.
Als jedoch der große Tag gekommen war, fiel ein Schatten über das Land. Die Prinzessin war in einen tiefen Schlaf gesunken, aus dem sie nicht mehr zu erwachen schien! Die eilends herbei gerufenen Heiler versuchten vergebens, die Schlafende zu wecken. Große Trauer hub an. Vor allem der König und Prinz Derendil weinten verzweifelte Tränen. Ferendar schickte Boten in alle Himmelsrichtungen aus, vom Schicksal der Prinzessin zu künden und Hilfe zu erbitten.
Monde gingen ins Land. Ferendars Haar, früher voll und dunkel, wenn auch von silbrigen Fäden durchzogen, war schlohweiß geworden. Sein Gesicht verhärmt, die Lippen schmale Striche. Schweigend nahm er gemeinsam mit Prinz Derendil seine Mahlzeiten ein, wortkarg und ohne Anteilnahme verrichtete er sein Tagwerk. Das Königreich am Fluss hatte seinen Frohsinn verloren.
Da geschah es, dass eines Tages als die Blätter sich bereits herbstlich färbten, eine blinde Frau das Schlosstor passierte und den König zu sprechen verlangte. Der Haushofmeister, vom Wunsch der fremden Frau in Kenntnis gesetzt, wollte sie bereits abweisen, als sie den Grund ihrer Anwesenheit offenbarte: sie wolle versuchen, der schlafenden Prinzessin zu helfen!
Da eilte der Haushofmeister zum König, der, das Haupt schwer in eine Hand gestützt, auf seinem Thron saß. Während des langen Sommers waren unzählige Menschen mit dem Versprechen im Thronsaal erschienen, der Prinzessin zu helfen. Allein, nicht einer von ihnen hatte sein Versprechen einlösen können. Ferendar war es müde, immer wieder zu hoffen – und genauso oft enttäuscht zu werden. Der Haushofmeister musste all seine Überredungskunst aufwenden, bevor der König ihm gestattete, die Frau vorzulassen.
„Nun“, sprach der König streng, als man die Fremde herein führte. „Wie ist dein Name und was hast du mir zu bieten, was meine Heiler und all die Weisen, die bereits hier waren, nicht tun konnten?“
„Ich heiße Kiruna. Ich kannte einst einen jungen Mann, dem ähnliches widerfuhr, wie Eurer Tochter, mein König“, sagte die Frau mit fester Stimme.
Der König richtete sich überrascht auf.
„Wie verhielt es sich mit diesem Mann?“, verlangte er zu wissen.
„Lasst mich zu Eurer Tochter bringen, mein König, dann kann ich euch kundtun, ob ihr zu helfen ist.“
Eilig wurde die blinde Frau ins Gemach der Prinzessin geführt. Sie bat darum, ihre Hand auf die Stirn der Schlafenden zu legen. Nachdem dies geschehen war, sprach sie einige unverständliche Worte. Dann herrschte für Minuten Schweigen. Der König maß Kiruna mit bangem Blick. Nach einer Weile löste sie ihre Hand von der kühlen, trockenen Stirn der Prinzessin.
„Es ist, wie ich vermutete“, teilte sie den Wartenden mit. „Das Band des Lebens!“
„Was bedeutet das?“, fragte Prinz Derendil, der herbeigeeilt war, als er von den Geschehnissen Kenntnis erhielt.
„Es geschieht nur selten, dass zwei Menschen in der gleichen Sekunde am Tag der Sommersonnenwende geboren werden. Noch seltener wird in solchen Fällen ein ewiges Band zwischen diesen beiden Menschen geknüpft. Geschieht einem der beiden ein Unglück, so fällt der andere solange in einen tiefen Schlaf, bis der erste wieder erwacht. Stirbt der Verunglückte, so erwacht der Schlafende nie mehr wieder.“
„Sprich weiter!“, forderte Ferendar sie auf. „Gibt es einen Weg, meiner Tochter zu helfen?“ Gram und Hoffnung spiegelten sich gleichsam in seinem Gesicht.
Kiruna nickte langsam.
„Ihr müsst den Menschen finden, mit dem sie verbunden ist. Eile ist geboten! Ich fühlte, dass er noch lebt, aber nur sehr schwach! Sein Name ist Eikor und er lebt in der Provinz Shab. Das Dorf heißt Eibtal. Bringt ihn her, bevor er stirbt, sonst ist die Prinzessin verloren.“
„Ich werde sofort aufbrechen!“, verkündete Derendil und machte Anstalten, den Raum zu verlassen.
„Eile, mein Sohn!“, rief ihm der König nach.
Derendil ritt wie der Wind. Sein Schimmel streckte sich, galoppierte schneller, als je zuvor ein Pferd, als wisse der Hengst, wie wichtig ihre Mission war.
Am Abend des dritten Tages, nach langen, beinahe rastlosen Stunden, erreichte der Prinz auf seinem braven Tier den Flecken Eibtal. Die Beine des Hengstes zitterten und als der Prinz am Ortseingang innehielt und vom Rücken des Tieres absprang, brach es zusammen und starb vor Erschöpfung. Derendil, selbst beinahe zu Tode erschöpft, stand einen Moment erschüttert neben seinem Reittier, kniete dann nieder und legte die Hand auf den Hals des Pferdes.
„Hab Dank, mein alter Freund. Sei gewiss, dass dein Opfer nicht vergebens war!“
Derendil richtete sich auf. Inzwischen waren einige Dorfbewohner auf ihn aufmerksam geworden und musterten den abgerissen aussehenden Fremden und das tote Tier mit einiger Verwunderung.
„Guten Abend, ihr braven Leute. Ich bin Prinz Derendil und suche einen Mann mit Namen Eikor.“
Ein bärtiger Riese trat vor und lachte dröhnend.
„Du willst ein Prinz sein, Bürschchen“, grollte er und wollte sich schier ausschütten vor Lachen.
Derendil trat vor den Mann hin und schaute zu ihm auf. Plötzlich schien dieser zu schrumpfen, sein Lachen verstummte, als er in die grauen Augen des jungen Prinzen schaute.
„Wer bist du, dass du es wagst, solche Reden zu führen?“ Derendil hob die rechte Hand mit dem Siegelring seines Geschlechts. „Sieh her und erkenne den Ring des Königreichs Tenurien!“ Er sprach leise, aber im Umkreis schien jedes Geräusch erstorben zu sein aus Ehrfurcht vor seinem Stande. So konnte jeder ihn verstehen.
Der riesige Mann trat einen Schritt zurück und senkte das Haupt.
„Verzeiht mir Herr!“ Seine Stimme war leise und jeglicher Spott verschwunden.
Eine Frau, die bisher im Hintergrund gestanden hatte, trat vor. Sie ging gebückt, als liege große Last auf ihren Schultern und ihre Augen waren gerötet, als habe sie geweint.
„Was ist Euer Begehr, Herr? Eikor ist mein Sohn aber …“
Sie brach ab und Tränen rannen über ihr Gesicht. Derendil trat vor und schaute sie mitleidig an.
„Ihr müsst nicht weiter sprechen, gute Frau. Eikor ist krank oder er hatte einen Unfall.“
Sie schaute ihn überrascht an.
„Wie könnt ihr das wissen?“
Derendil lächelte schwach und erzählte ihr in kurzen Worten jene Geschichte, die er selbst vor drei Tagen aus dem Mund einer blinden Frau gehört hatte. Die Umstehenden lauschten gebannt seinen Worten und nach und nach glomm Hoffnung in den Augen der gramgebeugten Frau.
Rasch brachte man den Prinzen zum Hause Eikors, wo der junge Mann totenbleich und reglos auf seinem Bett lag. Ein hagerer Mann in fortgeschrittenem Alter saß auf einem Stuhl neben dem Lager und stand überrascht auf, als er der vielen Menschen gewahr wurde – denn die Dorfbewohner waren Derendil gefolgt – , die mit einem Mal in sein Haus eindrangen. Nachdem man ihm die Anwesenheit des Prinzen erklärt hatte, reichte er Derendil mit strahlendem Lächeln die Hand.
„Dankt mir nicht zu früh. Wir müssen jetzt eilen und Eikor so schnell wie möglich ins Schloss bringen.“
Wie er es sagte, ward es getan. Eikor wurde in aller Sorgfalt auf einen Wagen gebettet. Fünf Tage dauerte die Reise und als sie um die Mittagszeit des fünften Tages im Schlosshof eintrafen, hatten Meldereiter schon von ihrer bevorstehenden Ankunft berichtet. So kam es, dass nicht nur König Ferendar anwesend war, sondern der gesamte Hofstaat. Auch die blinde Kiruna befand sich unter ihnen.
Derendil hielt den Wagen an, sprang vom Kutschbock und trat vor den König hin, der ihn erwartungsvoll anschaute. Der Prinz nickte wortlos, woraufhin sich ein Schluchzen der Kehle des Königs entrang und er Derendil die Hand reichte. Währenddessen hatte man Kiruna an den Wagen herangeführt. Sie legte die Hand auf die kühle, trockene Stirn des jungen Mannes, murmelte einige Worte und nickte dann.
„Er ist sehr schwach.“ Sie machte eine Pause. „Aber ich denke, es ist noch nicht zu spät, beide zu retten.“
Ein Raunen pflanzte sich durch die Reihen der Bediensteten fort, erreichte bald jeden Winkel des Schlosshofs und schließlich kamen vereinzelte Hochrufe auf. Man verbrachte Eikor in die Kammer der Prinzessin, wo man inzwischen ein zweites Lager aufgebaut hatte. Dort, unweit der Königstochter, legte man den leblosen Körper des jungen Mannes ab. Kiruna stand zwischen den beiden auf so schicksalhafte Weise verbundenen jungen Menschen und man legte ihre linke Hand auf die Stirn Eikors, ihre Rechte ruhte auf derjenigen Fendines. Stille breitete sich aus, während die gebannten Blicke aller Anwesenden auf der blinden Frau und den beiden leblosen Körpern ruhten.
Kiruna sprach wiederum eine Reihe von unverständlichen Worten, die blinden Augen geschlossen. Niemand wagte es, sich zu bewegen, aus Angst, das Ritual zu stören. So verging Minute um Minute, reihte sich Sekunde an Sekunde … bis die blinde Frau endlich die Augen öffnete und vortrat. Sie war erschöpft und musste gestützt werden, aber sie lächelte.
„Ich habe das Band getrennt. Es hat viel Kraft von beiden genommen, die ihnen jetzt hilft, gesund zu werden. Ich bin sicher, beide werden leben!“
Noch zweifelten König Ferendar und Prinz Derendil, aber als zwei Stunden später die Prinzessin und kurz darauf auch Eikor die Augen aufschlug, war die Freude groß. Meldereiter wurden in alle Himmelsrichtungen ausgeschickt, von der wundersamen Genesung der Prinzessin zu künden.
Kiruna hat seither einen Ehrenplatz an der Tafel des Königs. Eikor kehrte in sein Dorf zurück und fand dort seine Verlobte wieder, die er kurz darauf ehelichte. Prinzessin Fendine und Prinz Derendil feierten eine so prunkvolle und glückliche Hochzeit, dass man noch viele Jahre davon kündete. Schon bald erwarteten sie ihr erstes Kind und es ward ein Mädchen und sie nannten es Kiruna. So lebten Sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage …
 

FrankK

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Hallo Amadis

Das ist ja ein nettes Märchen im klassischen Stil geschrieben.
Schöne, tragende Worte.

Kleine Ungereimtheiten sind mir dennoch aufgefallen:

Monde gingen ins Land.
Monate verstrichen. Soweit klar.
Ferendars Haar, früher voll und dunkel, wenn auch von silbrigen Fäden durchzogen, war schlohweiß geworden.
Das dürften dann schon einige Monate sein. Vielleicht sogar schon Jahre?
Während des langen Sommers waren...
Hat sich doch alles nur innerhalb eines "halben" Jahres abgespielt.
Mach doch daraus ein "Während der langen Monate..."
Das hält die Zeit schön unbestimmt und jeder kann sich darauf seinen eigenen Reim machen.

Ein hagerer Mann in fortgeschrittenem Alter saß auf einem Stuhl neben dem Lager und stand überrascht auf, als er der vielen Menschen gewahr wurde – denn die Dorfbewohner waren Derendil gefolgt – , die mit einem Mal in sein Haus eindrangen.
Ich glaube, da hast du dich im Schachtelsatz selber verhaspelt. Besser so:
"Ein hagerer Mann in fortgeschrittenem Alter saß auf einem Stuhl neben dem Lager und stand überrascht auf, als er der vielen Menschen gewahr wurde, die mit einem Mal in sein Haus eindrangen, denn die Dorfbewohner waren dem Prinzen gefolgt."

Bleibt mir nur noch die überraschende Erklärung.
"Das Band des Lebens" hat hiernach den beiden so geheimnisvoll miteinander verbundenen Menschen mehr geschadet als genutzt.
Als "Band des Lebens" hätte ich mir das ganze aber etwas anderes vorgestellt.
 

Amadis

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Hallo Frank,

vielen Dank fürs Lesen und die Textarbeit. Werde die Story bei Gelegenheit nochmal überarbeiten. Was das schlohweiße Haar angeht, so habe ich schon von Begebenheiten gehört, in denen Menschen aufgrund von schwerem Kummer innerhalb relativ kurzer Zeit der Farbpigmentierung in den Haaren verlustig gegangen sind. Ansonsten ist es einfach märchenmäßige, dichterische Freiheit. Was das Band des Lebens angeht, habe ich auch überlegt, da es ja eigentlich nur negative Aspekte hat, aber ich wollte mit diesem Begriff eigentlich aussagen, dass die Leben der beiden Menschen durch dieses Band verknüpft sind. Daher habe ich es gelassen. Hört sich besser an, als Band des Todes. Letzteres klingt eher nach einem einer Horrorstory.

Dank und Gruß
Mike
 

FrankK

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Hallo Amadis

Du hast recht, Band des Todes passt überhaupt nicht.
Klingt eher nach "Der letzte Strick".
Irgendwie hat mich das "Band des Lebens" aber nicht in Ruhe gelassen.
Vielleicht klingt "Band der Seelen" noch etwas mysthischer?

Vieke Grüße

Frank
 



 
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