Das Baumvolk

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„Einen windstillen Tag wünsche ich, und möge dein Ast niemals brüchig werden.

Ich weiß gar nicht so recht, wie ich diesen Brief anfangen soll, zumal ich gar keine Ahnung habe, wer ihn lesen wird, oder ob ihn überhaupt jemand liest, nachdem ich ihn den grünen Tiefen übergeben habe. Ontao sagt immer, jeder Brief wird gelesen, denn unterhalb des Blättermeeres beginnt das Paradies, und wenn unsere sterblichen Überreste nach dem Tod den grünen Tiefen übergeben werden, werden wir dort wiedergeboren, wo es immer grüne Blätter regnet. Das finde ich viel schöner als das, was Anasden sagt, denn er ist der Meinung, dass unter dem Blättermeer unvorstellbar blutrünstige Monster leben, denen unsere Toten geopfert werden, damit sie nicht den Stamm hinaufsteigen und die Lebendigen verspeisen. Oh je, ich hoffe, ich habe jetzt niemanden damit beleidigt. Vielleicht sollte ich erst einmal damit anfangen, mich vorzustellen.

Ich bin Palmuk, Bewohner des dritten Astes und stolzes Mitglied des Baumvolkes. Meine Eltern haben mich wohlbehütet aufgezogen und mir alles beigebracht, was ein Baumbewohner wissen und können muss. Wer uns nicht kennt, glaubt vielleicht, dass es nicht viel erfordert, um auf dem Baum leben zu können. Doch weit gefehlt. Wenn es zum Beispiel windig ist, kann es manchmal ganz schön schaukeln. Da ist es wichtig zu wissen, wie man seine Fußkrallen richtig in der Rinde verankert, um nicht vorzeitig in die grünen Tiefen zu stürzen. Ich beherrsche meine Fußkrallen mittlerweile so gut, dass ich an windstillen Tagen sogar manchmal kopfüber an dem siebten Ast hänge, der direkt über unserem gewachsen ist. Meine Mutter ist nicht so begeistert davon, aber bei meinen jüngeren Geschwistern kommt der Trick immer gut an.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie der Wind vor vier Blattwechseln so stark wurde, dass er den ersten Ast, der ganz zuunterst gewachsen war, so lange hin und her bog, bis er schließlich mit einem ohrenbetäubend lauten Knarzen und Knacken abbrach und mitsamt aller Bewohner, die sich noch auf ihm befanden, in die grünen Tiefen stürzte. Das war wohl das schrecklichste, was ich in meinen vierzehn Blattwechseln erlebt habe. Glücklicherweise hatten die Obersten schon vorher bemerkt, wie instabil der Ast geworden war, und hatten die meisten seiner Bewohner zuvor in Sicherheit gebracht. Nur die Alten, die ihr ganzes Leben auf diesem Ast verbracht hatten, wollten ihn nicht im Stich lassen und blieben dort, bis sie gemeinsam mit ihm den Baum auf ewig verließen. Damals war mein Heimatast noch der Vierte, doch wenn ein Ast bricht, dann rutschen die nachfolgenden Äste in der Reihenfolge eine Nummer nach unten. Aus dem zweiten Ast wurde der erste, aus dem dritten Ast wurde der zweite, und so weiter. Und aus dem vierten, also meinem Heimatast, wurde der dritte. Das war vielleicht ein Durcheinander damals, bis sich alle an die neuen Bezeichnungen gewöhnt hatten. Die Blätter, die für die Mittagstische auf dem vierten Ast gedacht waren, der vorher der fünfte war, kamen bei uns auf dem dritten Ast an, und der zweite bekam unsere Ration Blätter und die von Ast eins. Zudem war überall ein furchtbares Gedränge, weil die geretteten Bewohner von dem abgebrochenen Ast sich auf die anderen Äste verteilen mussten. Seitdem war Ontao unser neuer Nachbar. Das blieb auch so, als der neue Ast siebzehn eröffnet wurde. Das war, glaube ich, ziemlich genau einen Blattwechsel nach dem Astbruch. Erst danach löste sich das Gedränge allmählich auf, und das Verbot der Obersten, neue Baumbewohner zu zeugen, wurde auch aufgehoben. Die Obersten zogen auf Ast siebzehn, und für den sechzehnten fanden sich schnell genügend Freiwillige. Nach oben wollen alle ziehen, das ist ein altes Sprichwort bei uns.

Das liegt daran, dass man umso mehr Blätter fängt, je höher man wohnt. Es ist nämlich so, dass wir niemals, unter gar keinen Umständen, Blätter vom Baum pflücken dürfen, denn damit würden wir den Baum verärgern, und das dürfen wir nicht. Wir sind ja auf ihn angewiesen und wollen nicht, dass er uns eines Tages abschüttelt. Außerdem hängen die meisten Blätter in unerreichbarer Höhe, weit über den Wohnästen in der Baumkrone, in die noch kein Baumbewohner jemals seine Fußkrallen verankert hat. Stattdessen warten wir, bis es kälter wird, denn dann werden die Blätter braun und fallen von ganz alleine von den Ästen. Jedes Mal, wenn der Blätterfall losgeht, steht das ganze Baumvolk kopf. Jeder versucht, so viele Blätter wie möglich zu fangen und ins Lager in der Stammhöhle zu tragen. Denn danach, wie viel Blätter die Bewohner eines Astes gefangen haben, werden die Rationen bemessen, welche den Astbewohnern an jedem Tag bis zum nächsten Blattwechsel zustehen. Selbstverständlich werden die meisten und schönsten Blätter bereits auf den obersten Ästen gefangen, und so bleibt für uns in den unteren Ästen nicht mehr viel übrig. Aber es reicht immerhin, um uns jeden Tag im Jahr satt zu bekommen, und ohnehin würde die Obersten keinen Astbewohner jemals verhungern lassen, nicht einmal die vom untersten Ast, wie krank oder alt oder faul sie auch sein mögen. Ist doch wohl selbstverständlich, dass alle Baumbewohner zusammenhalten, das würde doch wohl niemand anders machen, oder?

Abgesehen von den wenigen Blättern, die man hier fängt, kann ich wirklich von Glück sprechen, dass ich auf dem dritten Ast wohne, denn von hier aus hat man eine wunderschöne Aussicht. Man muss wissen, dass der dritte Ast genau in die Richtung gewachsen ist, in der die Sonne untergeht. Wer nicht auf dem Baum lebt, kann sich gar nicht vorstellen, wie wunderschön der Ausblick sein kann, wenn keine Wolken den Blick auf das grün dahinwogende Blättermeer versperren, das sich weit unter uns von Horizont zu Horizont erstreckt. An solchen Tagen sitze ich dann immer nahe der Astspitze und beobachte, wie die Sonne glutrot in die grünen Tiefen versinkt. Wenn ich dann so dasitze, denke ich oft darüber nach, was sich wohl in den grünen Tiefen unterhalb des Blättermeeres verbergen mag. Ich habe einmal mit Ontao darüber gesprochen, denn er ist einer der Ältesten auf meinem Ast und muss solche Dinge doch wohl wissen. Er hat mir dann von einer sehr alten Überlieferung erzählt. Diese Überlieferung berichtet, wie wir Baumbewohner überhaupt zu Baumbewohnern geworden sind.

Vor langer, langer Zeit lebte unser Volk noch gemeinsam mit den Waldbewohnern in den grünen Tiefen, wo es immer windstill ist und es jeden Tag grüne Blätter regnet.
Dabei fällt mir ein, dass der Leser dieses Briefes ja wahrscheinlich auch ein Waldbewohner sein wird, also brauche ich ja nicht viele Worte darüber zu verlieren, wie sie aussehen. Denn wer sollte das besser wissen, als die Waldbewohner selbst.
Eines Tages jedoch beleidigte der König der Baumbewohner den König der Waldbewohner und es kam zum Krieg. Da die Waldbewohner unserem Volk aber zahlenmäßig weit überlegen waren, blieb uns nichts anderes, als auf einen Baum zu flüchten. Dabei flüchtete unser Volk aber nicht auf irgendeinen Baum, sondern auf Ihilaril, den Vater aller Bäume, den wir noch heute bevölkern. Damals war er wesentlich kleiner und überragte die anderen Bäume nur um wenige Meter. Die Waldbewohner kamen immer näher, und die Flüchtlinge saßen in der Falle. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als Ihilaril um Hilfe anzuflehen. Daraufhin wuchs dieser in die Höhe, solange, bis die Baumbewohner für das Waldvolk außer Sicht und außer Reichweite waren. Zum Dank schworen die Baumbewohner ihrem Retter ewige Treue bis die Waldbewohner Frieden mit ihnen schließen würden.

Erst wenn die Waldbewohner uns persönlich verziehen haben, wird Ihilaril wieder auf seine ursprüngliche Größe zurückschrumpfen und uns in die paradiesischen grünen Tiefen zurückkehren lassen. Damit das geschieht, muss jeder Baumbewohner, der die Volljährigkeit erreicht hat, einen Brief an die Waldbewohner schreiben, in dem er sich persönlich für die Beleidigungen unseres Königs an dem König des Waldvolkes entschuldigt.

Und das möchte ich hiermit nun tun. Der fünfzehnte Blattwechsel in meinem Leben steht bevor, und damit werde ich dann offiziell die Volljährigkeit erreichen. Um den Überlieferungen unseres großen Retters Ihilaril gerecht zu werden, und um unsere Schuld am Volk der Waldbewohner abzutragen, entschuldige ich, Palmok vom dritten Ast, mich hiermit in aller Form bei Euch, dem Volk der Waldbewohner. Möget Ihr uns, wie in der alten Überlieferung prophezeit, alsbald persönlich verzeihen und uns friedlich in die grünen Tiefen zurückkehren lassen.

Immergrüne Grüße, Palmuk“

Grott drehte und wendete das trockene, mit Holzkohle beschriebene Stück Baumrinde in den Händen.
„Schon wieder so ein Brief von den Baumis.“, raunte er.
„Jo.“, antwortete sein Kumpel Schrapp.
„Wann begreifen die Spinner endlich, dass wir nichts wissen von einem Streit. Die sollen lieber damit aufhören, uns mit ihren Toten zu bewerfen, und stattdessen endlich runterkommen von ihrem Irihail oder wie sie die alte Borke nennen.“
„Jo.“
Grott schlenderte an dem gigantischen Baumstamm entlang, bis er eine Baumwurzel fand, die klein genug war, um sich draufzusetzen.
„Vor zwei Blattwechseln ist die alte Rasyntha von einem toten Baumfuzzi erschlagen worden, erinnerst du dich?“
„Jo.“ Schrapp setzte sich neben ihn, pulte an der Baumwurzel herum und steckte sich ein Stück Rinde in den Mund.
Grott ahmte mit der rechten Hand den fallenden Körper nach. „Der ist einfach so durch den Blätterhimmel gerauscht, wusch, und hat die Alte erschlagen, rumms.“ Er klatschte in die Hände.
Nach einer Weile stand er wieder auf, warf den Brief achtlos beiseite und lief murmelnd weiter, dicht gefolgt von seinem Kumpel Schrapp. „Was glauben die eigentlich, wie wir zu denen hochkommen sollen, hast du darüber mal nachgedacht?“
„Jo.“
„Ich meine, keiner von uns hat jemals gesehen, was sich jenseits des Blätterdaches befindet, geschweige denn, dass wir einfach mal eben zu denen hochfliegen können, um ihnen die dummen Sprüche irgendeines Königs zu vergeben.“
Schrapp spuckte die durchgekauten Reste der Baumrinde auf den Boden. „Jo.“
Grott schüttelte den Kopf und musste lachen. „Denk mal darüber nach, die müllen uns mit Briefen und Leichen zu, und keiner von denen macht sich Gedanken darüber, wie wir ihnen überhaupt antworten sollen.“
„Jo.“
„Na ja.“ Grott zuckte mit den Schultern. „Komm, lass uns nach Hause gehen, es gibt gleich Abendessen.“
„Jojo.“
 

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Ende. Das war's. :)

Das ist eine Kurzgeschichte - offener Anfang, offenes Ende. Die Pointe der Geschichte sind sinnlose (oder sogar destruktive) Riten und Handlungen sowie primitive Weltanschauungen, die auf mündlichen Überlieferungen und naivem Glauben beruhen anstatt auf objektiver Betrachtung.

Kann man das herauslesen, oder ist die Geschichte zu unverständlich geschrieben?
 



 
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