Das Bildnis des Trinkers

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clarat

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Das Bildnis des Trinkers

„Einen Sauren“, sagte er.
Das Schnapsglas, das er bekam, enthielt eine kleine, weiße Wolke. Sie schmeckte nach Zitroneneis.
„Noch einen.“
Es war nicht teuer, dieses Getränk. Und es schmeckte. Wohlige Wärme breitete sich in ihm aus. Die Zitroneneiswolke wärmte seinen Magen und seinen ganzen Bauch. Sie wärmte seinen Unterleib und seine Brust, dann auch Hals und Kopf, und schließlich wurden sogar Arme und Beine warm. Selbst das verletzte Handgelenk schmerzte nicht mehr. Es war wunderbar.
„Noch einen.“
Sie machte schwer, diese Wolke. Und langsam. Sie drang schließlich durch seine Haut hindurch und umgab ihn, klebrige Zitroneneis-Zuckerwatte. Sie machte die Bewegungen schwerfällig und dämpfte die Geräusche um ihn her.
„Noch einen.“
Ein seltsames Abenteuer: Sich nach und nach in eine Zitroneneis-Zuckerwatte-Wolke zu verwandeln. Mittelpunkt und Innenleben einer solchen Wolke zu sein, und immer, immer mehr sich zu verdichten, wolkig weicher und wärmer zu werden, und dabei immer zitroniger. Um sich herum diese Wolke zu spüren und gleichzeitig selber diese Wolke zu sein.
„Noch einen.“
Durch die Wolke hindurch trank er neue Gläser mit Zitronenwolke. Fest und sicher saß er auf seinem Hocker. Die Gespräche um ihn herum wurden leiser. Der Wirt reagierte zuverlässig auf seinen in Abständen ausgesprochenen Wunsch nach einem neuen Getränk. Der süße Saure dämpfte die Welt um ihn herum. So wohl hatte er sich lange nicht gefühlt.
Irgendwann trat in der Sauren-Versorgung eine Pause ein. Nichts geschah. Die Kneipe war still geworden, und der Wirt tauchte nicht mehr auf. Dem Trinker machte das nichts aus. Er fühlte sich gut und dämmerte genüsslich auf seinem Hocker vor sich hin. Vielleicht schlief er auch eine Weile. Als am nächsten Abend die Kneipe wieder öffnete, saß er immer noch dort. Der Wirt begrüßte ihn.
„Nahmd“, antwortete der Trinker. Die Wolke, die ihn umgab, hatte sich nicht verändert. Im Laufe des Abends erhielt sie weiter dauernd Nachschub, und der Trinker wurde mehr und mehr zu einer unförmigen weißen Gestalt. Man begann, sich über den seltsamen Gast zu wundern. Schließlich konnten der Wirt und die anderen Gäste die Person darin kaum noch erkennen. Nur die dumpfe, leise Stimme war noch zu hören:
„Noch einen.“
Dann quoll eine längliche Ausbuchtung aus der Wolke hervor, saugte das Glas ein und stellte es kurz danach leer wieder hin.
„Ist da jemand drin?“ fragte einer.
„Ist schon wieder Karneval?“ grinste ein anderer.
„Nein, das ist die Werbung für dieses neue Zeug!“ meinte jemand. Während die Gäste darüber debattierten, für welche Art von Kneipengetränk ein solcher Werbeauftritt geeignet sei, wurde der Wirt nicht müde zu schildern, dass da ein Gast saß, der Sauren trank.
„Er trägt einen Verband am linken Handgelenk“, sagte er.
„Sieht man gar nicht“, bemerkte ein Stammgast.
„Gib mir doch auch mal so ’n Schnaps“, sagte ein anderer. Der Wirt schenkte Sauren aus. Die meisten Gäste mochten das Getränk, und viele fanden, es schmecke ein wenig nach Zitroneneis. Niemand verwandelte sich in eine Wolke. Nach zwei oder drei Schnäpsen behaupteten allerdings einige erkennen zu können, dass in der Wolke jemand saß. Für die anderen war es einfach eine seltsame weiße Gestalt. Die Wolke wurde weiterhin immer dichter, und der Trinker bezahlte auch heute seine Rechnung nicht. Da die anderen Gäste umso mehr getrunken hatten, war es dem Wirt egal. Er ließ ihn wieder allein in der Kneipe sitzen, ging nach Hause und dachte, dass dieser Mann wohl der seltsamste Gast war, der je bei ihm getrunken hatte.
Als er am nächsten Abend die Kneipe öffnete, saß die wolkenweiße menschenförmige Gestalt noch genauso da. Dem Wirt wurde etwas mulmig zumute, als er den Trinker so sah. Er grüßte ebenso wie gestern, und erhielt wieder eine leise gemurmelte, recht einsilbige Antwort.
„Ist alles in Ordnung?“ fragte er.
Das Murmeln hätte alles Mögliche bedeuten können. Sicherlich wollte der Gast wieder einen Sauren. Der Wirt schenkte ein.
„Bitte sehr. Zum Wohl.“
Inzwischen war der Trinker zum Gesprächsthema in der ganzen Stadt geworden, und zahlreiche Gäste erschienen. Jeder wollte ihn sehen und jeder trank zwei oder drei Saure, damit das möglich wurde. Natürlich war der Preis des Sauren ein wenig gestiegen. Viele Gäste tranken ein Bier dazu, und viele aßen auch eine Kleinigkeit. Der Wirt hatte alle Hände voll zu tun und fand keine Zeit, sich um seinen seltsamsten Gast Gedanken zu machen. Dieser saß wie an den Tagen zuvor fest auf seinem Hocker und trank. Die anderen Gäste stellten ihm einen Sauren nach dem anderen hin, prosteten ihm zu und beobachteten teils fasziniert, teils belustigt die weiße Gestalt, die das Glas ergriff, die weiße Flüssigkeit heraussaugte und es dann leer wieder hinstellte.
Spät am Abend entstand eine Unruhe um den Trinker.
„Er rührt sich nicht mehr“, sagte jemand.
„Was ist los mit ihm?“
Der Trinker war nun vollends zu einer Skulptur geworden. Er sah aus wie ein Kunstwerk, das auf eine unvollständige, hingekleisterte Art einen Menschen andeutete. Vor ihm stand ein geleertes Schnapsglas.
„Willste noch einen?“ fragte der Wirt. Er bekam keine Antwort. Er berührte den Arm der Gestalt, und der war hart und kalt. Auch der Gast daneben meinte, die Gestalt fühle sich an wie Gips.
„Und ich hab schon fünf Saure getrunken und seh ihn immer noch nicht“, erklärte er dazu.
Jetzt rief der Wirt einen Notarzt an. In der Kneipe erhoben sich bereits Stimmen, die das Ganze für einen Betrug hielten und meinten, das habe nur jemand in die Welt gesetzt, damit hier recht viel getrunken werde. Andere warnten davor, noch mehr Sauren zu trinken, denn „nachher wirste auch sone Pappfigur“, während wieder andere genau das taten, um in dieser Figur den Trinker vielleicht doch noch zu erkennen.
„Komm, einen noch“, hieß es, „dann sehen wir ihn wieder!“
Bis zum Eintreffen des Notarztes lief das Geschäft prächtig. Dieser schaute sich zunächst iritiert um, als man ihn bat, eine künstlerisch aussehende Skulptur ärztlich zu untersuchen.
„Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen!“
„Herr Doktor, ich schwöre: Da ist ein Mensch drin!“
Alle Umstehenden nickten und murmelten bestätigend. Der Arzt blickte zweifelnd seine Sanitäter an, seufzte leise und zog sein Stethoskop hervor. Es wurde still im Raum. Der Arzt hielt das Gerät mehrmals an den Rücken der Gestalt und lauschte. Dann griff er nach dem Handgelenk und fühlte den Puls. Er versuchte, einen Arm zu bewegen, dann den Kopf. Zu guter Letzt klopfte er mit den Fingerknöcheln an verschiedene Körperstellen und lauschte auf den Klang, der entstand.
„Tja,“ sagte er gewichtig, und alle hielten den Atem an, „das ist eine Gipsfigur.“
Empörtes Raunen erhob sich. Der Arzt holte noch ein Hämmerchen aus seiner Tasche und klopfte auf den Arm, der auf der Theke lag. Er klopfte etwas kräftiger, da brach der Arm an dieser Stelle auseinander. Ein entsetztes Aufstöhnen ging durch den Raum.
„Hier“, er reichte das abgebrochene Stück herum. Die Bruchfläche bestand vollständig aus Gips. Jeder konnte das sehen und fühlen, und viele kratzten ein bisschen mit dem Fingernagel daran herum. Einer berührte das Stück sogar mit der Zunge. Es schmecke klar nach Kalk und Gips, teilte er den Umstehenden mit.
„Sonst noch jemand?“, fragte der Arzt. Niemand antwortete. Der Wirt stammelte eine Entschuldigung und bot einen Sauren an, den der Arzt aber ablehnte. Die Sanitäter grinsten. Dann verließen sie die Kneipe. Es war ohnehin bald Feierabend.
Auch am nächsten Abend kamen die Gäste zahlreich, um die Gestalt anzusehen und sich die Geschichte erzählen zu lassen. Aber schon nach ein paar Tagen hatte man sich so sehr daran gewöhnt, dass man sie wirklich für eine Skulptur hielt. Und der Arzt hatte ja bewiesen, dass sie das auch war.
Noch heute sitzt der Trinker dort an der Theke. Jeden Abend, wenn der Wirt die Kneipe öffnet, dann begrüßt er ihn, staubt ihn ab und stellt ihm einen Sauren hin. Manche Leute sitzen recht gern neben der schweigenden Gestalt und kommen her, um ein Bier zu trinken und einen oder zwei Saure. Wer der Mann war und worin seine Verletzung bestanden hatte, weiß bis heute niemand.
 



 
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